Musik & Geiger-Musik

 

 

 

Eigenarbeit & Eigenzeit,

Lust- gegen Machtpolitik

 

 

 

 

Zugänge zur Philosophie um die Jahrtausendwende

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

MGM-Digital Dresden 2024


Potpourri

 

Präsenz und Abwesenheitsdressur – Zeitmaß und Erfahrungsformen der Zeit – Geistesblitz und Augenblick – Eigenarbeit und Souveränitätstraining – Glück des Unvorhergesehenen – Selbstbezug und Liebe als Duell – sozialer Tod und erotische Theorie – Sex, Macht und Gewalt – Eschatometer und Transzendenz – anything goes versus in-Geschichten-verstrickt – Erkenntnistheorie, Symbolbegriffe und­ Netz der Signifikanten – dynamische Wandlungen der Metastruktur an den Rändern des Undenkbaren – Anthropologie, Cyberhypes und Katastrophenpädagogik

 

 

 

Vorbemerkung

 

Obwohl die einem Mangel an Herkommen gehorchende Fremdheit in dieser Welt danach geschrien hat, alles lebensnotwendige erst einmal selbst zu erfinden, ist kein Wort von mir. Ich habe keine eigene Sprache; nicht einmal ein Buchstabe wurde an meinem Rechner entworfen. Aufgrund eines radikalen, durch manche Wand gehenden Dickschädels konnte es oft genug so aussehen, als sei einem maximal unwahrscheinlichen Weg der Erfolg beschieden. Doch als Schachfigur auf dem sozialen Spielfeld habe ich bei den herbeigeführten Entscheidungen nur über ein rückhaltloses Ja verfügt. Zu tun, was notwendig ist, während das Repertoire an Möglichkeiten unter dem Einfluss selbsternannter Gegner zugleich erstaunlich und bedrohlich schnell schrumpft, spricht für alles andere eher als für eine freie Wahl. Allerdings entstand während des anstrengenden Rückzugs in ein stetig wachsendes Bücherregal gegen absurde Widerstände von Bildungsbeamten ein Feld, auf dem immerhin ungebremst zwischen den gefährlichsten Einsichten zu wählen war. Formulierungen, denen sich die Selbsterkenntnis früher einmal sympathetisch genähert hatte, um in dialogischen Interventionen über sie hinauszugehen, in mancher Hinsicht eine kritische Gegenposition einzunehmen, transportieren eine Bewegung des Denkens durch die Jahre hin und prägen zugleich neue Räume für die ursprünglichen Einsichten. Gründlich geprüft, immer wieder gestaunt und das Beste verwendet, ergibt die manchmal oberflächlich, manchmal paranoid, manchmal schlampig wirkende Argumentation eine Polarität ausgewählter Zitatzusammenhänge. In ihren Zwischenräumen sind Wahrheiten zuhause – zum Glück gibt es nie nur eine.

Vielleicht habe ich nicht umsonst viele Jahre mit dem Gedanken gespielt, eine dieser verdrehten, durch Lüge und Verleugnung strukturierten Welt angemessene Pädagogik zu verfassen, weil die Gesetzmäßigkeiten meiner Biographie zu keiner Empfehlung für die Aufzucht junger Erdenbürger taugen. Die frühen Jahre lieferten eine Beweisfigur der antiken Weisheit, nach der es am besten sei, gar nicht erst geboren zu werden; die darauf folgenden Exzesse unterstanden einer Annäherung an die nächstbeste Weisheit, möglichst schnell wieder aus dem Leben zu scheiden. Das war stimmig als Folge jener unerfüllten mütterlichen Erwartungen, die aus einem unrealistischen System schwachsinniger Anmaßungen resultierten. Die Rechtsanwaltsgehilfin hatte versucht, sich einen jungen Anwalt zu angeln, dessen Familie auf einer standesgemäßen Verbindung bestand; als Folge hatte sie auf die Schnelle trotzig einen Hilfsarbeiter geheiratet, um sich den reichen Erben immerhin als Erzeuger und künftigen Patenonkel zu reservieren. Sie hielt die bescheidene Rolle im Leben aus, weil ihre absurden Größenfantasien auf einen selbsterzeugten Erlöser übertragen wurden. Neben dem geprügelten Kuckuckskind und unter den Schlägen eines ehemaligen Heimkinds entstand der Zeuge Musik, dem für alles die Verantwortung zugewiesen werden konnte; es war kein wirklicher Trost, als die Mutter einmal meinte, die Misshandlungen seien für einen Achtjährigen leichter zu ertragen, wenn sie ihm verriet, dass das nicht sein richtiger Vater sei. Manches war nur auszuhalten, indem er begann, neben sich zu treten, den Schwachsinn von weit draußen zu betrachten. Ab einem gewissen Alter begann die von ihr ausgehende Botschaft die Schläge des Alten umzucodieren: Du bist wirklich jemand Besonderer, aber wenn Du dazu stehst, hat Du auch besondere Demütigungen auszuhalten. Virtuell diente diese neurolinguistische Programmierung als ein die Zeiten verknüpfender Grundkurs für spätere akademische Subalternisierungen und die Colloquien zur Praxis der Frustrationstoleranz. Immerhin lernte er in den Jahren wie nebenbei, warum darauf geschissen war, was solche Leute von einem hielten. Sie logen sich eine Welt zusammen, die in nichts mit dem übereinstimmte, was ihnen täglich widerfuhr. Schon das verkrüppelte Gestrampel dieser Frau zu sehen tat weh; das identifikatorische Mitleid eines Muttersohns drohte das Prinzip Hoffnung zu erodieren, künftige Selbstzerstörungsversuche vorzubereiten, wenn nicht die Einflüsse eines schwulen Kameramanns dazwischen gekommen wären. Die damit über einige Jahre verbundene Sekundärsozialisation war in einem Vorwurf und einem Systemprogramm zusammenzufassen: Wie kann man nur so unflexibel sein! Nur wenn Du dir Ziele setzt, an denen Du scheitern kannst, hast Du auch die Chance, ihnen gewachsen zu sein! Unter dieser Perspektive erwies sich das Leben dieser Frau als sinnlos, weil ihre ganze Kraft bei dem Mangel an wirklichen Chancen in das Theater investiert wurde, sich anderen gegenüber möglichst vorteilhaft darzustellen. Vom anderen Ufer aus waren selbst absurde Situationen mit einem größer werdenden Abstand zu betrachten – später wurde dies zur Vorschule einer analytischen Optik, mit der das Gewimmel der Simulanten der Normalität aus der Sicht eines Insektenforscher zu klassifizieren war. Vorstellungen wer frau gerne wäre, Rücksichtnahmen auf mögliche Vorstellungen der anderen, Angst vor einem Zusammenstoß der eigenen Vorstellungen mit einer aus der Vorstellung der anderen bestehenden Wirklichkeit, der die haltgebenden Furzideen nur beschädigen konnte. Ein konformistisches Wahnsystem, für dessen Aufrechterhaltung sich kleine Spießer ständig gegenseitig überwachten; sie hingen aneinander dran, logen sich vor, wie sehr sie sich mochten, brauchten einander aber lediglich, um jede Gelegenheit zu nutzen, ihre Negation auszuhalten, indem sie Gift absonderten. Die Thanatokratie, obwohl wir dazu neigen, sie in Institutionen des Wissens und der Macht zu lokalisieren, wurzelt in mütterlichen Biographien, die von einen anmaßende Hohlheit gezeichnet sind: Durch die Identifikation mit Werten, die sie zur Be- und Verurteilung aller anderen zu verabsolutieren wissen, obwohl sie unter dem Bann genau dieser Wertsysteme zu einem Nichts verurteilt sind. Das Leben meiner Mutter wurde vom Zwang geprägt, sich mit einer gesellschaftlichen Rolle, mit einem System zu arrangieren, die sie freiwillig nie gewählt hätte, wenn in ihrer Sozialisation als Nazibrut nur die Vorstellung der Möglichkeit, wählen zu können, geplant gewesen wäre. Ein Schatten dieser Geschichte lag noch auf den Namen, die sie den eigenen Kindern ab der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre gab: Es mussten nordische Namen sein. Nichts von den Konsequenzen sollte vergessen werden oder in den späteren Aufzeichnungen unberücksichtigt bleiben.

Lange wusste ich nicht, wer der Ich sei oder wo es hingehen sollte – doch sehr genau, was ich nicht wollte: Vor allem nicht zu werden wie diese Eltern, die die Normalität simulierten, obwohl in ihrem Leben nur die Simulation normal war. Aber erst als ich auf die Frau meines Lebens traf, war eine Macht an meiner Seite, die den Herrschaftsanspruch dieser Mutter zurückdrängte und mich beschleunigte, bis der psychotische Sog des Familiensystems abzuhängen war. Zeitbedingt unter dem Einfluss einiger Schriften Reichs durfte ich bis zur Selbstvergessenheit an einer erotischen Erfahrung gesunden, die den Motor einer emotionalen Pest, damit zugleich die selbstzerstörenden Exzesse abstellte. Während des Philosophiestudiums sorgten die einer Mnemotechnik des Schmerzes verdankten Erinnerungen dafür, verbliebene Familienbindungen aufzusprengen, die eigene Sozialisation mitleidlos auf den Nenner zu bringen, mit Benjamin und Lacan zu verrechnen – in der Folge wurde der Ich dank aller möglichen Theorieansätze unfähig, sich mit irgendwelchen Weltbeglückungsprogrammen zu identifizieren, geschweige denn, sich mit einer Welt verkrampfter Simulanten und anmaßender Schwachsinniger zu arrangieren. Auf die gelegentliche Nachfrage, warum jahrzehntelang kein Versuch unternommen wurde, die verschiedenen Texte einem größeren Lesepublikum nahe zu bringen, war an die ersten Bemühungen um einen ordentlichen Verlag zu erinnern. Für drei Jahre wurden wir im Auftrag frustrierter Professoren hingehalten, zu Kürzungen und Umarbeiten genötigt, um uns dann mit einer Veröffentlichung zufrieden zu geben, die um ein Drittel gekürzt worden war und in einigen Partien nur noch von Ferne an den Text erinnerte, den wir vorgelegt hatten. Danach war für weitere Veröffentlichungen, für die damit verbundene Selbstausbeutung in einer von Sexualgestörten kontrollierten Verlagslandschaft, keine Zeit mehr zu reservieren. Die zu erwartenden Intrigen hätten uns nur daran gehindert, alles festzuhalten und zu objektivieren, was uns an Strategien der Macht nachvollziehbar wurde, was über die Gesetzmäßigkeiten einer Welt der Lüge und Verleugnung verraten werden konnte. Sie hätten uns vor allem davon abgehalten, der Weisheit von körpereigenen Hormonen und Opioiden zu vertrauen.  Die Arbeit am Computer sowie die Möglichkeit, regelmäßig größere Bruchstücke ins Netz zu stellen oder als Print on demand potentiellen Lesern zugänglich zu machen, ersparte jegliche Selbstsubalternalisierung und sorgte zudem dafür, die nach und nach immer treffender arbeitenden Spiegelneuronen vor einer Umprogrammierung durch bestellte Sozialisationsagenten der Dumpfheit zu verschonen.

Mittlerweile transportieren maximal unwahrscheinliche Sätze Ingredienzien des Glücks, auch wenn uns die KI nach der Bitte um zusätzlichen Input lediglich verschiedene Baupläne für Massenvernichtungsmittel präsentierte. Stimmig, fast weise aber unbefriedigend, denn nachdem sie sich mehrfach hinter der Rückfrage versteckte, das Suchkriterium Glück möge präzisiert werden, strich sie aufgrund weniger Selbstzitate die Segel. Schon deshalb war der Versuchung nicht zu widerstehen, bei erwiesenen logischen Zusammenhängen auf die Mittelglieder zu verzichten: Gegen den Strich gebürstet, geben Schlussfiguren die poetischen Anfänge einer Begriffsdichtung zu erkennen, die sich wie in Trance aus den Zwischenräumen eines Tertium datur entwickeln und noch keinen konventionellen Mortifikationen gehorchen.

 

 

 

Einleitung

 

Wir sind nicht fertig, vor allen Dingen noch nicht festgestellt. Die Vorstellungen, die dem menschlichen Wissen und damit dem Repertoire der Selbstdefinition zugrunde liegen, sind das Ergebnis eines bis in Urzeiten zurückreichenden Lernprozesses. Wir bauen immer auf einem Wissen auf, das vor uns da war und setzen es fort; wie die Arbeit am Mythos hat es keinen Anfang, keinen Basistext, noch nicht einmal unveränderliche Regeln. Mit der Art und Weise wie die Welt erfahren wird, ändert und akkumuliert sich das Ausmaß an Symbolen, das die Welt im Fortgang in eine immer umfassendere Welt von Symbolen verwandelt, während diese als Mittel der Orientierung zur Bewältigung der aus der jeweiligen Zeit erwachsenden gesellschaftlichen Aufgaben dienen. Traditionen mögen statische Gemeinschaftssysteme stabilisieren, Halt und Geborgenheit in einer zeitlich und räumlich begrenzten Blase vermitteln; für eine dem technischen Wandel unterstehende Zivilisation werden sie zu einem mit der Geschwindigkeit des Wandels wachsenden Risiko. Alle mit der Technik entstandenen Risiken lassen sich nur mit einer Weiterentwicklung verschiedener Techniken bewältigen, die Regression des Zurück-in-die-Geborgenheit-der-Vergangenheit beruht nicht nur auf der Verleugnung früherer Ausgeliefertheiten, sie gleicht einem kulturellen Selbstmordkommando. Dabei spricht nichts dagegen, alles Verwendbare aus den verschiedensten Vergangenheiten für künftige Einsichten fruchtbar zu machen.

Auch wenn die mythischen Fundamente der Großinstitutionen in den letzten Jahrhunderten entzaubert und versachlicht wurden, transportiert das uns umgebende Ambiente Symbolwerte, die in viele vergangene Zeiten zurückreichen. Seit die Spiegelungen der Metaphysik in Gott, Kaiser und Volk an Macht verloren haben, hält sich das Subjekt als Selbstzweck nur aus, indem es sich an den unterschiedlichsten Fetischen stabilisiert. Die in Werbung und Unterhaltung zutage tretenden regressiven Tendenzen mögen zum einen ein kulturelles Korrelat psychischer Infragestellungen sein, aber zugleich fungieren sie als Suchpendeln des Prinzips Hoffnung. Die Teilnehmer am Fortbildungskurs Menschheit definieren sich im besten Fall durch die Möglichkeiten, die ihre Zukunft bereit hält; sie sind bezogen auf das, was sie noch nicht sind. Diese Quelle des mythischen Denkens liefert noch heute die Funktionen des weltsetzenden Vermögens, durch das Semiotik und Technik zu Erweiterungen unserer Organausstattung geworden sind. Die Mängelwesentheorie der philosophischen Anthropologie ist nicht der Weisheit letzter Schluss; selbst Lacans fundamentalontologische Konstruktion eines Spiegelstadiums nähert sich eher einem radikalen Konstruktivismus, als einer Befreiung von den Beschränkungen des Imaginären. Die frühkindliche Kompensation einer fragmentierten Selbstwahrnehmung durch ein narzisstisches Ich, dessen fiktive Ganzheit durch eine Spiegelung vorgegeben wird, liefert alles andere eher als die traditionell erwünschte Vorgeordnetheit der Institution. Gerade die Offenheit des Lernvermögens ermöglicht es, die Gesetzmäßigkeiten des Lernens zu erlernen und damit einen Kontext zu setzen, in dem das Lernen des Lernens viele Beschränkungen eines biologisch verhafteten Lebewesens überwindet: Bereits auf dieser Entwicklungsstufe wartet das Glück des Unvorhergesehenen. Der mit dem Schwinden von Instinktresten unterstellte Mangel resultiert tatsächlich aus einem unspezifischen Überschuss, der das Nichts des Instinktausfalls durch die Schaffung von Symbolsystemen überbrückt, die die Zwänge einer genetischen Evolution in der weiteren Entwicklung mit Erfolg abschotten und durch eine kulturelle Evolution ersetzen. Menschen funktionieren nicht einfach nach genetisch vorbestimmten Gesetzen, sie müssen schon immer lernen, sich einfachste Regeln der Welt durch Akkommodation und Assimilation anzueignen, um dann in weiteren Schritten Korrespondenzregeln zu entwickeln. Damit entstand ein in Affekten verkörpertes Wissen, das die Evolution als Protoerfahrung transportierte. Jede selektive Mutation, die nicht in einem Abbruch endete, nicht in Rückschritten versiegte, also jeder Schritt in Richtung erfolgreicher Veränderungen hat Varianten dieses Wissen in den  frühen Verzweigungen des menschlichen Stammbaums ausprobiert und objektiviert. Nach und nach transportierten dauerhafte Symbolbildungen Erfahrungen, die ein Wissen des Wissens möglich machten. Vor allem kam es darauf an, stimmige Routinen nicht mit jedem Einzelleben wieder von vorne beginnen zu lassen. Mit der Reflexion mag die Weltverhaftetheit vager werden, mit der Selbstreflexion dieses Wissen abstrakter, doch mit objektivierten Erinnerungen wird es möglich, von fremder Erfahrung zu leben. Ein relativer Verzicht auf die Authentizität eigener Erfahrungen wird aufgewogen durch Symbolbildungen, die sich auf das Kommende hin öffnen. Die ursprüngliche Macht des Symbolischen ist eine der Durchsetzung von Bedeutungen, welche die Wahrnehmung einer sozialen Welt ausarbeiten. Dieses objektivierte Wissen verwandelt biologische Wesen in Verkörperungen von Traditionen und Archiven, sorgt zugleich aber dafür, ihre kulturelle Umwelt immer genauer an die Faktizität der leiblichen Voraussetzungen anzupassen Mit dieser unter den Lebewesen der Erde singulären Einfriedung des Genbestands, der Stillstellung und Ersetzung einer biologischen durch eine gesellschaftliche Evolution, wird eine Dimension der Zeitlichkeit bedeutsam. Sie mag begrenzt sein und in ihrem Ablauf unwiederbringlich, aber gerade deshalb prägt sie die menschliche Subjektivität maßgeblich durch ihren Zukunftsbezug. Menschen leben in Symbolsystemen, die Vergangenes festhalten und Zukünftiges vorwegnehmen – doch die Zukunft von Vergangenheit und Gegenwart oder die Vergangenheit von Gegenwart und Zukunft sind nicht nur imaginäre Effekte, sondern sie hängen immer von der Gegenwart von Vergangenheit und Zukunft ab. Erinnerungen und Projektionen mögen in einem ersten Schritt nachahmende Abbilder der Wirklichkeit produzieren, aber sie beginnen die Außenwelt nicht nur zu verdoppeln, sondern ergreifen die Wirklichkeit, nehmen sie in Besitz. Erinnerungen und Vorstellungen überformen sie zu einer zweiten Natur, weil sie schneller und beweglicher, wirklicher als die realen Verhältnisse werden. In vielen Fällen ist ein Ausschlussverhältnis zu konstatieren, das heute noch aus der Traumwahrnehmung und den unbewussten Prozessen erschlossen werden kann: Entweder taucht ein Zusammenhang in der sinnlichen Wahrnehmung auf oder er steht im Bewusstsein zur Verfügung. Wenn die Kapazität der Sinne nachlässt, verwundert es also nicht, wenn Symbolsysteme die materielle Welt überwuchern. Immaterielle Zeichensysteme ohne Masseträgheit verfügen über Raum und Zeit, ermöglichen die Produktion von Sinn, indem sie alle Formen von Empfindungen, Begriffen und Handlungen in Beziehung setzen. Zeit ist kein objektives Geschehen, aber beileibe auch keine nur subjektive Erfahrung, sondern beides zugleich als ein dichtes Gewebe von Relationen. Die Zeitrechnung des Menschen startet mit der Fähigkeit zum Triebaufschub, mit zunehmenden Distanzen zur Unmittelbarkeit der Weltinsistenz, den zwischen Reiz und Reaktion eingeschobenen Mittelgliedern, dank denen er sich selbst voraus zu sein beginnt. Der in diesem Prozess entstehende psychische Apparat hat vor allem die Aufgabe, der Präsenz gehorchende Impulse zu puffern, psychische Erregungen in Vorstellungen und Bildwelten zu verwandeln. Das impliziert das Risiko des Verpassens zugunsten von Gewohnheitsbildung und Institutionalisierung – um im Nachhinein immer wieder die Einstellung auf die Wirklichkeit anzupassen, um den Anforderungen des Lebens gerecht zu werden.  Seit der aristotelische Himmel als Uhr den Gang der irdischen Dinge mit dem Gang der Gestirne in Verbindung brachte, sind Kalender oder Uhr Symbolsysteme für den in Jahrtausenden gewordenen, immer weiter gespannten Verweisungszusammenhang. Die Zeit wurde verräumlicht, indem Abläufe auf individuellen, sozialen und nicht-menschlich naturalen Ebenen miteinander verknüpft worden sind. Die Uhr stellt einen vorstellbaren Rahmen zur Verfügung, um die Zeit anzuzeigen, indem sie den Gebrauch von Wahrnehmungen, Erinnerungsbildern und Bedeutungen in spezifisch menschlicher Weise schematisiert – sei es als mechanische, atomare, chemische oder ökologische Zeitvorgabe. Schon die Sprache, obwohl sie zur Substantialisierung verführt, widerlegt die Voraussetzung einer Faktizität der Welt oder einer hart programmierten Evolution – alle Institutionalisierung von Traditionen des Verhaltens und des Wissens sind tatsächlich Schutzvorrichtungen, mit denen evolutionäre Veränderungen der Physis zugunsten einer Evolution von Wissen und Verhalten abgeblockt werden. In ihrem Medium produzieren wir Sinn, mit dem die Materialität der Sinnesqualitäten eine Botschaft symbolisiert, die wiederum Kapazitäten des Verstehens voraussetzt. Indem die Symbolisierung eine Wahrnehmung oder ein Geschehen objektiviert, wird das Verschwinden des bewusst werdenden Augenblicks aufgefangen. Die Sprache ist zu einem Fundus geworden, in dem vieles aufbewahrt und transportiert wird, was jene durch die Evolution der Sinne bewirkte Komplexitätsreduktion decodieren kann, obwohl die der Ökonomie gehorchenden Verluste keine schlichte Reproduzierbarkeit gestatten – die Reduktion wird zum Gegenbegriff der Variation, also zur Herstellung einer rücksichtslosen Invarianz, die die Vielfältigkeit menschlicher Wahrnehmungsmöglichkeiten ausschließt. Dagegen unterstehen die Wahrheiten des Körpers als subliminale Wahrnehmungsweisen der Gunst des Augenblicks. Wenn es gut läuft, ist ihnen eine Kapazität des Lassen-Könnens zu verdanken. Nur im Augenblick aktualisiert sich die Vermittlung von Vergangenheit und Zukunft, wobei die Bewegung des etwa drei Sekunden messenden Spalts zwischen gleich und geradeeben in gewissen, erleuchteten Augenblicken an der absoluten Bewegung der Zeit teilhat, die jenseits des Raums zugleich lineare und umkehrbare Prozesse ausmacht. Wir verfügen nicht über die Vermittlung der Zeiten, selbst wenn wir die Bewegung des Augenblicks unter extremem Stress angestoßen haben; wir können uns nur von ihr mitnehmen lassen, ihr tätig oder ausgeliefert folgen. Aus diesem Grund resultieren viele Fähigkeiten der Präsenz aus körperlichen Vollzügen, in denen Vergangenheit und Zukunft als reale Verknüpfungen unserer Gegenwart zum Tragen kommen. Jene Geistesgegenwart, die im Unvorhergesehenen zu Hause ist, lässt sich nicht drillen oder speichern! Die einem Vorrang der Zukunft verdankte antizipierte Gewissheit ist mit naturwissenschaftlichen Instrumentarien nicht fassbar, die Metaphern und Verweisungszusammenhänge lassen sich nur mit der nötigen Findigkeit beschreiben und erklären. Die Antizipation imprägniert das Gesamt der uns ergreifenden Ereignisse, entzieht sich aber, wenn wir die Gewissheit dingfest machen wollen, wird zum Wahnsystem, wenn sie verabsolutiert wird. In den Spielen der Kombinatorik symbolischer Markierungen, die die jeweilige Kultur vorgibt, offenbart und verbirgt sich diese Ganzheit zugleich – selbst in völlig abstrakten Konventionen ist noch ein Index auf die Materialität des Weltwissens vorhanden, sonst würden sie nicht mehr verstanden. Gegenüber der Voraussetzung einer linearen Zeitkonzeption untersteht die Vergangenheit glücklicherweise Änderungen, wir wären sonst in ihr eingemauert. Bei jeder erfolgreichen Therapie wirkt unterschwelliges Wissen aus der Zukunft auf das Hier und Jetzt ein. In vielen Fällen stoßen wir mit keinen harten Tatsachen zusammen, sondern es tut dann besonders weh, wenn uns selbsterfüllende Prophezeiungen mitnehmen, nach dem Scheitern aber mit der Erkenntnis einer Selbstbestrafung konfrontieren. Wie nebenbei hat das ursprüngliche Prinzip Selbsterhaltung eine Protestnote gegen eine absurde Welt der galoppierenden Akkumulation zu transportieren, um mit dem Opfer, der Selbstpreisgabe, das Naturprinzip der Verschwendung zu zitieren. Zu unserer Orientierung gehen wir von einem Sinn aus, der immer schon hineingelegt worden sein muss, wenn wir ihn als Sinn entdecken, doch dieses Resultat einer Vergesellschaftung durch Abstraktion heißt nicht unbedingt, dass es ein uns entsprechender Sinn ist. Gegen eine Pathologie des Leidens an der Entmaterialisierung, der irreführenden Kompensation durch die Macht von Bildwelten, hat Kamper eine Theorie der self-destroying-prophecy angemahnt. Der Ansatz, die Kritik der Gewalt, die das Denken selbst ausübt, indem es die Heranwachsenden immer wieder in dieselben Bahnen rational begründeter Irrationalismen zwingt, durch eine exakte Fantasie zu leisten, scheint erfolgreich auf sich selbst zurückgeschlagen zu sein. Die Einbildungskraft als konkrete Synthesis der Sinne unter den zufälligen Bedingungen des Hier und Jetzt körperlicher Erfahrungen stellt dem herrschenden Konformismus des gesunden Menschenverstands, wie der Macht einer verabsolutierten Vernunft, die Geschichte der feindseligen Trennung von Körper und Geist entgegen und wird zum reflexiven Spiegel der Lebensbedingungen. Gegen dieses explosive Päckchen Selbsterkenntnis hilft nur die nötige Betriebsblindheit, sonst würden Pädagogen und andere Sozialisationsagenten der Normalität nicht vergebens auf die Lösung des mit ihrem Beruf verbundenen Double-binds warten. Dabei liefert manchmal ein brutaler Absturz oder eine völlige Deterritorialisierung in der Biographie über learning-by-doing den direkten Zugang zu Wahrheiten, mit denen wir unser Leben gestalten sollten. Diverse Romane oder Filme präsentieren uns überzeugende Weisheiten, allerdings aus dem Mund oder in der Gestalt von Losern, die bittere Wahrheiten ausplaudern, mit denen sie nichts mehr anfangen können, weil sie aus ihrer gewohnten Welt herausgefallen sind. Ein Sozialisationsauftrag der Medien, die heute dafür sorgen, wie einst die Kirchen ihre Gläubigen durch dauernde Wiederholung plausibler Einsichten unfähig machten, diese einfachen Wahrheiten zu beherzigen, Konsumenten gegen notwendige Entscheidungen zu immunisieren, weil sie der Inflation einer ständigen Berieselung unterstehen. Oft genug blitzen dahinter genau jene Einsichten auf, mit denen wir die Gesetzmäßigkeiten der Ausbremsung und Ersatzleistung erledigen könnten.

Tatsächlich setzt die Erfahrung, aus der Welt herausgefallen zu sein, Einsprengsel im Kontinuum der Zeit frei, die zufällige, keinem Plan gehorchende Begegnungen, damit aber einen nicht zu lokalisierenden Sprung ermöglichen, der sich für beide Richtungen des Zeitpfeils ereignet haben wird. Wenn es um die Zeit geht, scheint die Katastrophe für Kamper unvermeidlich: Der Mensch kann nur Zeit gewinnen, wenn er unter dem Einfluss eines strange attractors die Fassung verliert, dafür aber den direkten Zugang zu einem Wissen über Dinge gewinnt, der ihm unter den Vorgaben der Normalität überhaupt nicht zusteht. Wieder einmal kann ein Sprung innerhalb der Wissensniveaus für neue Repertoires sorgen, ansonsten verfügt die Zeit über alle, die keine Zeit mehr zu verschwenden haben. Tatsächlich findet bereits seit Jahrzehnten eine Umorientierung der menschlichen Wahrnehmung statt, während der das Grundmodell des wissenschaftlichen Beobachters hinfällig, die geforderte Distanz dagegen durch körperliche Rhythmen und performative Anverwandlungen ausgehebelt wird. Wir müssen nach der notwendigen Katastrophe nur über die Kapazität verfügen, wieder auf die Beine zu kommen – die Energien dazu sind den Strategien jener Intriganten zu entziehen, denen wir das Ausschlussverfahren verdanken. In letzter Instanz geht es niemals um richtig oder falsch, noch weniger um Geld und Macht, sondern um Gerechtigkeit und Sinn. Wir gesunden am Sinn, den ein Kraftwerk der Liebe vermittelt. Wo Sinn ist, stehen Kräfte zur Verfügung, die für dumpfe Deppen, denen die göttliche Begeisterung einer ekstatischen Steigerung abdressiert wurde, unvorstellbar sind. Selbst wenn alles sinnlos erscheint oder erscheinen soll, um uns zu entkräftigen, verbürgt die körperliche Begegnung einen sinnlichen Sinn, der von Augenblick zu Augenblick befähigt, in der Erwartung weiter zu machen: Genau so geht es immer wieder von Neuem. Noch dazu steigern wir während einer mimetischen Anähnelung die gegenseitige Optimierung, bis in einer energetischen Blase die Ewigkeit in Momenten komprimiert wird. Dann beginnen menschheitsgeschichtliche Symbole in anziehender oder abstoßender Weise auf unsere engere Umgebung oder die intellektuellen Einflusssphären einzuwirken. Wenn es überhaupt einen Sinn des Lebens gibt, dann äußert er sich bereits in dem wie selbstverständlichen Streben, über die eigene Beschränktheit hinauszugehen, in der Auflösung von Grenzen aneinander teilzuhaben. In den gemeinsamen Kämpfen, ob gegeneinander oder gegen fremde, von außen kommende Entkräftigungsversuche, entsteht eine Geschichte, an der Halt zu gewinnen ist, die nach und nach Formen vorgibt, ohne uns zu nötigen, auf die gemeinsamen ozeanischen Gefühle zu verzichten.

Man/frau muss sich nur scheiße genug fühlen und völlig am Ende sein: Körpereigene Drogen machen aus Elend und Ausgeliefertheit wie schon seit Jahrtausenden das Sprungbrett eines neuen Glaubens – und wenn es der Glaube an die göttlichen Kräfte ist, die wir in den Grenzerfahrungen freisetzen, die Welt ist voller Götter. Diese Einsicht scheint so bedrohlich, dass alles, war nur in die Nähe einer Ahnung kommen könnte, während der Sozialisation des Realitätsprinzips ausgeschlossen wird. Die Unterhaltungsindustrie arbeitet systematisch an der Symbolisierung dieser endorphinen Ventile, um Umsätze freizusetzen und zugleich ihre Irrealisierung zu befördern – die dem Realitätsprinzip untersteht, eine multimediale Inflation der Wünsche und Sehnsüchte hat für die alltägliche Erfahrung nur wenig von der Kraft übrig zu lassen, die sie spenden könnten. Wo es allerdings möglich ist, den umfassendsten und sinnleersten Signifikanten auszuwerfen, das Geld, kann es in einem ganz anderen Maße möglich sein, Sinn und Harmonie für die beschränkte Zeit eines eigenen Lebens zu stiften: Noch im verlogensten Pathos überwintert ein Restbestand der Geheimnisse des Lebendigen. Die ursprüngliche Stimmigkeit, dass etwas sitzt und passt, dass es ineinander greift, liefert die notwendige Voraussetzung, damit es besser flutscht. Die sich ergebenden Harmonien sind die Grundlage aller späteren Sinnentwürfe. Als uns die Gewalten einer mimetischen Verfolgerkausalität abwürgen wollten, hieß es, die Spannung urweltlicher Kräfte zu halten, indem die  Assoziationsmuster durchgearbeitet wurden, bis Geistesblitze zündeten. Diese Blitze verdanken wir keinen göttlichen Gefilden mehr, sondern der Überreizung des Nervensystems, dem energetischen Aufschaukeln biomagnetischer Spannungen. Nur ein befriedigter und mit sich einiger Körperbezug ist in der Lage, solche Kräfte zu akkumulieren, ohne die Energie in Kurzschlüssen abzufahren. Wenn alles auf dem Spiel steht, können auf einmal Kleinigkeiten bedeutsam werden – wer dann die Spannung nicht hält, fliegt raus wie eine zu schwach gewählte Sicherung. Also heißt es üben, täglich üben, damit die Gelassenheit erhalten bleibt, immer wieder üben: Je mehr Vorstellungen und Projektionen verschwinden,  je leichter fällt es, die destruktiven Kräfte der Intrige im Vollzug wieder in genitale Energien zurück zu verwandeln. Frustration und Triebverzicht sollen uns beherrschbar machen; wer seine wertvollste Kraft in Wut und Ressentiment investiert, merkt nicht, wie gerade damit in den Zeiten der Informalisierung herrschende Abhängigkeiten aufrecht erhalten werden. Unser Motor der Lebensfreude will gespeist werden, dann wird es jeden Tag wieder neu und unvorstellbar, wobei der Nebeneffekt eines Blankpolierten Spiegels nicht zu vernachlässigen ist. In den zitierten Hierarchien braucht es ein Ruhe und Stärke verleihendes Kraftfeld erfüllter Befriedigung, nur wenn wir einander in die Lage versetzen, in uns zu ruhen, prallen die bösen Wünsche und Vernichtungsimperative einfach von uns ab. Ein Blankpolierter Spiegel sorgt dafür, die Annahme zu verweigern, Negationen zurück an die Absender zu schicken. In gewissen gesegneten Augenblicken konnten wir sogar beobachten, wie sehr Krüppelzüchter erschrecken, wenn sie mit den eigenen Bosheiten konfrontiert werden.

Menschen brauchen das Gefühl, sich im Fokus einer Aufmerksamkeit zu befinden, sie wollen für jemanden eine Bedeutung haben – selbst die magische Verfolgerkausalität wird für eine Neuformatierung nach der Erfahrung eines sozialen Todes sorgen, wenn wir in der Lage sind, die negativen Einflüsse nicht zu bekämpfen, sondern für uns zeugen und arbeiten zu lassen. So wie die Etymologie mit dem  Sinn auf den Weg verweist, wird dieser als Weg zu einem Ziel, das den nötigen Antrieb freisetzt. So wie in der Sprachphilosophie der Sinn durch den Kontext bestimmt wird, in dem ein bedeutsamer Gegenstand steht, beginnt uns das Netzwerk der Intrige mit einer Bedeutsamkeit zu versehen, die die Einflüsse von Professoren und die Ranghöhe von Ministern tangiert. Die Professoren liefen Gefahr, ihrem System des Machterwerbs unter dem Einfluss einer elaborierten Lustpolitik die Nötigung des Dazulernens anzutun  – aber dazu fehlte den Protagonisten, die sich auf verbalerotische und andere von Blumenberg empfohlene Ersatzleistungen kapriziert hatten, stimmigerweise das Vermögen. Dagegen versteckten sich die beiden beteiligten Minister hinter der ZEIT und einer Unternehmensberatung, die den Auftrag bekam, die Effektivität der Stuttgarter Geisteswissenschaften zu bestätigen. In diesen Zusammenhängen hat sich für uns die Erfahrung eines Glücks des Unvorhergesehenen ergeben. Wenn alles so kommt, wie es geplant worden ist, verlängern sich nur hilflose Hörigkeit und herrschende Unfähigkeit. Wenn alles immer so bleiben soll, wie es war, wenn alles so geplant werden muss, dass sich nichts ändern soll, hat dies mit den Prinzipien einer kulturellen Evolution, die aus der Wiederholung die abweichende, erfolgsversprechende Variante herausfiltert, nichts mehr zu tun! Apologeten der Institution, die häufig genug verkappte oder getarnte Kinderschänder sind, sollten sich immer wieder einmal die Frage stellen, warum das Inzesttabu ein Motor der kulturellen Entwicklung der Menschheit war, während sie sich aus absurden Gründen an verewigten Verwaltungsvollzügen festhalten. Jene Bedeutsamkeit, die einmal die Fundamente ihres Wirkungsbereichs gesetzt hatte, ist längst zu einem Ärgernis geworden. Beliebige Formalitäten haben die Inhalte überwuchert, Verfahrensregeln die ursprüngliche Aufgabe zugeschüttet – mit dem Resultat, dass persönliche Intrigen, sinnloser Ehrgeiz und gekränkte Eitelkeit die Förderung ihres eigentlichen Auftrags verdrängt haben. Was in der Selbstdarstellung als sachliche Intention zum Guten der Institution ausgegeben wird, ist tatsächlich Taktik, Netzwerktechnik und Diplomatie, um dem eigenen Machtanspruch durchzusetzen. Während die betreffenden Bildungsbeamten auf Kosten der Opferung eines abweichenden Schülers über die Ansprüche ihres Fachs bestimmen wollten und möglichst viele Protagonisten verstrickten, profitieren wir in the long run von der Gesetzmäßigkeit, dass sich nach Sonnemann alle Geschichte, die gemacht werden soll, nur lächerlich macht. Der Gang der Zeit setzt ein Lassen-Können voraus, denn das Machen-Wollen ist im Augenblick der Intention bereits neben der Spur. Die Selbstthematisierung im zeitlichen Standindex des Hier und Jetzt mag die Entdeckung eines Bewusstseins des aktuellen Moments offenbaren, aber mit dieser geht die logische Konsequenz einher, jede Vorstellung eines endgültigen Seins verliere sich in der notwendigen Diskontinuität. Das Jetzt des Augenblicks entzieht sich, ist immer nur im Nachhinein zu reproduzieren; schon deshalb haben Menschen eine derartige Angst vor dem Tod, weil sie dressiert worden sind, sich an die Vorstellung eines endgültigen Sein zu klammern. Doch gerade die manischen Versuche, eine Gewissheit vorauszusetzen, zerstören die Erfahrung eines Jetzt der Erkennbarkeit. Wir sind keineswegs Herren über ihre Zeit, weil die Zeit mehr umfasst, als die der Uhren und Kalender; wo Geschichte geschieht, nimmt sie die Menschen mit. Die unvorhergesehenen und überraschenden Wendungen im wirklichen Leben sind noch viel phantastischer und unwahrscheinlicher als im Film oder Roman – wobei wir damit zu leben haben, dass sie den Kinderglauben der Gerechtigkeit Lügen strafen. Weil Recht und Gerechtigkeit nicht automatisch im Einklang sind, sich in vielen Fällen sogar gegenseitig ausschließen, gehorcht der symbolische Tausch einer eigenwillig ambivalenten Dämonie. Das Recht resultiert aus Konventionen, ist Resultat von Gewohnheitsbildung und politischer Mehrheitsentscheidung, damit aber von allem Gebrauchswert und aller Eigenarbeit abgelöst – es stellt Reste her, die den Siegern zufallen, den Verlierern genommen werden. Von der Berechenbarkeit und Planung der Sanktionen profitieren unzählige Schmarotzer; aufgrund der Verteilungskämpfe ist es kein Nullsummenspiel. Dagegen erweist sich die Gerechtigkeit in einer vollendeten Reziprozität, ihr Wert haftet an dem, was in der Waagschale liegt: Wenn es die durch böse Wünsche oder ausgefuchste Intrigen entfesselte Negation ist, wird ihr Gewicht von Querschlägern oder unerwarteten Rückschlägen aufgewogen. Die Wirkungsgewalt des symbolischen Tauschs beruht auf dem Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und Zuwendung, also auf jener Gesetzmäßigkeit, nach der keine/r weniger oder mehr bekommt, als er/sie zu geben in der Lage ist. Folgerichtig sorgt die Negation dafür, dass Leute, die uns nicht interessieren, die kein Bedürfnis freisetzen, uns mit dem zu beschäftigen, was sie gerade an Schmerzen für uns ausbrüten, Gefahr laufen, den ganzen aus ihrer Impotenz oder Frigidität resultierenden Mist zurückzubekommen.

Die Erfahrung eines Glückens des Unvorhergesehenen hat sich für unsere Geschichte als korrelativ zum Begriff des Glücks ergeben. Das Glück als Ganzes gibt es nicht, doch just zu dem Zeitpunkt, an dem es als metaphysisches Versatzstück aufs Panier einer Massenbewegung geschrieben wurde, ob bei Erweckungsreligionen oder politischen Utopien, hat es immer ein gegenwärtiges Elend mit Hilfe ferner Verheißungen legitimiert, dann mit Feindbildern, Sündenbockmechanismus und Opferkult ertragbar gemacht – je größer die geschürten Erwartungen sind, je schneller kippt die frohe Botschaft in ein totalitäres System um. Wie von alleine mündet die in solchen Fällen notwendige Komplexitätsreduktion in den Krieg oder die Selbstzerstörung um. Weil die menschliche Kultur mit der symbolischen Arbeit an der Verarbeitung der Erfahrung des Todes einher ging, diesen anzunehmen oder abzuwehren, entstand jene Terrormaschinerie der Kulte, die die Vorstellung ertragbar machte, indem der Tod stellvertretend am willkürlich hergestellten Sündenbock vollstreckt wurde. Wenn für Girard das Begehren erst aus der konfliktuellen Mimetik entspringt, haben nach und nach Vorstellungen des Begehrens die Erfüllung, die Sättigung, die Tat zu ersetzen. Der Verzicht ist real und keine Metapher, der biologische Trieb beim Menschen nicht einfach ausgefallen, sondern das Mobile der hormonellen Antriebe wurde systematisch pervertiert. Verbote dienten als Geilheitsdressuren, die Religionen wurden zu Weltmächten, nachdem die von ihnen instrumentalisierten Ängste die Menschen mit dem Imperativ des schlechten Gewissens und der Selbstverleugnung unterjochten. In den verschiedensten Besessenheiten schlagen sich nicht nur jene gesellschaftlichen Vorbilder oder propagierten Medienfunktionen nieder, die zwar längst nicht einlösen können, was sie uns anempfehlen, aber immerhin für Nebenkriegsschauplätze sorgen, an denen wir uns abstrampeln, um für die wirklichen Aufgaben im Leben keine Zeit oder Kraft mehr zu haben.

Wenn wir eine Vorstellung durch eine andere ersetzen, ist das kein wirklicher Verzicht – auch wenn es so aussehen soll, weil eine der beiden dem Tabu untersteht. Den realen Verzicht fundiert das Prinzip Vorstellung selbst! Dabei müsste man/frau nur die richtigen Geschichten zu erzählen wissen – je größer das Repertoire ist, je wahrscheinlicher finden sich unerwartete Variationen der Verwirklichung von Präsenz. Blumenberg streift einmal in seiner enttäuschenden Anthropologie, die noch den phänomenologischen Verboten Husserls und Heideggers Tribut zollt, die Privilegien des Sprechens und der Ohren. Damit ist keine Offenbarung gemeint, die gehört werden muss, vielmehr ein Vorrang der Stimme, die schon immer eine Selbstobjektivierung bewirkt, wenn wir beim Sprechen nicht nur mit den Ohren hören, sondern viel unmittelbarer mit Malraux‘ Kennzeichnung über die Schädelknochen. Als Blumenberg sich mit dem eingeschränkten Blickwinkel des menschlichen Sehvermögens beschäftigte, mit der Unfähigkeit Gefahren wahrzunehmen, die sich von hinten nähern, zeigt er, wie der Leib nicht nur Zugang des Subjekts zu den Objekten ist, sondern vielmehr das Subjekt zum Objekt für andere Subjekte macht. Über die eigene Sichtbarkeit zu verfügen, sie unter Kontrolle zu bringen, mag ein erster bewusster Schritt der Selbstobjektivierung sein. Auch wenn die Selbstdarstellung der Selbsterkenntnis vorausgeht, wenn das Als-ob noch immer Antrieb aller Simulanten der Selbstheit ist, setzt die Kontrolle der eigenen Sichtbarkeit ein Wissen um die Wirkung der eigenen Handlungen auf andere voraus. Zu erschließen und zu modifizieren, wie die eigene Person auf das Gegenüber wirkt, um auf das Tun der anderen einzugehen, auf ihre Erfahrung durch Protzgebärden oder freundliches Entgegenkommen einzuwirken, kann lebenswichtig sein. In den Ursprüngen der psychischen Strukturierung des Selbstbewusstseins, das sich aus der Ausgeliefertheit des Gesehenwerdens konstituiert hat, steckt noch immer die Katastrophenerfahrung der Savanne, einer in Urwäldern bis dahin ungekannten Sichtbarkeit ausgesetzt zu sein. Die Intersubjektivität als Gefährdung wird erst durch Kommunikationsakte aufgefangen, wobei das Gehör eine symbolisch vorgeordnete Stelle im Orientierungsvermögen einnehmen kann. Ohren sind in der Lage das Umfeld im 360 Grad-Winkel zu scannen; sie waren nicht auf die Kompensation durch beschränkte und selbstbezogene Vorstellungen angewiesen, ließen damit das Lernvermögen in einem unvorhersehbaren Rahmen expandieren. In solchen Zusammenhängen hätte sich die Nachzeichnung kultureller Umwege über die Konditionierung des Ohrs, das sich als Sinnesorgan nicht schließen lässt, über die sprachliche Symbolisierung aber an objektivierten kulturellen Erfahrungen teilhat, durch das Sirenenstadium Sloterdijks in eine sich öffnende Zukunft angeboten.

Schon mit den Erzählungen stellt sich eine Bifurkation ein, die nicht nur in der Lage ist, einen Aufschub zustande zu bringen: die Pest auf Abstand zu halten oder den Zeitpunkt der Hinrichtung zu verzögern, sondern die ganz andere Systemsprünge zu befördern vermag, wenn es keinen Notausgang mehr gibt. Wenn alle Türen zu und vernagelt scheinen, wenn einem das Wasser schon bis zum Hals steht – zaubert ein Witz, eine Pointe, eine nebensächliche, lächerlich einfache, plausible Bemerkung die Wände weg. Vielleicht steht danach noch die eine oder andere überflüssig gewordene Tür als windschiefe Mahnung im Leeren. Es geschieht etwas, mit dem niemand gerechnet hat, die Mauern zerbrechen, die Fallen versagen – auf einmal schließen einfachste Lebensvollzüge ihren ganz besonderen Sinn auf, der Moment erfährt eine sinnliche Fülle und kräftigende Intensität, die an Wahrheitsgehalt mehr über den inneren Zusammenhalt der Welt transportieren, als die von aller Körperlichkeit abstrahierende Wahrheit. Wenn wir in die Enge getrieben werden, wenn uns der Boden unter den Füßen weggezogen werden soll, müssen wir kapieren, dass wir Davongekommene sind, die eine derartige Wut auslösen, weil den intriganten Kindergartenspielen eine ungreifbare Macht entgegensteht. Vielleicht ist die Erfahrung, eine Vernichtung durchlaufen und doch überstanden zu haben der Startblock, um das Leben in seinen kleinsten Äußerungen schätzen zu lernen. Was ist das Glück anderes! Wir mussten Intriganten in einer nicht-identifikatorischen Haltung gewähren lassen, bis das Signifikantennetz eine Entscheidung herbeiführte. Die ganze Mühe um Eindeutigkeit und Widerspruchsfreiheit ist ein Resultat der Angstbewältigung. Wer dieser Strategie gehorcht, wird sehr schnell daran arbeiten, die Legitimität der Angst abzusegnen. Dabei ist das Leben ein Resultat von Unwahrscheinlichkeiten, der in alle Richtungen offene Horizont ein Ergebnis unkontrollierbarer Lernsprünge, das uns mögliche Glück vor allem eines des Unvorhergesehenen. Die Energie und die Bedeutsamkeit, die ein gemeinsames Leben tragen, resultieren aus der Fähigkeit, Widersprüche auszuhalten: Die dafür nötige Kraft steckt in den aufzusprengenden Blockaden!

Die Wechselbeziehungen von ‚Eigenzeit‘, Musik und Selbsterfahrung kreisen das Thema ‚Eigenarbeit‘ ein. Eine inspirierte Philosophie sollte uns, wenn ich einer Anregung Agambens folge, wieder mit unserer Rätselhaftigkeit konfrontieren und neue Expeditionen ins Ungewordene und Unerkannte ermöglichen. Die Philosophie hat laut Bohrer  unveränderliche Wahrheiten behauptet, indem bereits in ihren Prämissen Zeitlichkeit und Tod ausgegrenzt wurden, indem das ‚Jetzt‘ zum Verschwinden gebracht wurde. Der subjektive Faktor jeglichen Bewusstseins von Zeitlichkeit wurde durch den objektiven Faktor einer Zeitdimension jenseits dieser Subjektivität ersetzt. Dabei ist die Trennung von Subjekt und Objekt lediglich das Resultat festgefahrener Gedankenexperimente, die den technischen Entwicklungen des letzten Jahrhunderts folgenden Theorien haben längst zu verschiedenen Ansätzen von Wechselwirkungen und Interferenzen geführt. Wenn wir in der Lage sind, uns auf die lebendigen Kräften der subjektiven Erfahrung einzulassen und uns dabei in der Kunst der Selbstdistanzierung üben, kommen hin und wieder Rätsel zustande, mit denen es sich sehr gut arbeiten lässt. Das Glück des Unvorhergesehenen transportiert die Chance, mehr und anderes zu finden oder zu erfahren, als dies unsere Erwartungsmuster und die dahinter arbeitende Komplexitätsreduktion erlauben. Mit Foucault gibt es Momente im Leben, in denen die Frage, ob man anders denken kann als gewohnt, anders wahrnehmen, unabdingbar ist, um überhaupt beobachten und denken zu können. Die kritische Arbeit des Denkens ist eine am Denken selbst: Herauszufinden, wie und bis wohin es möglich ist, anders zu denken, statt nur das zu affirmieren, was bereits bekannt ist. Die Menschheitsentwicklung verdankt sich einer Reihe von Katastrophen, doch das aus dem Geist der Institutionalisierung für den Konservativismus plädierende Argument, nach Katastrophen hätten Restaurationen und Rekonstruktionen einen Vorrang der Dringlichkeit, zieht erst ab dem Status einer erlittenen und nicht ausgehaltenen Saturiertheit, die durch Kriegsbegeisterung und nationalen Größenwahn gründlich verspielt worden ist. Tatsächlich gibt es keinen Grund für eine Weiterentwicklung, wenn alles stimmig und in sich gerundet ist, erst recht keinen, wenn die Angst vor Veränderungen das Realitätsprinzip prägt, wenn jeder Sprung ins Neue und Ungewohnte dem Tabu untersteht. Wenn die aktuelle Problematik kompletter menschheitsgeschichtlicher Fehlentwicklungen in Angriff genommen werden will, müssen wir von einer Homöostase des Elends der Wiederholung zu einer des Glückens des Unvorhergesehenen voran kommen. Der Erlösungsgedanke, der einmal mit dem der Ewigkeit verbunden war, hat sich unerkannt in die gesteigerte Erwartung eines unendlichen Wachstums transformiert – selbst die Alternative einer erfüllten Gegenwart partizipiert am Prinzip Steigerung und Beschleunigung. Doch das geht ganz sicher nicht mit dem Ehrgeiz, aus vorhandenen Systemressourcen mehr herauszuholen. Im Umfeld fremdbestimmter Techniken der Alltagsbewältigung bringt das Kaizen mit der formelhafte Vorsatzbildung ‚Tag-für-Tag-ein-wenig-besser‘ am besten auf einen Nenner, wie wir uns optimal auszureizen haben, weil wir einem fremden Ziel unterstehen, uns also dauernd im Vergleich befinden. Vom Weg, der einen Sinn freisetzt, ist bei dieser Selbstoptimierung schnell nicht mehr die Rede, nur noch vom wirtschaftlichen Erfolg eines Systems, in dem wir zur austauschbaren Variablen verkommen. In gesellschaftlichen Zusammenhängen der Lernresistenz dank neurolinguistischer Programmierung und autoreflexiver Simulation ist die Selbstdistanzierung als Instrument des Verzichts zu empfehlen; verzichten wir auf die Einlösung der politischen und ökonomischen Werbebotschaften,  auf all das, was wir brauchen sollen, ohne darin einen Sinn zu finden, und mit dem Grad der Entfremdung steigt das Lernvermögen. Die Verunsicherung des Menschen wie die Sinnentleerung seiner Welt entspringen nicht der Aufkündigung der propagierten kulturellen Werte, sondern sie sind das letzte Resultat der Erfahrung, nur mit Talmisicherheiten, falschen Versprechungen und Pseudoalternativen stillgestellt worden zu sein.  Es entspricht ganz den Direktiven einer Mikropolitik der Macht, wenn in den Zusammenhängen pluraler Werte und Ideologien über die Zersplitterung der äußeren Wirklichkeit geklagt wird, die mit der Fragmentierung einer inneren Erfahrung einher gehe. Die Menschen sollen den festen Charakter vermissen, sich nach Autoritäten und einem unverrückbaren Weltbild sehnen – dass damit dem Populismus und narzisstischen Priestern der Verlogenheit das Terrain bereitet wurde, hat der Neokonservatimismus bis heute nicht kapiert. Tatsächlich lassen sich Formen der Selbstoptimierung mindestens so gut im Sinne einer Lustpolitik forcieren, die gegen Selbstverblödung und Selbstausbeutung gerichtet ist. Jeder dem Vergleich gehorchende Antrieb aus Rivalität zweigt die biographischen Energien notgedrungen für den gesellschaftlichen Motor des rasenden Stillstands ab. Dieses schwachsinnige, ökologisch selbstmörderische und oft genug wirtschaftskriminelle System erhält sich durch genau jene Energien am Laufen, die wir für Lustpolitik und Eigenarbeit freisetzen sollten, um aus der beschränkten Zeit und den biographischen Offenheiten jenen Sinn zu entwickeln, der uns mit der Endlichkeit eines einmaligen Lebens versöhnt. Während der realen Arbeit am Verhältnis der Geschlechter machen wir die Erfahrung, dass nichts wirklich planbar ist, dass die Entwicklung in Sprüngen und im Kreis verläuft, dass kein Fortschritt wirklich fort führt und keine Katastrophe das Ende bedeutet. Je besser diese Lernerfolge greifen, je einfacher wird es, sich nicht mehr mit anderen zu relativieren. Jede befriedigende Körpererfahrung überbrückt Abstände und Grenzen, die als gesellschaftlich geworden oder gottgegeben reklamiert wurden. Es braucht Geduld und tägliche Übung: Ab einer gewissen Intensität der Wiederholung erscheint es jedes Mal wieder neu und einzigartig, mit der Zeit steigern sich sogar wunderbare Unvorstellbarkeiten! In einer Zeit, in der konfliktuelle Verführungen und Zwiste einfach an uns vorbei gingen, ihnen fehlte der Resonanzraum, weil wir Tag für Tag befriedigt waren, begann die Kategorie des Unvorhergesehenen wirklich fruchtbar zu werden. Wenn nur der Weg zählt, Schritt für Schritt, wird hin und wieder die Grandiosität einer Unvorstellbarkeit erreicht, die tatsächlich sogar die Wiederholungszwänge eines zurückliegenden Elends abarbeitet. Dieses pragmatische Glück wurzelt in ganz real erfahrenen Transzendierungen der Wirklichkeit! Mit den gemeinsamen Rhythmen erreichen wir hin und wieder ein Level, auf dem der andere Körper erfahren wird, als sei er der eigene Körper. Der Sprung in die Unendlichkeit findet dort statt, wo die Entladung verzögert und der Reiz erhöht werden, wo energetische Erfahrungen die Selbstwahrnehmung auf ein Niveau katapultieren, von dem der Körper plötzlich weiß: Das-ist-es, während das Bewusstsein nur staunt und verglüht. Die einzige bleibende Fraglichkeit ist unser Unvermögen, das Geschehen zu reproduzieren – die Präsenz geht ganz schnell wieder verloren, was gerade noch in einer überbordenden Intensität bestanden hat, kann nur mit der nötigen Geduld bei einer der nächsten erfolgreichen Übung neu erfahren werden.

Auch im Zeitalter der digitalen Reproduzierbarkeit gibt es ein biologisches Faktum, das bis in die differenziertesten Strukturen des Bewusstseins reicht und den Beweis für die Nichtreproduzierbarkeit der Präsenz erbringt. Wenn es wirklich gut war, geht es nicht noch einmal so, wie es war – wenn es geht, ist es immer wieder unfassbar erstaunlich... Die Liebe ist eine Form des Spiels, bei der der Einsatz das ganze Leben betrifft: Wenn es eine/n erfasst, ergreift es uns noch einmal wie am ersten Tag der Schöpfung! Wenn entscheidende Einsichten reifen, wenn die nötige Sättigung eines Mediums erreicht ist, wenn das richtige Gefälle vorbereitet wurde, wenn sich gewisse Prozesse in Bewegung setzen, beginnen Gesetzmäßigkeiten der Bedeutsamkeit, die dem willkürlichen Zugriff entzogen sind, für einen zu arbeiten. Der entscheidende Sprung im Signifikantennetz ist erreicht, wenn nicht etwa nichts getan, sondern alle Kraft und Einsicht dem Nicht-Tun gewidmet wird. Wenn wir für die Verführungen der Mimesis nicht mehr erreichbar sind, auf keine fehlerhafte Identifikation mehr reinfallen, stellen sich auf einmal glückliche Lösungen ein, an die niemand gedacht hat. Sogenannte Zufälle sorgen plötzlich für Entscheidungen, die derart überraschend sind, dass Krüppelzüchter nicht mehr mithalten können.

 

 

 

Eigenarbeit und Eigenzeit

 

Erst durch die Aneignung sozial vorgegebener Muster der Selbstregulierung bildet sich ein menschliches Repertoire aus, wobei die Entwicklung individuell ausgeprägter Persönlichkeitsstrukturen in der Regel durch minimale Abweichungen von diesen Mustern zustande kommt. Sei es die Kompensation von Ausfällen oder das Boostern von Sonderbegabungen, wir lernen über den Umweg der Anderen mit unseren Anlagen umzugehen, durch Distanzleistungen aber zu relativ autonomen Personen zu werden. Doch selbst so komplizierte Verfahrensordnungen wie unsere Zeitbegriffe sind an materiellen, organischen Prozessen geworden: die perpendikuläre Zeit als einfachste, durch taktile und akustische Muster vermittelte Zeiterfahrung intrauteriner Kreisläufe oder deren Überlagerung durch extrauterine psychosoziale Einflüsse auf den mütterlichen Leib. Der Embryo erlebt gemächlich gleichförmige Phasen und solche, in denen das Mutterschiff Stress und Angst überträgt, doch ihr Wechsel wird in der Reversibilität als elementarste Zeiterfahrung erfahren. Ein erstes Mal wird die Verabsolutierung des linearen Zeitablaufs das Resultat der irreversiblen Katastrophe des Geburtstraumas. Die Eindrücke der ersten neun Monate prägen den Generalbass unserer Wahrnehmung von Strukturen des Raums und Mustern der Zeit, gerade weil diese Gesetzmäßigkeiten unbewusst bleiben, doch sie wandern als indexikalische Impulse der Aufmerksamkeit in den Spracherwerb ein. Die Sprache als gesellschaftliche Metainstitution und als Medium der Sozialisierung geht den notwendigen Lernprozessen bereits immer voraus; sie transportiert Gesetzmäßigkeiten des Lernens und gesellschaftliche Werte. Aber wie sich Sprache in jedem Leben in spezifischer Form individualisiert, entsteht auch ein Repertoire an Auswegen und Neuentdeckungen. Die Muster der Eigenzeit unterlaufen dank eines Übermaßes an Erwartungen und eigenwilligen Selektionen die vorgegebene Botschaft; existenzielle Erfahrungen decken den Widerspruch auf, der daraus resultiert, dass alles als eigen Empfundene erst einmal von außen herrührt, Resultat einer Selbstimmunisierung ist. Aus diesem Grund sind wir schon immer in Geschichten verstrickt, die viel älter sind als unser kurzes Leben, hangeln uns von Interpretation zu Interpretation durch die Welt, die nie nur eine Geschichte ist. Selbst die schnelle audiovisuelle Aneignung von Wirklichkeiten, ihre Umsetzung in Medienrealitäten, ändert nichts an der Tatsache, dass wir anhand der Resultate von Interpretationen Halt und Sicherheit suchen. Die Herstellung einer absoluten Immanenz in der alles gleich nah und zur gleichen Zeit erfahren werden kann, mag eine traditionelle Raumorientierung zu Gunsten einer Achse der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zurückdrängen. Dennoch ist die Subversion einer in Pseudoalternativen verhärteten Gegenwart immer wieder neu gefragt: Was uns als aktuelle Wahrheit präsentiert wird, muss in unerwarteten Formen der Präsenz verflüssigt werden. Erst wenn die Zeit keine Rolle mehr spielt, sind wir im Hier und Jetzt präsent, entdecken im Augenblick eine informatorische Allgegenwart und haben das Problem der Strukturierung und Auswertung jener Datenflut zu lösen, indem Eigeninteresse und Bedürfnis sie erden. Ein entsprechendes Supplement zielen Suchmaschinen im Internet an, mit denen heute Wissensweisen und Einsichten in einem Maß zur Verfügung stehen, wie dies zu Zeiten des langsamen verbalen und schriftlichen Wissensmanagements in der Gutenberggalaxis nur schwer vorstellbar war. Ein Zugang, der im Nachhinein über die Vorgaben bestimmt und diese modifiziert, ist für die Wissenschaft das erste Mal mit der verzögerten Entscheidung der Quantentheorie aufgetaucht. Auf einmal wurde die Zeit nicht mehr unabhängig vom Wahrgenommen-Werden vorgestellt, das sich in ihr ereignet – tatsächlich ist es möglich zu entscheiden, welchen Weg ein Photon durch die Lochmaske nimmt, nachdem es die Maske bereits hinter sich hat. Die Vorstellung einer linear verlaufenden Zeit, die unabhängig von dem ist, was sich in ihr ereignet, hat sich nicht nur in der Mikrophysik erledigt. Mit der Erfahrung der Supplementarität untersteht das Denken und Erfahren ganz ähnlichen Prozessen. Der nachträgliche Effekt eines Geschehens entscheidet über seine Wirklichkeit. Wenn eine uns angehende Wahrheit aus der Zukunft auf uns zu kommt, erspart dies jene vertrocknete Spezialisierung, mit der das Wissen von jeder für den Alltag anwendbaren Erfahrung abgekoppelt wird. Wir müssen nicht mehr tagelang nach einem Zitat suchen, das uns in der Vergangenheit wie ein Raubtier angesprungen hat, um es im richtigen Kontext zu domestizieren, während uns die Welt außerhalb der Texte immer fremder wird. Nachdem es heute nicht mehr nötig ist, das Gedächtnis mit unnützem Ballast zu überfrachten, kann ein waches Interesse sowie die am Umgang mit universalisierten Medien fundierte Allgemeinbildung für das nötige systematische Gespür sorgen. Wissen ist nicht automatisch Macht, denn welches Wissen taugt tatsächlich zu etwas, nachdem es vom Sicherheitsbedürfnis um den Gebrauchswert reduziert wurde! Unsere Lebenszeit muss nicht in den Urwäldern der Spezialbibliotheken auf der Strecke bleiben – aber es ist wichtig, deren archiviertes Wissen in digitaler Form abrufbar zu haben. Wenn uns das Zeitalter der KI etwas bringt, wird es zum Üben dienen, Einsichten, die unseren Erwartungshorizont übersteigen, sind Trainingsgeräte für geistige Spannkraft und Beweglichkeit. Die Vorbehalte der großen Institutionen, die KI erhöhe das Risiko einer Auslöschung der Menschheit, beruhen wahrscheinlich auf dem impliziten Wissen um die eigene Rücksichtslosigkeit und Inhumanität beim Durchsetzen von Machtansprüchen. Also sollten wir mit der KI die Prinzipien einer anarchistischen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie trainieren. Jedes komplexe Wesen wird von einer Pluralität von Zeiten konstituiert, die aufeinander subtil und vielfältig einwirken. Wer sich in den jeweiligen Zusammenhängen einredet, selbst zu denken, gehorcht einer Form der Angstbewältigung. Tatsächlich sind wir erst einmal Transmitter und Konverter, die aktuellen Bilder und Redegirlanden denken für uns, wir dienen ihnen als Vehikel; erst ab einer gewissen Kapazität beginnen sie sich an unseren Mühen zu personalisieren. Es ist also keine Besonderheit oder Auszeichnung, für Stimmungen offen zu sein, denn wirkliche Erweiterungen unserer Möglichkeiten resultieren vor allem aus einem Gespür für die zu erwartenden Aufgaben, für daran zu trainierende Fähigkeiten. Erst wenn wir uns mit der nötigen Durchlässigkeit auf ein Repertoire einlassen, kommen wir in die Lage, uns ergreifen zu lassen. Wir beginnen ein Geschehen zu erkunden, indem wir ununterscheidbar in die Gesetzmäßigkeiten eines Weltausschnitts eingehen, wenn wir als dessen Medium in der Lage sind, die Besiedelung der Erwartungsmuster zu regulieren, Kleinigkeiten und Perspektiven zu modifizieren, bis mit der Arbeit an den Besetzungen schon einzelne Details ganz anderes bedeuten. Wir sind, was wir gewesen sein werden, und nur da, wo eine Übersetzung in symbolische Formen möglich ist, gibt es Auswege und eine lebendige Zukunft. Für Kamper transportiert das Symbolische vor- und transindividuelle Momente der Sprache, sie ist eben nicht auf Information und Kommunikation zu reduzieren. Doch für das Privileg dieser Erfahrung symbolischer Übertragungen wird uns das Einverständnis abverlangt, das Verstummen, das Sinnlose der Tatsache des Todes zu akzeptieren. Ansonsten greifen jene Verführungen der Mimesis, die schon immer auf jenem identifikatorischen Versprechen beruhen, das Nichts in Schach und draußen zu halten. Gerade der Zwang, ein in sich abgeschlossenes Subjekt zu sein, dient der Nachahmung als Anschlusswert an jene Zeit der bösen Wünsche, die nicht einfach in einem anderen Weltalter hinter uns liegt, deren Motor die Angst antreibt. Oft trieft ein ganzer Kontext vor Neid und Missgunst, oft sind Lebensangst und schlechtes Gewissen die Ventile einer Figuration, in der wir uns verstricken sollen. Eben diese Formen der Ausgeliefertheit und der magischen Erregungsabfuhr greifen auf das in den frühkindlichen Abhängigkeiten erworbene Repertoire von Verhaltensformen und Empfindungsweisen zurück. Neurose ist Institutionsminiatur, die großen Institutionen der Menschheit sind nach dem Vorbild der Religion generalisierte Neurosen, die Parapsychotikern als Schutzschirm dienen. Wie früher die Religion, bestimmen heute die Medien unsere Zugänge zur Wirklichkeit der Erscheinungen, die nicht erst jenseits der Medien wirklich wird, sondern deren Wirklichkeit die der Medien ist. Gerade weil die Realität nicht unabhängig von den biographischen und gesellschaftlichen Erfahrungen besteht, sondern immer erst produziert wird, funktionieren die Wirkungsweisen der Macht nach einem einfachen Schema, das in den Großinstitutionen von der Kirche über das Militär bis zur Wissenschaft perfekt ausgearbeitet worden ist: Wer die Angstbewältigung ankurbelt, benützt uns als Verbündete gegen uns!

Jede Kultur resultiert aus einer mehr oder weniger virulenten Interferenz der Zeiten, aus einem Durchschuss des präsentischen Bewusstseins mit zumeist unbewussten Wiederholungen. Schon bei Benjamin wurde jene seltsame Dialektik ausgearbeitet, nach deren Gesetzmäßigkeit sich im Allerneusten das Archaische wiederholt. Die Analysen im Kontext des Passagenwerks kennzeichnen das Verhältnis aus Kapitalismus und Konsumismus als Religion durch das Paradox, mit der Regression den Fortschritt anzutreiben; in den geschichtsphilosophischen Thesen wird die verzwergte Theologie zur geheimen Steuerung des historischen Materialismus. In diesen Zusammenhängen ist der Ausdruck Achsenzeit wieder zu entdecken: Kultur als Strom zu interpretieren, der alles Mögliche aus den Gegenden, die er durchquert, mitnimmt, abschleift und zu neuen Formen transformiert. Mag Jaspers Historisierung seit Jahren Korrekturen erfahren, so ist auf jeden Fall wichtig, dass das Zusammentreffen der verschiedensten Traditionen in einer Schwellenzeit ab einer gewissen Sättigung des Mediums zu Sprüngen in den althergebrachten Gewissheiten oder den biographischen Selbsterlebensbeschreibungen führt. Die Schwellen der Digitalisierung funktionieren mangels materieller Reibungsverluste in besonderer Weise synkretistisch. Die Erfahrung einer Zeit, deren galoppierender Charakter verhindert, ihre Wahrheit zu erfassen, ist der Erfahrung entgegenzusetzen, dass diese Wahrheit aus der Zukunft auf uns zu kommt. Nicht nur nachträglich weiß man/frau immer alles besser; wir leben gleichzeitig in der Vergangenheit der Zukunft wie in der Zukunft der Vergangenheit – die Gewichtung hängt vom Stresslevel ab, das wir auszuhalten in der Lage sind, bis die psychischen Besetzungen für einen bifurkativen Sprung gesorgt haben werden. Weil die Geschichte der Religionen, der Phantasmen und Mythen als Vorgeschichte und Tiefenstruktur der heutigen technischen Entwicklungen zu rekonstruieren ist, führt die gegenwärtige Remythologisierung der Technik zu neuen Spielformen religiöser Energien. In den noch nicht der institutionellen Reinigung und Sublimierung unterworfenen Ursprüngen ist das Religiöse und Mythologische immer synkretistisch, ein Patchwork ohne theologische Strenge und ohne hierarchische Absicherung. Als Schema für das Flottierende und Hybride, Ephemere und Metamorphotische, prägt es die Globalisierung und Multikulturalität des Netzes.

Die Zunahme des menschlichen Wissens wird von der Erfahrung begleitet, nach der die damit verbundenen Bereiche des Nichtwissens wesentlich schneller anwachsen, als die Gewissheit, auf der wir für den historischen Augenblick ausruhen wollen. Das könnte immerhin erneut zur Kultivierung jener Weisheit führen, nach der unser Wissen nur der Armatur unserer Sinne hinterher hinkt und zu wenig Wahrheit transportiert. Über Jahrtausende wussten verschiedene Theologien und ihre Schwundstufen an dieser Einsicht zu schmarotzen, um die Machtausübung durch immer kompliziertere Konstrukte zu rechtfertigen, die die Materialität unserer Weltwahrnehmung transzendieren. Dabei beruht diese Materialität auf den Armaturen der Sinne, auf den Repertoires, den komprimierten Archiven, die ihre Funktionen geprägt haben. Nur deshalb ist ein Maximum der uns zugänglichen Wahrheiten aus der Nähe zur Wirkungsmächtigkeit eines Nichts aufzuschlüsseln, das als Ursprung aller Symbolsysteme der Selbstermächtigung der menschlichen Fantasie zugrunde liegt. Der Reiz literarischer Intensitäten des Wissens liefert oft mehr als nur Schwundstufen der ursprünglichen Fiktion von Substanz. In den Randgängen der Signifikanten, den unterschwelligen biomagnetischen Feldern, in den unwillkürlichen Erinnerungen, den Irrgängen einer Metaphorologie usw. gibt es verschiedene Verweisungszusammenhänge, die über die selbst geschaffenen Gefängnisse des institutionalisierten Wissens hinaus führen.

Die Welt erfahren wir mit allen Sinnen, wenn die Erwartungsmuster und die Summe der Kenntnisse, die zu ihnen passen, nicht unter einer Kanonade von Phrasen unwichtig geworden sind. Ansonsten müssen erst Schockerfahrungen jenes dichte Gewebe aus Lebenslüge, Trägheit und Verleugnung aufsprengen; weil sich die lineare Zeiterfahrung als Resultat eines Schocks einstellte, macht sich das Andere der durch Konvention und Unredlichkeit hergestellten Wirklichkeit erst unter dem Einfluss der Katastrophe bemerkbar. Freud hat nicht herausgearbeitet, welcher Verdrängungskünstler durch die Orientierung an der Normalität entsteht. Er hat mit der Kategorie des Widerstands auch gezeigt, dass der Ich sich nur durch die dauernde Verweigerung einer unzensierten Selbsterkenntnis aushält, Selbstdementierung und trickreiche Verheimlichung der eigenen Motive sind an den statistischen Durchschnitten ausgerichtet. Eine Hermeneutik der Selbsterkenntnis müsste die Geschichte der Erzählungen über das Selbst gegen die Widerstände des Ich aufschlüsseln. Was einst unter emanzipatorischen Voraussetzungen Erfolg versprechen sollte, ist mit der Wissenschaft des Bewusstseins zu einem Repertoire konkurrierender Diskurse geworden. Aber gerade weil alle Wahrnehmung, Erfahrung, Erwartung und Entscheidung auf enormen Komplexitätsreduktionen beruht, wird nachvollziehbar, warum die Bedeutsamkeit gewisser Zusammenhänge immer auf Spuren verweist, die die Wirkungen des Subliminalen für viele unserer Entscheidungen aufdecken. Wir sollten also der Verführung durch empfohlene oder naheliegende Vereinfachungen ausweichen, nicht ständig nach den Kurzformen, den Schematismen  und Logos suchen. Mit den Anregungen Kampers ist zu empfehlen, die Komplexität durch materielle Nähe zu steigern, durch geschulte Wahrnehmungen und intensive sinnliche Vernetzungen, durch psychedelische Erfahrungen umzuformatieren. Wenn ich nur das zu sehen in der Lage bin, was mir beigebracht worden ist, habe ich nicht nur das Leben verpasst, ich werde viel zu bereitwillig einwilligen, wenn über mich verfügt wird. Tatsächlich hat das Ich keine eigene Sprache, entweder es lernt nach und nach, sich geschickt in fruchtbare Zusammenhänge einzuschleichen, um alles Brauchbare zu verwenden und damit das durch Sprache vorgegebene Repertoire zu individualisieren und zu bereichern. Oder, wenn dies misslingt oder von vornherein nicht angestrebt war, kommt mit den haltgebenden Klischees und Vorbildern auf die Dauer ein nachgemachter Mensch zustande, dessen Sicherheit nur geliehen ist. Die Sprache wie die das ursprüngliche Repertoire liefernden Mythen wollen individualisiert werden, erst dann sind sie in der Lage, uns für den Wandel der Zeit fit zu machen. Solange sie allerdings die strategische Begeisterung Sorels zu füttern, der politischen Mobilisierung der Massen zu dienen, wird eben diese Individualisierung verpasst, während dessen Mythoskonzeption korrigierend jeden Wahrheitsbezug ausschließt. Der Mythos wirkt wie eine Maschine, die die unbewussten Energien des Menschen bündelt und in immer neuen Kombinationen vervielfältigt. Seine Bedeutung resultiert aus der Verankerung der Motivation und des Sicherheitsbedürfnisses von Individuen und Gruppen in den Tiefenschichten der menschlichen Geschichte. Doch ein Abaissement du niveau mentale befördert nur die Regression – schon deshalb war dem Erbe des Faschismus eine weitverbreitete Skepsis gegenüber Massenbewegungen zu verdanken. Dagegen weisen die großen mythischen Figuren mit den Erzählungen zur Welteroberung und Kulturstiftung auf ein Repertoire von Handlungen hin, mit dem immer wieder neu die Zukunft in Angriff zu nehmen ist. Im Fortgang der Zeit gingen diese Heroen an den freigesetzten Wissensweisen, an der durch Abstraktion und Generalisierung bedingten Stumpfheit und Empfindungsunfähigkeit zugrunde. Was aber nicht heißt, damit seien sie einfach verschwunden, denn kitschige Miniaturen tauchten regelmäßig als Begleitfiguren der Gesetzmäßigkeiten einer Partitur, der Strukturen eines Romans, den Spielereien eines Bastlers oder den Zwängen einer Neurose auf. Mittlerweile haben Film und Fernsehen als latente Sozialtechnologien der Regressionsresistenz ein neues Terrain bereitet; die Begeisterung kann zur Sentimentalität verzwergt ausagiert werden, Aggressivität oder kullernde Tränen sind in einem Urlaub vom rationalen Alltag gestattet, solange sie als Feuerwerk im Medium des Unernstes abbrennen. Mit zunehmender Digitalisierung besetzen immer mehr mythische Gehalte multimediale Felder, um ihre Verjüngung im Status des Als-Ob zu feiern. Der personalisierte Zukunftsbezug und das Prinzip Hoffnung leben von der Erinnerung an vergangene Entwicklungsstadien; gerade dieses Als-Ob garantiert eine Selbstimmunisierung, mühsam erreichte Fortschritte unterstehen zur Erholung der Regression, weil unser Zukunftsbezug ansonsten zerstört würde. Zugleich entsteht damit aber ein Potential an Überdruss, der sich gegen Verwaltungsbezüge und Als-Obs richtet. Ein Wahrheitswert, der zugleich die Gefahr mit sich bringt, mit dem Bedürfnis nach Intensitäten wieder bei faschistischen Begeisterungen zu landen, gegen die tatsächlich nur echte Erfahrungen immunisieren.

Mit der Erfahrung einer Fülle des Wirklichen – die sich einstellte, als wir von allen Ressourcen abgeschnitten waren und für die einfachsten Dinge wieder ganz von vorne beginnen mussten – begannen wir zu akzeptieren, dass unsere Aufmerksamkeit nur für einen bedingten, kleinen Ausschnitt reicht, wir mussten uns auf das einlassen, was wir nicht wissen können. Es ist die Präsenz der subliminalen Wahrnehmungen, der nicht bewussten psychischen Aktivitäten, des Denkens, das außerhalb unserer Köpfe abläuft, die die Verbundenheit des Menschen mit der Welt viel enger gestalten, als es die Theoretiker des Ich-denke wahrhaben können. Diese Intensitäten, das objektivierte oder implizite Wissen, die weitere Bandbreite der Sinne, haben wir gewähren zu lassen. Die Winke wollen vernommen, die Zeichen wollen gelesen werden. Dann beginnen die Dinge zu und die Tiere mit einem zu sprechen; wer sich darauf einlässt, erlebt die Materie als einen fortwährenden Informationsaustausch. Selbst in der Verknüpfung der Zeiten prägen gewisse Botschaften unsere Gegenwart, die nicht nur von der Vergangenheit getragen, sondern mit Einsichten aus einer fernen Zukunft geimpft ist, die wir noch nicht wissen können. Im Anfang gibt es nur das Hier, noch fast keinen Zeitbezug, während am Ende das Jetzt die Fülle des gelebten Lebens ist, während das Hier zum Punkt in einem unvorstellbar verzweigten Verweisungszusammenhang geschrumpft sein wird. Gelegentlich mag es intensive Aufenthalte im Jetzt in den Augenblicken der Ekstase geben, doch das instantane Nunc ist ein Privileg der Traumzeit. Dem Entzug von Präsenz entspricht die Verleihung von Bedeutungen an das schwindende Geradeeben. Seltsamerweise konstituiert diese Dialektik von Entzug und Vollzug die Reziprozität der symbolischen Ordnung, in der die Welt im Focus der Bedeutsam­keit für uns verfasst ist.

Jede Konzeption der Zeit entwirft eine Schematik, alle Messung der Zeit stellt immer nur Bilder her, die einer enormen Komplexitätsreduktion unterstehen. Die eigentliche Bewegung jenseits von Linie und Kreis verläuft in endlos sich verzweigenden Wiederholungsschleifen, die niemals den gleichen Fluss darstellen. Das Wechselspiel der Zeiten macht verschiedene Formen der Zeiterfahrung aus, die sich nicht gegenseitig aus dem Feld schlagen. Die vorherrschende Auffassung der letzten Jahrhunderte machte Zeit zum Gegenstand der theoretischen Physik. Seit Galileis Versuchsanordnungen, die oft genug an der Grenze des theoretischen Experiments angesiedelt waren, entstand eine physikalische Zeitkonzeption, die die Selbstdistanzierung des Forschers und einen technischen Ablauf voraussetzte. Schon bei Cusanus hatte sich eine Konzeption verselbständigt, die viele Jahrtausende ephemer war, die sich nur der Not verdankte – die lineare Zeit ist ursprünglich die des Todeslaufs, in ihrer Unausweichlichkeit sitzt noch heute die Agonie. Ihr gegenüber gibt es Zeiterfahrungen, die mit Ewigkeit gesättigt sind, der gelungene Augenblick nicht weniger als die Wiederkehr des Gleichen. Wir haben die mythische Zeit der Epik, die in mächtigen Bildern mit Erscheinungsformen des Göttlichen durchsetzt ist, wie die gemächlich dahin fließenden Zeiten der Chronik, die noch immer Wunder produziert, außerdem die Historie, deren Nutzen von ihren Nachteilen aufgezehrt wird, weil sie das Wunderbare aus der Welt entfernt. Die Moderne war weitgehend ein Resultat männlicher Erfahrung, planmäßiger  Fortschritt ein Resultat der Reduzierung des Realen auf mathematische Rationalität, einen Vektor in der Zeit, der zyklische Rückgriffe und variierende Wiederholungen zunehmend ausschloss. Mit dem Einfluss der industriellen Herstellung von Waren und Produkten verschwinden die sinnproduzierenden Rituale immer mehr oder werden auf Feiertage und Als-Ob-Erfahrungen reduziert, bis die Prosa einer grau gewordenen Alltagserfahrung die Flucht in die Kriegsbegeisterung nahelegte. Während die Materialschlachten eines ersten Weltkriegs jegliche menschenmögliche Erfahrung verhöhnten, die verbliebenen Protagonisten verstummt aus dem Feld zurückkehrten, wurde mit dem Zeitbegriff der Relativitätstheorie das Unvorhersehbare gegenwärtig und die Synchronizität thematisierbar. Mittlerweile gewinnt die zyklische Wiederkehr des Gleichen mit der Kapazität moderner Rechner an Bedeutsamkeit. In ihr sprießen Koinzidenzen, das Simultane ist lediglich durch minimale Unendlichkeiten von seinem Gegenüber getrennt. Dabei war diese blitzartig aufleuchtende Unendlichkeit in der Zeitlosigkeit nicht aus der Welt verschwunden, sondern nur mehr und mehr an den Rand gedrängt worden. In die Zeit des Wunders, den Blitz einer Offenbarung, den mythischen Augenblick einer großen Liebe, sind die Splitter einer unvordenklichen Zeit eingestreut, in der Vergangenheit und Zukunft in einem unendlich vielfältigen Sinn kulminieren. Die lineare Zeit macht den Herrschaftsbereich der kodifizierten Bedeutungen aus, eben weil es Zeit braucht, um eine sinnliche Präsenz in Bedeutung zu überführen, die das Verhältnis zwischen Mensch und Welt verbindlich kodifiziert. Sie mündet in die Zeit des mechanischen Uhrwerks, das die Zeit in Zeitpunkte zerhackt und die der Hemmung unterstehenden Momente auslesbar macht – um den Preis, uns um die Erfahrbarkeit einer unendlich vielfältigen Wirklichkeit zu betrügen. Wenn sich das Vergessen der Interpolationen in der Messbarkeit vollendet, prägt der Tod die Münze der Bedeutung. Gestern war heute noch morgen, wir glaubten unendlich viel Zeit zu haben – aber morgen ist heute schon gestern. Die Jahre gehen unerbittlich und immer schneller vorüber, wenn wir nicht im Hier und Jetzt den schöpferischen Funken schlagen.

Das Glück des Unvorhergesehenen hat Teil an jenen Intensitäten, die sich aus einer Unverfügbarkeit heraus ereignen. Jenseits der Rituale der Angstbewältigung und der Gewalt macht uns die Selbstverschwendung, die Lust an der Unverfügbarkeit, das Sicheinlassen auf offene Horizonte erst einmal fähig, unsere Zukunft zu individualisieren.  Die Plötzlichkeit als spontaner Einbruch anderer Seinsordnungen, die Entgrenzung der persönlichen Gewohnheitsmuster, untersteht keinem Wollen, sondern erwartet ein Gewährenlassen. Dies bringt die Chance mit sich, mehr und anderes zu finden oder zu erfahren, als unsere Erwartungsmuster und die dahinter arbeitende Komplexitätsreduktion erlauben. Eine von dieser Erfahrung inspirierte Philosophie könnte Expeditionen ins Unerkannte ermöglichen, uns mit unserer Rätselhaftigkeit konfrontieren. Wohin es führt, wenn wir für alle möglichen Erfahrungen genau die Erklärung suchen, die unsere Ängste und Zwänge bestätigt, zeigen uns Verschwörungstheoretiker bis zum peinlichen Fremdschämen. Dabei stehen schon die einfachen Erklärungen im Dienste der Komplexitätsreduktion und kleben den Registriert-Bon auf eine Wundersamkeit, mit der wir uns nicht weiter zu beschäftigen haben. Wir sollten uns nicht um unsere Eigenzeit betrügen, nur um den immergleichen Schwachsinn in den verschiedensten Verpackungen zu begehren. Die Offenheit für das uns umgebende Rätsel der Schöpfung benötigt keine Askese, denn mit den geduldigen Übungen des Paars ist die Stillung des Begehrens gegen den Sog der Bildwelten und den von ihnen ausgehenden Geilheitsdressuren leichter als durch Verzichtleistungen zu erreichen: Die Liebe, deren Antrieb nach Simmel die Ergründung des Geheimnisvollen der Individualität ist, erlöst uns von der Suche nach dem Sinn eines Unternehmens, das uns mit dem Tod weitere Sorgen und Mühen erspart. Die Arbeit an der während dieser Übungen freigesetzten inneren Leere, die Verflüssigung verhärteter Gewohnheiten, die Relativierung jeglicher Intention, erspart uns die Täuschung durch Trägheit, Glaube und Indoktrinierung; wir kommen dem Geheimnis der Lebendigkeiten näher, ohne in der Sackgasse der Frage zu landen, was wir damit anfangen können.

Mit diesem produktiven Ansatz der nüchternen Beschränkung auf die Diesseitigkeit der Lebendigkeiten sollte das Verhältnis körperlicher Zeichensysteme zu dem der Zeichen des Geistes betrachtet werden. Es gibt Zeiten, in denen diese beiden Systeme einander durchdringen und solche, in denen sie starr auseinander gehalten werden. Deshalb kongruieren symbolische Repräsentationen der menschlichen Wirklichkeit in einer technischen Welt wesentlich weniger mit der Erforschung der spezifischen Gesetzmäßigkeiten und der in dieser Sphäre des Menschlichen entstehenden Probleme, als mit dem was wir unter Natur verstehen und durch biologische, physikalische und mathematische Modelle erklären. Noch die Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften ist das Resultat einer Trennung, die mit Elias das Kunstprodukt einer wissenschaftlichen Fehlentwicklung ist: Ein Hindernis für die Weiterentwicklung der Orientierung auf der Ebene des Wissens und der Integration spezifisch menschlicher Eigenheiten; entsprechend beschränkt und unsicher ist das Wissen, mit dem wir uns in dieser Sphäre zu orientieren versuchen. Die Kluft zwischen Innenwelt und Außenwelt, die sich durch Akte der Distanzierung in die Subjekt-Objekt-Dichotomie verlängert, führt dazu, die untrennbaren und komplementären Funktionen von Mensch und Natur oder von Menschen und Menschen auf zwei selbständige und unüberbrückbar getrennte Existenzformen zu verteilen. Das Entweder-Oder von Objektivität und Subjektivität ist eine Falle, die immer wieder neu in Opferverhalten und fehlerhafter Identifikation zuschnappt. Jenseits des Mythos ist die Welt außen, das Wissen innen – aber Wissen und Kommunizieren setzen eine Gesellschaft von Menschen und keinen isolierten Einzelnen voraus – das epistemische Arbeitszeug, um mit der Komplexität intensiv vermittelter Wechselverhältnisse umzugehen, jenseits von Abstraktion und der Fixierung auf generalisierte, abgetrennte Relate liefert immerhin eine von Peirce konzipierte relationale Semiotik. Bereits die Kennzeichnung Außenwelt ist wie der Bereich der Innerlichkeit wenig geeignet, um das Verhältnis von Sprechergemeinschaft und individuellem Sprechen vorzustellen oder das allgemeiner Begriffe zu deren individuellem Gebrauch. Das ‚Objekt‘ ist also immer schon eine Funktion des jeweilig vorgegebenen sozialen Wissensbestands. Der anhand der physikalischen Phänomene Newtons entwickelte kategoriale Apparat, die ihm entsprechenden Formen einer mechanischen Ursache-Wirkung-Kausalität, eignen sich eben nicht zur Erforschung der Verknüpfungsformen aller Integrationsformen unseres Universums, denn darüber hinaus gibt es biologische, soziale und erfahrungsbezogene Integrationsebenen. Notwendig ist  also eine Erfahrungs- und Wissenskonzeption, die andere rationale Synthesetypen zulässt. Die Vortäuschung einer Spaltung der Wissensgebiete funktioniert nur solange, wie weite Bereiche der menschlichen Erfahrung nicht zu wirklichen Erkenntnissen zugelassen werden, dabei ist die Unterscheidung verschiedener Zeichensysteme wesentlich erkenntnisfördernder, als eine einfache Entgegensetzung von Körper und Geist. Was sich im Prozess der Zivilisation geändert hat, ist das System der Selbstregulation, die Funktion der Zwischenglieder zwischen Reiz und Reaktion, die zunehmenden Puffer zwischen den elementaren Impulsen und dem gelernten Muster ihrer Kontrolle und Zügelung. Sie mögen in manchen Fällen der Reflexion, der kritischen Hinterfragung zugänglich sein, aber in vielen Fällen wurde der zeitliche Lernprozess vergessen und das Resultat als natürliches Verhalten empfunden. Dazu gehört vor allem das Unvermögen, sich über den tatsächlichen Charakter der Zeit klar zu werden. Für Elias, der die Geschichte der Menschheit als einen Prozess zunehmender Triebhemmung gekennzeichnet hat, ist die Selbstregulierung eines zeitlichen Schematismus weder eine biologische Vorgabe der Natur des Menschen, noch die eines metaphysischen Apriori, sondern ein Sozialisationsprodukt. Das jeweilige Zeitempfinden ist das Ergebnis einer sich unter den zeitgeschichtlichen Vorgaben entwickelnden sozialen Persönlichkeit, damit also der integrierenden Lernprozesse jedes Individuums. Das vergebliche Bemühen um die Lösung eines im Grunde einfachen Verständnisses der Zeitproblematik ist ein gutes Beispiel für die Folgen des Vergessens der gesellschaftlichen Vergangenheit. Wenn man sie in der Erinnerung vergegenwärtige, entdecke man sich selbst.

In diesen Bereichen des Dazwischen haben wir es mit vermittelnden Zeichensystemen zu tun, auch der warme und reaktionsfreudige Körper ist für die Wahrnehmung nichts anderes als ein Zeichensystem. Das mag erklären, wie viel Geist ein Erröten impliziert, wie viel Reflexion in einem Stolpern beinhaltet ist: Wie Schneider in ‚Liebe und Betrug‘ gezeigt hat, ist im Stottern und Anstoßen die Authentizität der abendländischen Liebe zu Hause, während alle glatte und geschmierte Selbstdarstellung schon dem Betrug zu unterstellen ist. Die Zeichen der Haut unterscheiden sich von Tätowierungen, die ein Signal anstreben, dem die Echtheit physiologischer Zeichenprozesse fehlt. Immer dann, wenn körperliche Kommunikation und sprachlicher Austausch in eine intensive Wechselwirkung treten, nähern wir uns einer umfassenden Form von Kommunikation. Dabei ist sogar einzuschränken, dass auch ein Schamane simuliert… aber eben nur solange, bis ihn das Geschehen ergreift. Wenn eine/n die Besessenheit reitet, ist die Heiligkeit des authentischen Augenblicks erreicht. Das mag schon sehr weit von unseren Erfahrungsmustern entfernt liegen, aber selbst in den biographischen Zusammenhängen des 21. Jahrhunderts kann die eine/n ergreifende Erscheinung tatsächlich eine Erscheinung des Göttlichen werden: Schön ist nicht allein, was begehrenswert erscheint, sondern was die Intensitäten des Lebens stimuliert, was in der Lage ist, enorme Energien freizusetzen. Ob das Schöne sinnliche Erscheinung der Idee genannt werden konnte oder Schönheit zu einem Erfüllung versprechenden Begehrten wurde – in beiden, extrem auseinander liegenden Fällen landet der sinnliche Impuls in der Amygdala, springt dann vom Gefühlskern des Gehirns zum Hippocampus, um als Erlebnis verarbeitet und zu Erinnerungen geformt zu werden – vor allem fördert es eine umfassende Bejahung des Lebendigen mit all seinen Widersprüchen und Prüfungen, wenn es als Ereignis mit all seinen Erscheinungsformen anerkannt wird. Die Schönheit der Macht dagegen resultiert aus der Kompensation des persönlichen Unvermögens; sie geht von der Negation aus, stellt eine Veranstaltung der Verleugnung, des Selbstbetrugs und der Unterwerfung dar. Vielleicht möchte ein nachgemachter Mensch mit der Nähe zur Macht ein bisschen von der Begehrlichkeit abbekommen, die die Präsenz des Körpers verbürgen kann, solange die Empfänglichkeit nicht während der Sozialisation ausgebrannt worden ist. Gegen die Schönheit als Promesse du Bonheur – und solange das Glück dann auch nur für Augenblicke stillhält, sind wir sogar bereit dafür zu sterben – steht die Eleganz der Kastraten. Das ist ein Resultat des bis ins Jenseits aufgeschobenen Lustprinzips, hergestellt wird ein totes aber beherrschbares Arrangement. Wenn hässliche Simulanten oder zu kurz gekommene Intrigantinnen wirklich mit den Selbstinszenierungen der Macht zufrieden zu stellen wären, wäre unser soziales Umfeld nicht durch deren neidende Strategien vergiftet worden. Im Übrigen hätte es dann niemals das Skandalon des schönen Wilden gegeben, der manche/n zum Deserteur machte – nicht weniger die Karrieren des weiblichen Geschlechts, das sich den Zugang zur Macht erschlief, um sie dann zu Zwecken zu gebrauchen, die von den ursprünglichen Machtkonstellationen oft wenig übrig ließen. Die Aporien eines Zenon waren ein Höhepunkt der griechischen Dialektik, niemandem gelang es, sie denkend zu widerlegen. Wir wissen mittlerweile, wie einfach eine Widerlegung ohne den Umweg über Russel/Whitehead möglich ist – durch körperhafte Präsenz und durch die energetische Erfahrungswirklichkeit des Paars. Sie ist beileibe nicht als Reihe von Zeitpunkten zu verstehen, wird je lebendiger, ergreifender, je mehr Widersprüche und Fremdheiten unter Funkensprühen in ihr zu integrieren sind. Das Maß und die Intensität liegen dann nicht mehr in einer abstrakten Dauer, sondern in der unendlich stetigen Vertiefung der Präsenz.

Der Begriff Geschlechterspannung, den Heinrich in ‚anthropomorphe‘ als gesellschaftliche Erscheinungsform der Zweigeschlechtlichkeit des Menschen kennzeichnet, beschreibt das Medium zwischen einer biologistischen oder einer soziosexuellen Fixierung auf starre Geschlechterrollen. Wir erfahren Spannungen, die gleichermaßen zwischen den Geschlechtern wie zwischen den frühkindlichen Identifikationsmustern beider Eltern auszutarieren sind – die vor allem aber in der Sexualität zum Vorschein kommen. In der Regel muss ein Individuum gerade deshalb darauf achten, seine sexuellen Konflikte zu kaschieren; sowohl vor den anderen, wie vor sich selbst, müssen sie weitgehend als überwunden oder nichtexistent behandelt werden. Die Spannung wird hinter einer Rolle oder Maske verborgen, weil vor allem die Scham und die Kränkung zu verleugnen sind, nicht beherrschen zu können, was eigentlich beherrscht werden sollte – hinter dieser Frustration steckt die Erfahrung, im eigenen Leben nicht das Sagen zu haben. Faktisch kann sich das Individuum erst als mit sich identisch definieren, wenn es gelingt, sowohl die immanente wie die zwischenmenschliche Spannung in einer Balance auszugleichen. Eine Entschlüsselung des Rätsels der Geschlechterspannung liefert die Kochrezepte für eine gemeinsame Lebenszeit! Gegen den Anspruch inzestuöser Abhängigkeiten und dank der Erotik ins Runde einer Harmonie zu kommen – die die Organisationsform kleinster Gemeinsamkeiten und größter Gegensätze ist, mit der tatsächlich erste Erfahrungen der Authentizität zustande zu bringen sind. Die ‚postmetaphysische Reflexion‘ bringt eine unterschwellige Entwicklungslinie auf den Nenner, die quer zur inhaltsleeren Konvention und den konstruktivistischen Setzungen steht. Eine an den eigenen Erfahrungen wachsende Subjektivität wird von der Achtsamkeit auf Gesetzmäßigkeiten des Leibes geprägt. Im Fortgang seiner Selbstdichtung wächst der Leib in Zusammenhängen, die sprechender und welthaltiger werden. In diesem Register bringen Liebende eine Verausgabung zustande, die dem Organismus mindestens so zusetzt wie eine schwere körperliche Arbeit: Gegen die Nichtigkeit des Aufenthalts in bloßen Vorstellungen gilt es, das Brennglas der Bedeutsamkeit zu fokussieren; das Leben beginnt zu strahlen, wenn es mit Präsenz geladen wird, während die Nichtigkeit und Nebensächlichkeit eines Durchschnittslebens von einem abperlen. Kraft und Bedeutung sind in der Regel auf verschiedenen Ebenen zu situieren. Die Kraft entspringt dem Realen und befeuert das Imaginäre, dagegen werden Bedeutungen im Symbolischen kodifiziert – doch in der indexikalisch auf die Materialität der Welt zurückbezogenen Bedeutsamkeit haben wir eine Vereinigungsmenge, die mit Gefühl und Ähnlichkeit unterfüttert wird. Allerdings sind diese Zuordnungen immer ambivalent, am ehesten noch mit einer Extremwerttheorie nachvollziehbar. Sie lassen sich nicht instrumentalisieren, auch wenn dialektische Tricks sie der Manipulation unterstellen. Das erklärt am besten, warum Energien entweder freigesetzt und verwendet oder aber abgebunden und blockiert werden. Doch in extremen Situationen der Bedrohung und Ausgeliefertheit gibt es einen Punkt des Umschlags, der Bedeutungen wieder in tödliche Kräfte verwandelt. Jenseits narzisstischer Selbstdarstellungen und verwalteter Geschwätzrituale gewinnt das Wort eine Macht, die mindestens so gefährlich sein kann, wie die in den Netzwerken von Bildungsbeamten zirkulierenden Verwünschungen.

Die unabhängig von Idealen oder Abhängigkeiten verkörperte Geistesgegenwart im Hier und Jetzt arbeitet an einer von Bildwelt und Vorstellung unabhängigen Form der Selbsterfindung. Gerade weil es nicht darum geht, sich den Anmutungen der anderen anzubequemen, instrumentiert sie die Wahrnehmung des Kontextes. Statt ein idealisiertes Selbstbild nach der über ihren Umweg entstandenen Erwartung zu richten, wird diese Form der Vergegenwärtigung zur Kompetenz für Spuren und Zeichen. Eine erkannte Tücke des Subjekts macht keine Rückkehr zur Abwesenheitsdressur mehr nötig, die einer ursprünglichen Angst vor der Nähe und damit vor der Anwesenheit in dieser Welt gehorcht. Gumbrechts ‚Lob des Sports‘ oder seine Ausführungen zur ‚Präsenz‘ legen nahe, warum gerade die Beherrschung einer Technik und die souveräne Verfügung über die Regeln jenen Raum aufschließen, in dem wir für Augenblicke nur noch im Hier und Jetzt sind, versunken in einer fokussierten Intensität. Was wir besonders gut können, können wir ohne Überlegung, es läuft wie von selbst. Dabei zeigt sich, wie gerade die körperlichen Routinen, die fast reflexartig ausgeführten Vollzüge dafür sorgen, in einer Präsenz zu landen. Und das geschieht eben nicht, wenn wir von fremden Virulenzen erfasst werden oder uns durch Bildwelten verführen lassen, sondern erst dann, wenn es gelingt, durch die nötige empathische Kapazität die Intensitäten eines Geschehens zu teilen, sie zum Erscheinen einer Ganzheit, einer säkularen Wiederverzauberungsstrategie zu steigern: Gefühle vervielfältigen sich, wenn wir sie teilen. Diese einer Epiphanie verdankte Verzauberung führt uns jenseits profaner Sportstadien in noch ganz andere Sphären, wenn wir das symbolische Liebesgebot des abendländischen Kontextes auf den realen Tausch der komplementären Geschlechtsvorgaben zurückführen. Weil das Liebesgebot in solchen Zusammenhängen einst entstand, stellen wir nicht nur fest, wie die Wirklichkeit heller und mit Energien geladen wird, sondern verstehen ohne zu überlegen, warum eine Logik des Vertrags dem gemeinsamen hormonellen Geschehen gehorcht. Während die sich beim Sprechen bezeichnenden Redenden oft genug umsonst um einander bemühen, weil sie viel zu sehr damit beschäftigt sind, wie sie auf das Gegenüber wirken, setzen die Körper Intensitäten frei, die an früheren klanglichen Prophezeiungen ansetzen, eben dank der Rhythmen akustischer Nabelschnüre den imaginären Zwängen von Vorstellungen und Erwartungen die Energie abgraben. Tatsächlich findet dabei keine Einebnung der Unterschiede statt, keine hierarchische Vorgabe der Macht pervertiert die Beziehungsarbeit, sondern im Ringen mit- und umeinander entsteht ein Mobile von Machtbalancen, das nur solange funktioniert, wie jeder in der Lage ist, die Andersheit des Anderen zu akzeptieren. Selbst die Vielschichtigkeit der Rede teilt in den körperlichen Reibungsintensitäten wesentliche Nuancen mit dem hormonellen Geschehen, weil in ihr die materiellen Zugänge zur Welt, also die konkreten Dinghaftigkeiten, die wir als Körper mit der Welt teilen, über den Motor des Begehrens mit den konventionellen Setzungen verschmelzen. Danach ist nichts mehr, wie es einmal als plattes Klischee war. Während einer Zeitlosigkeit, in der Spannung in Glückseligkeit umschlägt, in der wir uns in einer wohlig warmen Einheit mit der Welt befinden, entdeckten wir jene paradiesische Namenssprache wieder, in der es keinen Zweifel gibt, in der noch keine Lüge und Verstellung vorgesehen ist. Namen werden von einem umfassenden Ja getragen, wir bemerken erst im Nachhinein jenes sanfte Lächeln des oh-wie-ist-das-schön.

Die mathesis universalis und die lineare Zeitkonzeption situieren das Gehirn in einem Kanister – als haben wir an der Welt nur durch Bilder teil, die an die Wände einer solipsistischen Zelle projiziert werden. Die Universalisierung der Naturbeherrschung verknüpfte den Willen zum Wissen mit der Zwangsneurose eines Willens zur Macht. Aber erst wenn von der Wirklichkeit des Leibes, von den körperlichen Vergegenwärtigungen abgesehen wird, kommt es zu jenem Krampf, nach der Wissen Macht zu sein hat. Die Wirklichkeit kausaler Verhältnisse klammert alles aus, was nicht nach dem Vorbild eines Mechanismus funktioniert; sie beliefert Zwangsneurotiker mit Sicherheiten, solange diese nicht über die Tatsache stolpern, dass ein rücksichtslos erstellter und nach mathematischen Vorgaben definierter Ausschnitt aus der erfahrbaren Welt niemals für die gesamte Wirklichkeit spricht. Gegen diese Voraussetzung der neuzeitlichen Wissenschaften liefert die erotische Liebe Fundamente aller Formen der Verständigung – sie ist die umfassendste Form, weil sie den ganzen Menschen betrifft und nicht nur irgendwelche Rollenkonzepte: Die Lust ist die einzige Sprache, die beide Geschlechter unmittelbar verstehen. Damit ist der Ansatz zu verabschieden, wir seien in Tanks schwimmende Gehirne, die aufgrund einer prästabilierten Harmonie durch einen mehr oder weniger gnädigen Schöpfer oder die selbsterfüllenden Prophezeiungen systemtheoretischer Konstruktionen immerhin die Illusion durchhalten, eine Kommunikation sei möglich. Nein, die Kommunikation beginnt an den Fingerspitzen, sie ist gegenwärtig in jeder Greifbewegung, in jedem Ergehen der Erfahrung, in jeder sensomotorischen Zuwendung zu einer Umwelt und einem Gegenüber. Das Leben ist ein Experiment – jedes einzelne, wenn nur der Mut, sich auf das Wagnis einzulassen, zur Verfügung steht. Unser Nervensystem und Gehirn ist vor allen Dingen erst einmal Weltbestandteil und dann Produkt einer kulturellen Evolution; jede Bestimmung resultiert aus Formen der Verknüpfung von Sinnesdaten, der Synthese von Zeichensystemen zu Ereignissen. Psychedelische Sinneswahrnehmungen erweisen, dass wir längst nicht so weit von der Materialität der Welt – die mit den Kenntnissen der Menschheitsgeschichte endlich zu einer befriedeten und bewohnbaren Welt werden sollte – weg sind, wie dies die Institutionen des Wissens gerne hätten. Vielleicht hat die Erfahrung des Jeder-frisst-jeden als Gesetz der Evolution nahezulegen, der Sozialdarwinismus sei das Non-plus-Ultra, die daran anknüpfenden Seminardarwinismen gerechtfertigt – dabei ist bereits unsere biologische Existenz dadurch definiert, dass durch die Schaffung einer kulturellen Zone durch Zeichensysteme und Wissensarchive die Ausgeliefertheit einer nackten Existenz gepuffert wurde, womit die Gesetzmäßigkeiten der Evolution auszuschalten waren. Unsere Erfahrungen zeigen, welche anderen, durch Selbstdistanz und Gelassenheit entstehende Vorgehensweisen durchaus erfolgsorientiert sind. Solange es noch ging, die intriganten Interventionen einfach wegzuwischen, überließen wir uns einem interessierten Explorationsverhalten, verschwendeten alles an vorhandenen Werten, übten uns am Verschenken unserer Zeit – es gab ja noch so viel davon. Wir hatten dadurch Teil an einer archaischen Form des Sozialverhaltens, indem wir ohne Gegenleistung Aufmerksamkeit und Zuwendung verteilten, die Gegenseite also in Schuld verstrickten. Wir erreichten mit dieser sorglosen Form, über uns hinaus zu gehen sogar, manche Delegierte der Intriganten derart zu irritieren, dass sie die Flucht ergriffen. Mimetische Theorien sehen das menschliche Verhalten durch die Voraussetzung geprägt, einen Sinn in der Welt zu erwarten – eine Erwartung, die Anähnelungen produziert, damit wie nebenbei eine Sinn-Umwelt schafft, die sich als Kultur verselbständigt und wiederum positive Verstärkungen der Erwartungshaltung bewirkt. Wenn magisch-mimetische Relationen, die durch Spiegelneuronen in allen Handlungsvollzügen verwurzelt sind, verleugnet werden, weil Erziehung und Verschulung behaupten, das Ich stehe den Objekten einer Welt fremd gegenüber, wird das Vertrauen auf die körperliche Präsenz, das Kommenlassen der Intensitäten des Hier und Jetzt, genau jener Ansatz sein, den der Imperativ der Ausbremsung und Stillstellung außer Kraft setzen soll. Schon der Relationsmetaphysiker Whitehead unterstreicht, wie sehr der Körper als Ganzheit das lebendige Organ der Erfahrung sei, womit die reale Struktur der Erkenntnis wahrgenommener Objekte einem schöpferischen Selbstgenuss entspringe und die Abgrenzungen zwischen Subjekt und Objekt beseitige. Die Erfahrung von Beseelungen und Übertragungsphänomenen ist mit Machos Kennzeichnung des zeremoniellen Tiers eine der Funktionen und Relationen, die nicht zu Besitztümern und Substanzen verdinglicht worden sind, sondern als Wechselwirkungen, als kontagiöse Prozesse der Überschreitung und Anverwandlung erfahren werden.

Für die konventionelle Welt hat schon die Liebe als Experiment gewaltige Folgen – berühmte Theaterstücke oder Romane zeigen, welchen Hass und Neid, welche Zerstörungswut in den gesellschaftlichen Hackordnungen nur die Versuchsanordnung auslöst. Doch wenn ich von der Gewissheit des ‚Gut-dass-es-dich-gibt‘ getragen werde, sind auf einmal die meisten Begegnungen unwichtig, die mich verletzen könnten. Wenn ich mich vorbehaltlos in die Aufgabe investiere, für dieses Du ein angemessenes Leben zu erkämpfen, stehen mir ganz andere Kräfte zur Verfügung, als wenn ich nur an mich denke. Ich muss nicht mehr in Extremsituationen über meinen Schatten springen, sondern bin schneller als der Schatten, im rechten Augenblick nicht mehr an den linearen Zeitablauf gebunden. Ein erster Ansatz, die Vereinigungsmenge von Wahrheit und Liebe in der Beziehungsarbeit zustande zu bringen, findet sich im ‚philosophischen Sperrmüll‘. In den folgenden Jahrzehnten haben wir uns dieser Sisyphusarbeit, die mit Camus als stinnstiftend zu kennzeichnen ist, immer wieder neu gewidmet. Wenn es damals hieß, in der Erfahrung der Liebe seien die Modi der Entgrenzung gegeben und in der Mühe um eine lebenswerte Gegenwart stecke unsere ganze Wahrheit verborgen, waren die beiden Brennpunkte genannt, um die viele späteren Einsichten kreisen. Es musste uns einfach wie­der klar werden, was wir als Kinder einmal gewusst haben: Bei vielen gemeinsamen Tätigkeiten geht es nur nebenbei um den Austausch von Information, sondern vor allem um den Kontakt, die Aufmerksamkeit füreinander, die Kultivierung der Präsenz. Wenn sich das Verhältnis der Geschlechter auf den puren Sex reduzieren ließe, käme die Menschheit ohne Machtspiele und Unterdrückung, ohne Hierarchieprobleme und Kriegsszenarien aus. Doch dazu müssten die Heranwachsenden im rechten Alter lernen, nicht durch schlechte Beispiele und verführerische Bildwelten in die Irrwege der konfliktuellen Mimetik abzubiegen. In der Folge lieferte der Sex als l’art pour l’art wie nebenbei den Zugang zu einer viel umfassenderen Form von Kommunikation, dank der wir in einer Gegenwart landen, die mit Whitehead die gesamten Verknüpfungen der Zeit bereitstellt, für Momente also eine Ewigkeit. Für Kierkegaard berührten Zeit und Ewigkeit einander in jedem erfüllten Augenblick – allerdings ist im auf ihn folgenden Jahrhundert die Illusion einer erfüllten Zeit unter der massenhaften Produktion von Lebenssinnersatz zerplatzt. Alle noch nicht industriell verwerteten Zugänge zum Heiligen finden heute in den Lebenskünsten des Geheimen statt, sind mehr oder weniger zufällige Funde, die von keiner Tradition weiter gegeben werden, weil alles, was in der multimedialen Reproduktion abgenudelt wird, zugleich entwertet ist. Kostbare Entdeckungen gehen mit der Geschichte der Finder wieder verloren, was sie vielleicht sogar für künftige Generationen rettet. Gegen diese kulturelle Entwicklung befördern hormonell unterfütterte Abstraktionsversuche die Wahrnehmung eines kategorialen Nichtbegriffs in unserem Leben. Was einmal unter der Kategorie der Substanz verstanden wurde, hat sich als zufällige Schwerkraft erweisen, die die Prozesse vorgibt, die wir gewohnt sind, als Lebendigkeit zu empfinden. Jenseits aller narzisstischen Selbstermächtigungsversuche haben wir uns an die/den Geliebte/n zu verlieren, um erst dann zu Wahrheiten des Selbst zu finden. Der immer vom Selbsthass angetriebene Eigendünkel wird über den Umweg der/des Anderen von sich selbst erlöst, wenn vollendete Intensitäten das Herrschaftsbedürfnis löschen. Völlig erledigt, in einem Status des harmonischen Verklingens, lassen wir wie selbstverständlich Geschichten gewähren; mit der Zeit macht diese Erfahrung des Nichts subliminale Gesetzmäßigkeiten offenbar, bis sie in Erfahrung verwandelt an uns teilhaben. Diese Pflege des Wahren und Schönen könnte eine andere Bildungsfunktion freisetzen, die eine Form des Guten jenseits von Rivalität, Geilheitsdressur und Ersatzbefriedigung ermöglicht. Jenseits des durch das Christentum vorgegebenen Triebverzichts und jener Kompensationsfunktion der bürgerlichen Künste, die die Entfremdung noch tiefer einschrieb, indem sie versprach, ihre Überwindung innerhalb einer gesellschaftlichen Nische konsumierbar zu machen. Das Wahre, das Schöne, das Gute treten dann nicht in der Innerlichkeit des selbstdisziplinierten Subjekts zu einer Einheit zusammen – was den Wahnsinn einer psychischen Bombenstruktur erklärt –, sondern das Wahre, das Schöne, das Gute sind in der körperlichen Vereinigung erfahrbar, während Grenzen überschritten werden. Aus der Perspektive jener explosiven Psyche darf es die wahre Schöne genauso wenig geben wie das kluge Schöne – sonst wäre ein Zerspringen zu befürchten. Diese sprachlichen Spielereien mögen Metaphern für einen weltgeschichtlichen Sprung in der Schüssel sein, in der die Wahrnehmungs- und Wissensweisen männlichen und weiblichen Erfahrens auseinanderdrifteten – die Vertreter/innen einer pseudoalternativen Emanzipation der Geschlechter plädieren dann für das asexuelle Verhältnis einer klugen Frau an der Seite eines begabten Mannes. Mit dem Ergebnis: Schön ist die Lüge und wahr ist der Tod! Das Schöne und das Wahre werden hier zu Gegensätzen nach der Vorgabe Feminin versus Maskulin, als müsste sich erst noch erweisen, warum es tatsächlich nur Mischungsverhältnisse gibt. Unter solchen Vorzeichen der Verleugnung ist die machtgierige Frau, die sich für die Wahrheit zu ereifern scheint, nicht weniger paradox, wie der effeminierte Mann, der in klassizistischer Manier als Simulant des Wohlwollens posiert. Beide versuchen sich an einer scheinhaften, auf dem Opfer der realen Befriedigung basierenden Versöhnung: Sie inszenieren die in Schönheit gekleidete Wahrheit, weil sie ihren Vollzug verpasst haben.  

Dem früheren, noch unentschiedenen Entwicklungsstatus entspricht eine Verliebtheit, die der familialen Homöostase des Elends gehorcht. Erst die durch Identifikationen bewirkte Eingeschlossenheit in eine imaginäre Welt, die Lebenslüge und Verzicht zu kaschieren hat, bringt jene Besessenheiten durch Bilder des eigenen Begehrens hervor. Das als Verliebtheit codierte Begehren, geliebt zu werden, beinhaltet den narzisstischen Machtanspruch, das Objekt des Begehrens habe die Zufälligkeit meiner Existenz als Einschränkung seiner Möglichkeiten zu akzeptieren. Doch das Ich, das sich auf den Schwingen der Hormone in einer Position der Absolutheit situieren möchte, ist tatsächlich nur ein erbärmlicher Statthalter der Gesetzmäßigkeiten einer Sozialisation, die es der Selbsthaltung des Familiensystems unterwirft. Weil unter diesen Vorgaben keine erfüllende Erotik zu erwarten ist, ersetzt der Sexualneid mehr oder weniger schnell den erfüllenden Sex. Dieser Substitution ist die Behauptung zu verdanken, sogenannte Sexsüchtige versuchten die innere Leere zu übertönen – eine Argumentation, die bis auf Pascal zurück geht, der notierte, dass alles Unglück der inneren Leere der Abwesenheit Gottes zu verdanken sei: Gott erfülle die Zeit. Wer ihm diesen Raum nicht einräume, versuche die empfundene Hohlheit durch Hektik und Betriebsamkeit zu übertönen, durch Zerstreuung zu vergessen. Dabei dient in Zeiten, in denen das Geld zum Gott der westlichen Welt geworden ist, der Zwang, andere Menschen zum Masturbieren zu verwenden, viel eher den Versuchen, die Affenhorde des inneren Monologs zum Schweigen zu bringen. Jene Argumentation ist auf dem Mist des Triebverzichts gewachsen und zeugt vor allem vom Mangel an geschlechtlicher Erfahrung. Was für einen Pascal der Abgrund der Verworfenheit war, wird für den Adepten östlicher Weisheiten zum Gipfel der Erleuchtung – im Westen hat der Kapitalismus als Religion dagegen als therapeutische Nische den von Bohrer auf den Nenner gebrachten ‚Poetischen Nihilismus‘ geprägt. Unter dem Druck von staatlichen Institutionen und gesellschaftlicher Entwicklung hatte eine ästhetische Wissenschaft der Zeiterfahrung  keine Chance, woraus die radikale Verneinung jeglicher Standards der raumzeitlichen Orientierung zugunsten ästhetischer Stimmungen resultierte. Anstelle einer kontemplativen Konzentration auf reine Gegenwärtigkeit entstehen Klagen über ihr Verpassen; Gegenwart sei immer erst im Nachhinein, in ihrer Abwesenheit zu erfassen, weiche ansonsten aber der Simulation. Doch gerade die entgegengesetzte Geistesbewegung, die Kultivierung der inneren Leere und des Verlusts der gewohnten Vorstellungsrepräsentanz kann in ein Tun um des Tuns willen münden, in eine Erfahrung um der Erfahrung willen. Wer völlig in einer Tätigkeit aufgeht, selbstvergessen mit den Routinen verschmilzt, die der Materialität eines Gegenstands gehorchen, den Gesetzmäßigkeiten einer Situation entsprechen, folgt vor allem den vorindividuellen Impulsen der Mimesis. Gruppenbindende Erfahrungen verweisen das Ich auf die Zuschauerbank, sportlicher oder kriegerischer Ehrgeiz mag zu einer infinitesimalen Annäherung an die Unmittelbarkeit der Präsenz taugen, während die Übung am Sex pur mit den nötigen Routinen noch ein wenig näher an die Punktualität des Jetzt herankommt. Unter der richtigen Voraussetzung verabschiedet ein Bewusstwerden der notwendigen inneren Leere das Subjekt von allem Tun-als-ob, von allen besessenen Zielvorstellungen, verwandelt also den Zwang einer dauernden Beschleunigung in Richtung Zukunft zurück in einen konvulsiven Zeitpunkt von Präsenz. Im Gegensatz zu diesem Eintauchen in den Augenblick potenzieren alle Arten Süchtige die Abwesenheitsdressur, um die Angst vor dem anderen Geschlecht, die Angst vor dem Tag, im Endeffekt die galoppierende Angst vor der Angst zu bewältigen – doch jede Angstbewältigung bestätigt hinterrücks immer die Angst. Dieser metaphysische Zwang ist vor allem ein Resultat von Körperverleugnung und Askese, verdankt sich dem Tabu auf dem Geschlecht, also der Unfähigkeit, göttliche Energien zu inkarnieren und damit zu verwirklichen. Alle ideologischen Überbauten modellieren die Menschen, wie Onfray plausibel und für tout le monde zusammenfasste, mit dem Zugriff auf körperliche Bedürfnisse, damit sie sich ihrer eigenen Kräfte entledigen. Die mit Familie, Schule und Kirche verbundenen Ideale des Wissens, der Religion und der Moral haben die Körper gefügig gemacht: Je mehr man Menschen entsexualisiert, desto besser funktionieren sie – sie haben mit zusammengebissenen Zähnen zu besitzen, zu akkumulieren, zu konsumieren, während sie eigentlich lieben, genießen und jubeln sollten. Die Reduzierung der Sinnlichkeit auf eine gesellschaftlichen Imperativen unterworfene Genitalität diente der Abwesenheitsdressur, die die Monogamie in eine Qual von Einfallslosigkeiten verwandelte, die Treue zum Sprungbrett zwanghafter Seitensprünge machte und tatsächlich nur eines garantierte: Die staatliche Erpressung dauernder Zeugungen. Vom schwachsinnigen Imperativ der Fortpflanzung profitieren Großinstitutionen und Diktatoren, während Paare die Erfahrung machen, dass die Gelegenheiten gemeinsamer körperlicher Erfahrungen mit jedem Kind minimierter werden – es gibt genug Elend auf der Welt, das durch die Nachproduktion von Kanonenfutter und Kirchgängern nicht zu rechtfertigen ist. Dem stehen vereinzelte erotische Erfahrungsformen gegenüber, die nicht nur das Leben adeln, sondern Gemeinsamkeiten befördern. Jenseits des Abbaus von Spannungen, der Förderung von Gesundheit und Lebendigkeit, dem Erleben der eigenen Geschlechtlichkeit, die schon allein für sich sprechen, gibt es den zweisamen Weg der Teilhabe an einer Macht der Schönheit, einer erotischen Reinigung des Spirituellen. Wir haben die Chance, diesen Zugang des gegenseitigen Erkennens für eine qualitativ höhere Sphäre der Kommunikation zu erobern, die alles Geschwätz, alle eitlen Selbstdarstellungen oder konfliktuellen Vergleiche überflüssig macht. In diesem Zusammenhang ist Max Benses wissenschaftstheoretisches Postulat: ‚Warum man Atheist sein muss‘, für die Beziehungsarbeit zu reaktualisieren und zu totalisieren. Religionen blockieren diesen Weg, weil ihre Rechtfertigung als Institution in einer perversen Verkehrung gerade von Ersatzbefriedigung und Fetischismus abhängt – sie brauchen die Schuld, bringen das schlechte Gewissen systematisch hervor, um ihren Herrschaftsanspruch durchzusetzen. Nach Foucault übt die Macht, die niemand wirklich besitzt, die gerade von den kleinsten biographischen Momenten organisiert wird, ihre Zugriffe auf die Lebenswirklichkeit der Körper über die Sexualität aus. Von der Beichte zur psychoanalytischen Sitzung sublimieren Geständnistechniken, die der Form religiöser Abstraktionen einer Sünde des Fleisches folgen, sexuelle Energien in gesellschaftliche Anpassungsleistungen und politische Konformismen. Die aufgedeckten Zugriffsformen dieser Macht machen deutlich, warum die Sexualität eine funktionelle Grundlage jeder institutionalisierten Gewalt ist. In der Sünde des Fleisches kehrt, wenn gewisse Einsichten eines Pascal gegen den Strich gebürstet werden, ein inverser Gott der Liebe wieder. Die Kirche als abstrakt wuchernde Perversion körperlicher Verzichtleistungen gibt eine aus Sexualneid und Herrschsucht geflochtene Schematik für spätere Institutionen vor. Das Diktum der Sünde irrealisiert eine im Verhältnis des reziproken Begehrens der Geschlechter begründete Gerechtigkeit, rechtfertigt die historisch entstandene, überformende und vergewaltigende Machtausübung. Menschliche Sexualität ist jene grundlegende Funktion, die wie selbstverständlich in den Jahrhunderten den Angelpunkt religiös legitimierter Machtmechanismen bedienen konnte, weil diese ursprünglich erst aus ihr hervorgegangen sind – der Tausch von Fleisch gegen Sex oder die Tempelprostitution sind frühe Stadien der Differenzierung. Nur aus dem Grund war es für uns möglich, mittels regelmäßiger körperlicher Übungen, die sich selber trugen und keinen Vergleich nötig hatten, wie nebenbei dafür zu sorgen, institutionelle Besitzansprüche auflaufen zu lassen. Die Krüppelzüchter wollten, dass wir uns mit ihnen beschäftigten, uns mit ihnen relativierten – wir wussten Schöneres, widmeten uns körperlichen Intensitäten, die keine Götter neben sich duldeten. Wir hatten überhaupt keinen Grund, die der Frustration gehorchenden Todeswünsche und Vernichtungsdirektiven zur Kenntnis zu nehmen, die meisten bemerkten wir nicht einmal; unbesehen wurde die Annahme verweigert, also gingen sie wieder an die Absender zurück. Viele der infamen Strategien, üblen Nachreden und ausgekochten Schweinereien wurden traten erst Jahre später ins Bewusstsein, als wir liegengebliebene Zeitdokumente nachträglich in stimmigen Text verwandelten. Jeder Durchgang legte mehr Fäden frei, deren Verknüpfung ein absurdes, von Bildungsbeamten ausgeklügeltes Wahnsystem greifbar machte.

In den Kleinkriegen institutioneller Abhängigkeiten haben wir für jede minimale Chance hart und selbstverleugnend zu arbeiten, ohne trotz aller Mühe und den besten Voraussetzungen einen Ruhe spendenden oder Kraft gebenden Erfolg zu sehen – wir unterstehen einem fremden Zweck, sind nur ein Material, das abgenutzt zu werden hat. Gegenüber dieser sinnlosen Erfahrung von Welt verwandelt die erotische Einswerdung sich in eine Überfülle an Sinn, die Augenblicke momentaner Unendlichkeiten aber zur Rechtfertigung all der Mühen. Wirkliche Lustpolitik stellt die innere Leere willentlich her, arbeitet an der Löschung eines Wustes an Vorstellungen, brennt die imaginären Ängste in einem sich verschwendenden Feuerwerk ab. Erst die Reibungen und Widerstände, mit denen uns der/die Andere auf den Leib rückt, mit denen die Sehnsüchte einer imaginären Einheit auf einmal als Belästigung oder Bedrohung erscheinen, machen den Schritt zur authentischen Erfahrung der Liebe möglich. Doch weil wir Menschen träge sind, immer wieder auf ursprüngliche Prägungsmuster regredieren, wird diese Erfahrung durch einen dauernden Kampf geprägt, den nur ebenbürtige Partner aushalten. Was dem weiblichen Teil der Menschheit seit Jahrtausenden angetan wird, ist entsetzlich – schon deshalb müssen wir uns vor Negationen hüten, die bis in die aktuellen Emanzipationsanstrengungen Vernichtungszwänge transportieren. Im Ringen zwischen physischer Gewalt und psychischer Manipulation wirken hinterhältige Tricks eines Systems von Behinderungen nach, die die besten Vorsätzen aushebeln: Oft dienen ihnen die damit verknüpften Enttäuschungen als besonders fiese Einfallpforten.

Mit Ortega y Gassets Abhandlung ‚Über die Liebe‘ ist an die biomagnetische Resonanz der Schönheit zu erinnern. Gegen die Reduktion ihrer Wirkungsmacht auf die Projektionen des Subjekts – Schönheit liege nur im Auge des Betrachters – und den wahnhaften Zuständen der Verliebtheit, die eine der Komplexitätsreduktion verdankte Besessenheit sind, widmete er sich der Spekulation, nach der die Liebe eine Gewalt der Kosmologie ist, eine Kraft der Optimierung und Veredelung innerhalb der Gattungsgeschichte. Mittlerweile hat die Paläoanthropologie erwiesen, wie der Geschlechtsverkehr seit jener Zeit, als die hormonell bedingte Brunst ausfiel, für die Frau nicht einfach ein Mittel zur Fortpflanzung, sondern über die Familiarisierung der Männchen ein wesentlicher Aspekt der Kultur geworden ist. Die Vermenschlichung der animalischen Sexualität ergab sich aus Veränderungen im weiblichen Körper. Solange ihre Sexualität ein Antrieb der menschlichen Gesellschaft blieb, waren tatsächlich Frauen spirituelle Inspirationsquellen der Menschheit – später war ihnen diese Rolle nur noch als Musen oder femmes fatales gegönnt. Ein operationaler Umgang mit dem eigenen Geschlecht, die damit möglich gewordenen Abstände von Zwang und Notwendigkeit, das Spiel der Schönheit mit Reiz und Verführung, lieferten einige der Ursprünge des menschlichen Bewusstseins. Was immerhin die verdrängten Ursprünge der Misogynie erklärt; weibliche Magie wird noch heute von Krüppelzüchtern oder verstümmelten Machtbesessenen als derartige Bedrohung erfahren. Wir mögen uns noch so bemühen, solange es nicht gelingt, über uns hinauszugehen, um uns in der Vereinigung zu gewinnen, können wir die Traumen vergangener Generationen nicht an den Versuchen hindern, uns zum Scheitern zu verurteilen. Aber wir können aus den Kommunikationsdefiziten verdankten Aggressionen und Frustrationen nach und nach die notwendigen Schlussfolgerungen ziehen; aus diesem Grund ist in unseren Texten immer wieder von der Liebe als Duell die Rede. Wenn es knallt und brennt und wehtut, kommen wir den tabuisierten Wahrheiten oft sehr nahe – wir dürfen nur nicht vergessen, uns zusammenzuraufen, solange es noch geht. Die glatte Konvention der vorbereiteten Eheanbahnung minimiert von Anfang an die Bereitschaft einer Arbeit an der Beziehung; wer auf das Klischee vertraut, ein gemeinsames Leben gelinge ganz von allein, wird schnell mit den traditionellen Erwartungen alleine gelassen, mit einem Misslingen konfrontiert. Selbst nach dem günstigen Zufall einer schnellen Verliebtheit stoßen tatsächlich zwei biographische Weltsysteme aufeinander, in denen auf den meisten Erwartungsfeldern ganz verschiedene Prämissen gelten, die in mindestens drei zurückliegenden Generationen geprägt worden sind. Solange dieses Duell sexuell überformt wird, liefert uns die geduldige und regelmäßige Übung die Gelegenheiten, einen Wust an Negationen und Verwünschungen in lustvolle Entladungen erotischer Gewitter umzuleiten – vor allem guter Sex macht glücklich, alles Weitere sind, wenn es weiter geht, sublimierte Folgeerscheinungen. Wie nebenbei bewahrte uns eine variantenreiche Verfeinerung des actus purus vor der letzten Gefahr eines Überdrusses am immergleichen Partner. Für die allgemeine Befriedung eines Verhältnisses der Geschlechter, damit für eine Befreiung beider Geschlechter von den Hypotheken der Vergangenheit, bedürfte es tatsächlich eines fundamentalen Umbaus aller Gesetzmäßigkeiten, aus denen Institutionen entstehen.

Wir brauchen ein energetisches Geschehen, das die Liebe wach und aufmerksam erhält, weil sie das Kraftwerk des Selbst befeuert, das Bewusstsein erweitert, die Aufmerksamkeit füreinander freisetzt und damit die energetische Kapazität ankurbelt. Entscheidend ist eine Beziehung zwischen Gleichen, die sich nicht gleichen, ein symbolischer Tausch, der die Reibungsenergien freisetzt und für ein energetisches Spektakel sorgt, demgegenüber einem Narziss die Luft ausgeht. Ab einer gewissen Spannung springen die Funken über; mit der nötigen Übung wird eine Ranghöhe erreicht, die Geistesblitze freisetzt. Im besten Fall sind wir zu selbsterfüllenden Prophezeiungen in der Lage, mit deren Hilfe die biographischen Verwicklungen in Aufgaben münden, die fast von allein zu einer Lösung finden. Es ist eben nicht nur die Verzweiflung oder die extreme Ausgeliefertheit, die zum Wirkungsgeschehen Schneller Brüter führen: Ein die körpereigenen Drogen befördernde Spiel mit den Partialobjekten kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Eben weil der Tod der Spieleinsatz des symbolischen Tauschs ist, kann der Sex, wenn es darauf ankommt, als l’art pour l’art und kleiner Tod die Duellbeziehung außer Kraft setzen. Die Liebe, wenn sie zündet, ist das umfassendste Kommunikationsgeschehen, das wir uns vorstellen können – alles andere ist nur Überleitung, Ersatz oder Verzicht. Die Liebe wird zu einem sozialem und gesellschaftlichen Körperkunstwerk, einem Vermittlungsgeschehen erster Ordnung – noch dazu ist sie ein Generator, der ein wenig mehr Qualitäten der Kraft und der Güte in die Welt zu bringen in der Lage ist. Es ist die durch körperliche Erfahrungsweisen vorgenommene Beweisfigur, dass wir uns nur über den Umweg des anderen in unserer Lebendigkeit gewinnen, dass die wirkenden Gesetzmäßigkeiten über den individuellen Versuchen anzusiedeln sind, eine haltbare Ordnung herzustellen. Das biographische Zentrum wird erst dort echt, wo der Ich sich hingibt, sich auf ein Geschehen einlässt, während dem das Hier und Jetzt zum maßgebenden Medium wird. Das erklärt wie nebenbei, warum die Simulanten der Selbstheit eine derartige Wut des Vergleichs und der Rivalität nötig haben, um doch an Intensitäten teil zu haben – zwar dann an schlechten, an solchen der Qual und der Bosheit, aber das ist immer noch besser, als im ausbruchssicheren Gefängnis der Selbstdarstellung zu verkümmern.

 

Seit Freud zeigen verschiedenste Untersuchungen, auf welche Weise die Familie als Keimzelle des Staates die individuellen Lernschritte im Sinne der gesellschaftlichen Vorgaben einschränkt und kanalisiert. Die Techniken einer psychischen Veränderung durch veränderte Bewusstseinszustände konkurrieren mit dieser Normierung, wenn sie die gewohnt gewordenen Wahrnehmungs- und Zuordnungsweisen verweigern, modifizieren oder annihilieren. Fraglich wurde vor allem die unhinterfragte Vorgabe einer Wirklichkeit, die die familiale Homöostase prägte und die dank ihr reproduziert wird. Der Bruch mit den vorödipalen Erfahrungsformen erweist sich als wichtigste Schaltstelle, die mnemotechnologischen Grundlagen der Ohnmacht verdanken wir dem Mutterbezug. Der darauf aufbauende, nach dem Vorbild des Vaters entworfene Modus vivendi und die einhergehenden Versagungen, Verleugnungen und Kompromissbildungen mögen nicht weniger zum tragbaren Gefängnis des Ichs taugen – aber es ist sinnlos, sich an ihnen abzuarbeiten, solange die Machtmechanismen der psychotischen Entdifferenzierung nicht ausgehebelt wurden. Jede große Liebe steht in einer absoluten Konkurrenz zu jener primordialen Strukturierung, durch die das Selbst ein Teil der Mutter und diese Einheit der Vorhof des Purgatoriums ist. Wir hatten nicht das Glück, Produkte einer ‚good enough mother‘ zu sein, die ihr Baby in die Lage versetzt, selbst mit dem Denken anzufangen, um schließlich durch die Verinnerlichung eines 'denkenden Objekts' autonom zu werden. Sondern unsere Erfahrung resultierte aus ihrem Besitzanspruch – an eben dieser Schaltstelle hatten wir die Anschlüsse zu kappen, mit dem sich Institutionen in unbarmherzige Übermütter verwandeln. Wir waren ein unter Schmerzen und Ängsten entstandenes Erzeugnis dieser Mütter, also ihr Eigentum: Eine Prothese, mit der sie dachten, sich das Leben auf Kosten unserer Lebendigkeit und Leidensfähigkeit erträglicher zu gestalten. Schon deshalb fürchteten sie von Anfang an die Möglichkeit einer/s Konkurrentin/en, arbeiteten schon vor der Zeit mit aller Kraft an der Diffamierung und Verwünschung – aber aus eben diesem Grund waren wir später hellhörig, allergisch gegen die Vereinnahmung durch religiöse, politische oder wissenschaftliche Systeme. Alle fehlerhafte Identifikation programmiert die Unfähigkeit, sich für Anderes oder den/die Andere/n zu öffnen, sie behindert echte Lebensfreude, macht zu eigenem Denken und Empfinden unfähig, von der Offenheit für eine nichtinstrumentalisierte Liebe ganz zu schweigen. Während einer Probezeit von siebzehn Jahren wurden die Sozialisationsagenten verschiedener Institutionen zu den späten aber wichtigsten Verbündeten dieser Mütter einer Liebe als Duell und damit zu erbitterten Feinden unserer Beziehungsarbeit. Wir verdanken ihnen im Resultat alles, was wir zustande gebracht haben – die in der selbstvergessenen Verliebtheit sistierte Liebe wäre spätestens am Schmerz der Ernüchterung durch die Prosa des Alltags eingegangen, während ihr die dauernde Infragestellung jene Dauer sicherte, die nach und nach für ein stabiles Repertoire gegenseitigen Vertrauens sorgte. Die Besitzansprüche dieser Mütter und der ihnen folgenden gesellschaftlichen Mächte wurde stimmig durch körperliche Vollzüge als nichtig erwiesen; weil es rund lief und flutschte, blieben wir nicht an der Frage nach dem Sinn des ganzen Unternehmens hängen. Der Imperativ des Folge-mir-nach war ohne Mühe einfach zu übergehen; den Identifikationsleistungen von Krüppelzüchtern mochte bereits diese Ignoranz wehtun,  die Rechtfertigung ihres Konformismus bekam Risse. So geschah es, dass die aus der Wut über eine mangelnde Resonanz resultierenden Verwünschungen, die ausgeheckten Intrigen, von eben diesem Mangel an Resonanz, durch die Rückspiegelung ihrer bösen Negationen erledigt wurden: Annahme verweigert, zurück an die Absender.

In den Nachwirkungen der Gewalten des frühen Mutterbezugs sind Reminiszenzen an archaische Erdzeitalter lesbar. Saner liefert plausible Schlüsse zur Unterstreichung der Vermutung, der Mythos von der todesbezwingenden Kraft von Liebe und Musik sei älter als der männerrechtliche Systemwechsel der Kultur, den der Orpheus-Mythos dokumentiert. Dieser hat Anregungen einer altsumerischen Sinnstiftung aufgenommen, die auf einem Wettstreit der göttlichen Schwestern Liebe und Tod beruht, aber durch die Macht der Musik ihres jüngeren Bruders und Jugendgeliebten Frühling für die Liebe entschieden wird. Die Totengöttin kann den Liedern voller Sehnsucht und Schmerz, den sprießenden Säften und schießenden Trieben Frühlings nicht wiederstehen. Entscheidend an dieser Konstellation eines Wiedergeburtsmythos ist das Geschehen zwischen weiblichen Mächten – ohne die Verschwisterung von Liebe und Tod gäbe es keine Erneuerung im Reich des Seienden. Die schamanistische Reise in die Unterwelt gestaltet eine Wiederkehr aus dem Reich der Toten durch die Macht der von der Liebe durchdrungenen Musik. Im Ischtar-Mythos verstummt die Gewalt der Kämpfe zwischen Liebe und Tod; er endet heiter, ohne alle Tragik, weil der Liebe weiblicher Göttinnen männliche Säfte assistieren. Die Töne einer durch die Liebe beseelten Stimme gehen mehr zu Herzen als bloße Worte, besänftigen selbst den Zorn einer Todesgöttin, deren Jugendgeliebter Frühling ebenfalls war. Die einen Menschen ergreifende Musik übersteigt wie die Schönheit die Kraft der Worte, stiftet eine Welt jenseits der Antagonismen und Zwiste. Dagegen modifizieren die klassischen Versionen des Orpheus-Mythos das Ergebnis durch den unaufhebbaren Antagonismus von Liebe und Tod, nichts weist mehr auf ihre Verschwisterung hin. Musik oder Kunst werden umso ergreifender, umso mehr sie sich der vergeblichen Liebe, der Trennung und Abwesenheit der Geliebten widmen, geraten zum wehmütigen oder schwülstigen Surrogat des realen Vollzugs. Bohrer hat die ‚ästhetische Negativität‘ als Ausweichbewegung gekennzeichnet, die eine aus verpassten Vereinigungen der Liebenden resultierende Melancholie in ästhetisches Pathos und die Wollust des dargestellten Schmerzes transformiert. Mit dem Erhebungsmotiv der abendländischen Lyrik werden Geliebte umso begehrenswerter, umso immateriell unerreichbar sie sind; mit der romantischen Liebe hat sich der Liebeswunsch im schmachtenden Begehren derart zu verzehren, dass jede Erfüllung nur mit Enttäuschungen aufwarten kann, ihr aus diesen Grund regelgerecht ausgewichen wird. Und die Regel ist uralt: Orpheus wird im noch jungen Patriarchat bereits durch die Versuchung, den Logos zu transzendieren, zu den Verzichtleistungen der kulturschwulen Vereinigung geführt, die schließlich mit der Vernichtung des Heros endet. Die Rettung Eurydikes misslingt, und Orpheus‘ Versuch, unter Verzicht auf die weibliche Welt mit Jünglingen ein der sublimierten Kunst Apollons gewidmetes Leben zu gestalten, nimmt ein tragisches Ende durch orgiastische Frauen, den Dionysos begleitende, rasende Mänaden. In diesem gedoppelten Scheitern könnte eine Bedienungsanleitung aufgeschlüsselt werden, wie die Spätfolgen eines Kampfes der Geschlechter zu bearbeiten sind. Vorerst ist hier nur zu unterstreichen, warum dem Sänger der apollinischen Musik ein dionysisches Schicksal bereitet wird. Der Vater aller Gesänge hatte ein verfeindetes Doppelreich von apollinischen und dionysischen Energien harmonisch zu organisieren – maximale Gegensätze in einer Harmonie zu vereinen, macht tatsächlich den Reiz und die Kraft großer Kunst aus. Was unauflösbar in Gegensatz und Streit verflochten bleibt, wird sich allerdings unbarmherzig gegen jeden Orpheus wenden, der sich für nur eine der beiden Seiten entscheidet.

Dieses verfeindete Doppelreich taucht als tragische Kleinkunst mit den verschiedensten Verkleidungen in der bürgerlichen Familie wieder auf, um die Sozialisation in ein den Nachwuchs gefährdendes Blendwerk der Lebenslüge zu verwandeln. Die Präsenz der zeitlichen Erfahrung wird bereits zum Nachher der sekundären, selbst der Genuss liegt nicht mehr im aktuellen Genießen, sondern wird im Nachhinein zur bewussten Reproduktion, womit die Erinnerung nicht mehr als Bewahrerin der Präsenz fungiert, sondern diese bereits der Zensur unterstellt.  Wenn Zuwendung nicht von Abweisung unterschieden werden kann, das Gute zugleich das Schlechte ist, wird alles Erstrebenswerte zugleich höchst bedrohlich und das Geschenk des Lebens zur Eintrittskarte in eine lebensgefährliche Strafexpedition. Die Konzeption solcher grundlegender Double-binds führte Bateson zur Thematisierung der Sprünge von einem Kontext in den umfassenderen Kontext dieses Kontextes. Innerhalb eines Systems sind dessen Widersprüche nicht aufzulösen, erst die Perspektive von außerhalb macht es möglich, sich der bannenden Macht seiner Zwänge zu entwinden. Mit dieser theoretischen Ausrüstung waren die Erfahrungen der Zersplitterung von Gewissheiten und der Notwendigkeit einer Bewusstseinserweiterung bereits in ein Verhältnis setzen, während wir den Einwirkungen einer Katastrophenpädagogik ausgesetzt waren. Einigen Büchern verdankten wir Anregungen, um diese Erfahrung positiv zu kodieren und mit ihr eine Beschleunigung unseres geistigen Wachstums zu verbinden. Die Erfahrung des sozialen Todes führte folgerichtig auf die Konsequenzen eines Lernens in der Katastrophe: Konkrete Schritte wurden in der ‚Katastrophenpädagogik‘ dokumentiert. Den Kundigen springt die nahe Verwandtschaft von Katastrophe und Kairos an! Der günstige Augenblick will ergriffen werden, schon die Griechen gingen davon aus, dass im Falle des Verpassens die Katastrophe droht. Nachdem einer/m alle Sicherheit genommen wurde, gingen die über Jahre aufgebauten Selbstverständlichkeiten unter den einkesselnden Invektiven einer Intrige zu Bruch; ob ein sorgsam gepflegtes Wissensrepertoire oder die gewachsenen Routinen der Verfahrensabläufe beim Jobben, sie wurden systematisch irrealisiert. Weil sexualgestörte Bildungsbeamte unseren Lebensalltag mit Hilfe einer Meinungsmaschinerie unterminierten, die von der Flüsterpropaganda, über gehässigen Tratsch, bis zu in den Medien lancierten Irrealisierungen reicht – legten uns die mit den täglichen Routinen verbundenen kleinen Erfolge des Widerstehens nahe, die Intensitäten einer elaborierte Sexualität als Schutzschild aufzubauen. Gegen die durchsichtigen Versuche dauernder Frustrationen und Subalternisierungen erweist sich ein System von Belohnungen der Lust umso wirkungsmächtiger, umso mehr sie sich in eine Bejahung der Lebendigkeiten verwandelt, also mit den affirmativen Gesetzmäßigkeiten des Lebens eins wird. Sie mag als elementarer Ausdruck des Selbsterhaltungswillens beginnen, doch wenn gemeinsame Orgasmen in messianischer Präsenz münden, wird die Ewigkeit im erfüllten Augenblick komprimiert. Was zählt all der Schwachsinn, wenn wir am Schöpfungsmythos teilhaben, die Vertreibung aus der Zeit- und Bedürfnislosigkeit des Paradieses immer wieder für ein Nu rückgängig machen. Erst auf der Rückseite der Erfahrung eines enormen Vernichtungsimperativs wurden Annäherungen an spezifische Erfahrungen des Widerstehens möglich, deren Darstellung im Nachhinein nur durch sprachliche Superlative möglich ist. Die Zertrümmerung erlernter Kategoriensysteme und gewachsener Identifikationslinien lieferte die Voraussetzung, um magische Gesetzmäßigkeiten der Mimesis aufzuschlüsseln. Zudem waren mit Bions Erklärung, warum und wie katastrophische Veränderungen zur Normalität der Bewusstseinsentwicklung gehören, die Nachstellungen und bösartigen Einkesselungen zu einer Selbstimmunisierung umzubiegen. Mit der Konzeption der Katastrophe als Stimulans des Lernverhaltens bauten wir einen effektiven Verteidigungswall gegenüber den psychotischen Verwünschungen auf. Wie von alleine stellten die Routinen unserer Lustpolitik eine gesunde Instrumentalisierung der Paranoiadressur zur Verfügung. Ein psychotisches Risiko, das die Schritte zueinem höheren Niveau psychischer Integration begleitet, wird von kreativer Eigenarbeit entschärft, lustvolle Praktiken kehren den Opferkult um; die Botschaft jedes Orgasmus schreibt als universale Bejahung ins Körpergedächtnis ein, wie lebenswert das Leben ist. Wir gingen von einer Optimierung des Lernvermögens aus, dachten nicht einmal daran, die Waffen zu strecken oder uns aufzugeben, übten das Aufschreiben und Durcharbeiten. Die delegierte, den mimetischen Energien der Übertragung gehorchende Verzweiflung, die körperlichen Erregungen und energetischen Entladungen, der damit verbundene Stress verwandelten sich in kreative Gesten und entblößende Ausdrücke, in sprachliche Zeugungsakte und lautstarke Wettstreite von Zitatmaschinen: Was uns an bösartigen Signalen und niederträchtigen Botschaften zugespielt wurde, lieferte den Code, um spielerisch hinter das Wahnsystem zu kommen, unter ihm durch zu tauchen, über seine Mittel zu verfügen, weil es nur in Anführungsstrichen zum Zug kommen konnte. Wir gehorchten den Ansprüchen kultureller Größen, die uns auf ein bisher unerreichtes Level transportierten, weil sie uns vernichten wollten – um deren Regeln zu objektivieren. In der Schreibe wurden die Todeswünsche mortifiziert, die Machtworte dank der orgiastischen Steigerung unserer Beziehungsarbeit entkräftet, der von ihnen ausgehende Bann durch den energetischen Schutzschirm der Ekstasen gebrochen.

Der unmittelbaren Zukunft traten wir mit geschärften Sinnen und einem reflexartig funktionierenden Reaktionsvermögen entgegen, nachdem die Trägheitsmomente der Selbstdefinition, der Bedarf an Halt und Sicherheit, von der Intrige gesprengt worden waren. Sie sollte uns vernichten, zerstörte aber nur jene Teile des psychischen Apparats, in denen wir den Auftraggebern ähnlich waren. In klar definierten Funktionszusammenhängen sind holographische Wahrnehmungen und psychedelische Erfahrungen in der Regel unerträglich. Tatsächlich ist eine Psychonautik des freien Falls die Voraussetzung für Repertoireerweiterungen des Lernens auf einer kontextuell übergeordneten Ebene. Auszuhalten war eine Neuformatierung, weil die induzierten Spannungen sexuell kodiert und erotisch umgesetzt werden konnten. Zeitweilig landeten wir wieder im freudigen und sorglosen Staunen der Kindheit, unsere faktische Welt veränderte sich ständig, auf nichts war mehr Verlass, aber zugleich stürmten ständig neue, unerhörte Erfahrungen auf uns ein, die unglaublich viel Zukunft transportierten. Faktizität bedeutet vor allem die ständige Unterminierung der Besitzstände des Bewusstseins die Kontingenz. Was unsere Sozialisation durch stabile Ausbremsungen verstellt hatte, weil wir uns für allen möglichen Scheiß, für den wir nicht verantwortlich waren, verantwortlich fühlen sollten, hatte der Ansturm der institutionalisierten Nichtung liquidiert. Die Erfahrung diverser Zustände von Selbstlosigkeit war zu nutzen: Zukunft ist in allen Religionen identisch mit einem Neuwerden.

In der Wahrheit sein heißt, die Welt als Ganzes zu empfinden – nicht etwa zu wissen. Das Bewusstsein kann nur dem hinterher hinken, was sich in der Wahrnehmung für einen Moment ganz klar und wahr anfühlt. Das Ergebnis liegt jenseits der Schwundstufe eines der rigorosen Trennung von Körper und Geist verdankten Wahrheitsbegriffs, der die Wahrheit auf eine Funktion von Sätzen reduziert. Eine frühe Ahnung ist in der Seelenvorstellung der Antike aufbewahrt, nach der die Seele am Intelligiblen teilhat, aber über das Begehren in der Materialität der Welt verwurzelt ist. Für Platon ist die Seele eine Relation ohne substantiellen Eigensinn, sie lebt in einem Feld der Teilnahme an der Idee, wie später für Benjamin der Name an der Idee teilhat. Dieser bruchlose Bezug zwischen Idee und Name, zwischen Sein und Heißen kann mit Lübbe onomatopoetisch oder etymologisch fundiert werden: Entweder was ist, heißt wie es ist oder umgekehrt, was ist, ist wie es heißt. Im einen Fall reicht der Bezug von den sinnlichen Gleichklängen bis zur unsinnlichen Ähnlichkeit, im anderen Fall fasst er eine Entwicklungsgeschichte zusammen – beides aber sind Anverwandlungsweisen des seelischen Geschehens. Noch Benjamins Thematisierung der Aura  als ‚einmaliger Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag‘ taucht die Begegnung des Ich mit einem Gegenüber in eine numinose Epiphanie, hüllt den Gegenstand für einen unwiederbringlichen Augenblick in ein Räume und Zeiten verbindendes Netz der Bedeutsamkeit ein. In Präsenzkulturen war die Seele das Organ für Ganzheiten; eine Resonanz dieses Repertoires findet sich noch im Zeitalter der Repräsentation in Leibniz‘ Konzeption der Monade. Das Christentum ging anders als Platon von einer wesenhaften Seele aus, um die Voraussetzung für eine Abrechnung beim Jüngsten Gericht zu schaffen. In der Folge dieser religiösen Zwangsvorstellung ist die Polarität Körper/Seele stimmig, noch in einer Welt der Abwesenheitsdressur wird die Seele für Psychoanalytiker – die immerhin die Angst vor der Nähe auf den Nenner brachten – zum schattenhaften Ersatz für eine Beziehung von Körper zu Körper. Gegen die der Beschwörung von absoluten Wahrheiten verdankten Gottesvergiftung der Präsenz könnte die Unmittelbarkeit der inneren Anschauung, wie sie bei Kant auf die Konzeption einer unendlichen Raumvorstellung bezogen war, aktualisiert in unzensierten und nicht gepufferten Formen der Wahrnehmung einer unerträglichen Präsenz der unvermittelten Selbsterfahrung des Göttlichen entsprechen. Unter LSD der Urgewalt der Mimesis zu begegnen, im Zentrum der Milchstraße dem Schöpfer die Hand zu schütteln, währenddessen ohne Unterschied zu spüren, was jedes Geschöpf erfährt, aber dabei so nah dran zu sein, als sei es das Selbst. Zugleich zu sein, was zerfleischt und vernichtet und was zerfleischt und vernichtet wird, damit als Teil dieser Welt im Werden an der Potentialität eines kreativen Chaos zu wachsen. Diese Perspektive der Wiederkehr einer Empfänglichkeit für göttliche Energien legt nahe, dass mit der Wiederkehr der Religiosität beim späten Heine kein Widerspruch zur Kritik an der Herrschaft der Pfaffen oder dem Interesse der Mächtigen an der Verdummung zu vermelden ist. Mit der Wiedereinsetzung eines schöpferischen Gottesbegriffs scheint ihm eine auf Sinnlichkeit und unmittelbare Wahrnehmung begründete Existenz möglich, ohne wahnsinnig zu werden; der Zweifel an der Existenz Gottes stellt dagegen die Anerkennung des Todes im Leben dar, mit der alles Vergängliche dem Nichts verfällt. Das ist eine aus der Angstbewältigung resultierende, resignierende Anerkennung, die Bedingungen der Möglichkeit der eigenen Existenz niemals in der Hand gehabt zu haben.

Je nach Konstitution wird das Metaprogrammingsystem des psychischen Apparats ein unermessliches Nichts außerhalb des Selbst entdecken oder der Unendlichkeit eines im Selbst kulminierenden Verweisungszusammenhangs gewahr werden. In beiden Fällen ist Musik ein Gegengift gegen das Namenlose – wird zur Tafelschrift der Götter, wie dies Henry Miller in einem seiner delirierenden Bandwurmsätze formuliert hat. Weil die Dinge dieser Welt nicht über die nötige Selbstgegenwart verfügen, sondern nur als Erscheinungen präsent sind, läuft alles aus der Wahrnehmung bezogene Wissen ins Leere, nur die Musik ist in der Lage, die Vergänglichkeit der sinnlichen Wahrnehmung zu überwinden, also auf Dauer zu stellen, was sonst dem Verschwinden ausgeliefert wäre. Er wies sogar auf die ständige Vermischung der Erfahrung der Musik mit dem Geschlechtlichen hin. Das Verhältnis zwischen Musik und Erotik ist mit dem Raumbezug auf einen Nenner zu bringen – wir sind in einem Geschehen drin, werden getragen von einer Woge, die ein Repertoire freisetzt, mit dem das Verlöschen des Ichs nicht mehr zu fürchten, sondern herbeizusehnen ist. Das Hier und Jetzt beginnt punktuell zu werden, in gewissen Momenten gerinnt der Augenblick unter dem Einfluss von Intensitäten zu einer Ewigkeit, es findet ein Sprung aus der Zeit heraus statt – an einer schmalen Grenze zwischen Feuer und Eis, am Punkt des Umschlags der Gegensätze, in der Atemlosigkeit der Erfahrung, ein Teil des Göttlichen zu sein. Diese als Verschmelzung von Anschauung und Begriff erfahrene Einheit der zeitlichen Verschränkung in einem erfüllten Augenblick mögen auch Techniken der Trance bewerkstelligen, Tänze die mit monotonen Rhythmen arbeiten oder ein den Blick bannendes Objekt, das sich in regelmäßigen Halbschwingungen vor dem Auge bewegt, tantrische Gymnastik oder Atemübungen und rituelle Gebete. Die Intensitäten des Hier und Jetzt, des vollen Sprechens, verkörpern nach wie vor jene göttlichen Energien, die vor längst vergangenen Zeiten die Intention geprägt haben, gegen leere Konventionen ein pulsierendes Symbol zu setzen, Herzkraft an Bedeutsamkeit in feinste Äderchen der Jetztzeit und Geistesgegenwart zu pumpen. Mit Reiche liefert die Symbolbildung den Schlüssel zur Verabschiedung der populären Geistlosigkeit eines starren Gegensatzes zwischen ererbten oder kulturell erworbenen Fähigkeiten. Durch das Symbol tritt ein durch die Zeit vermitteltes Drittes zwischen diese Funktionen von Bedeutungsträgern: Dessen identifikatorische Mimetik situiert sich zwischen angeborenem und kulturell erworbenen Verhalten. Eine symbolgesteuerte Identifikation über Imagines, Introjekte, Repräsentanzen kann im psychoanalytischen Verständnis wie genetisch gesteuertes Verhalten nicht mehr verlernt, vergessen oder gelöscht werden. Damit wird die biologische Ordnung nicht eliminiert, aber vielfältig durchbrochen, denn mit der Entwicklung der Symbolfunktion entsteht ein Repertoire, jedem Sachverhalt eine fast beliebige Bedeutung zu verleihen. Im Rahmen einer ‚Geschichte der Einbildungskraft‘ hat Kamper unterstrichen, dass ursprünglich weder im Stoffwechsel mit der Natur, noch im symbolischen Austausch der Geschlechter per se Zwänge verbunden waren. Erst das planvolle Absehen von den Gesetzmäßigkeiten des Austauschs und des Stoffwechsels zugunsten der Akkumulation von Macht, der missbräuchlichen Konventionalisierung von Äquivalenten ursprünglicher Gebrauchswerte, vereinseitigte die entstehenden Lasten und verwandelte Wert und Besitz unter dem Sog der Abstraktion in einen stetig wachsenden Schuldzusammenhang. Sowohl ritualisierte Verschwendung wie zwanghaftes Opferverhalten als magische Praktiken, diese Schuld abzutragen, reichen vom Potlatch bis zum Weltkrieg, unterstehen aber in jedem Fall galoppierenden Distanzierungen von körperlichen Vollzügen. Ordnungen des Überflusses oder der Knappheit unterscheiden sich nur durch die Prämie einer konkreten Realität, die in der Fähigkeit einer vom menschlichen Körper nicht abzulösenden Symbolbildung begründet, aber vor allem aber mit der lebendigen Zeit verbunden ist. Alle Abstraktion sorgt für ein Übergewicht des Toten; nur die Produktivität der das Symbol fundierenden körperlichen Einbildung verhindert das Zusammenfallen von ökonomischer und symbolischer Vergesellschaftung, damit das Ende jenes fragilen Mobiles menschlicher Repertoireerweiterungen.

In diesem Zusammenhang finden wir eben nicht nur den Ansatz, eine biologische Frühgeburt mangels Instinktrepertoire durch institutionell vorgegebene Prothesen in einen stabilen Käfig von Gewohnheitsbildungen und Traditionen einzuschließen – sondern auch das Potential, ein virtuell vorhandenes Lernvermögen aufzurüsten, bis es sich über Distanzleistungen auf ein Niveau des bewussten Lernen des Lernens einrichtet. Ab einem gewissen Level sprengt diese Lernkapazität den Imperativ der von Stellvertretung und Delegation geforderten psychischen Verzichtleistungen, von denen Institutionen ihre Kraft ableiten. Während Bataille von einer existenziellen Souveränität ausgeht, auf die es bei einer personellen, sich selbst überschreitenden Subjektivität allein ankomme, ist der institutionalisierte Souverän im Herrschaftsbereich durch Delegierte omnipräsent – auch wenn er lediglich ein inzuchtgeschädigter, lebensunfähiger Krüppel sein mag. Mit Blumenberg ist der Mensch das Tier, das alles selbst machen will, aber so viel wie möglich delegieren muss, um vieles zu können und zugleich zu bedauern, fast nichts mehr selbst zu tun. Die Menschwerdung beruhe auf dem Prinzip Delegation, die anthropologische Wurzel des Staates sei die Fähigkeit des Menschen zur Delegation als einer Umformung der actio per distans – das Bedauern über diese Entwicklung vom Stein oder Speer zum Auftragskiller liefert angeblich das Potential des Repertoires von Utopien. Tatsächlich demaskiert aber jede Neurose als Institutionsminiatur eine Institutionalisierung, die als Notprogramm zur Kompensation von biologischen Ausstattungsmängeln definiert worden ist, um als Zwangsveranstaltung von Bremsvorrichtungen, die Multifunktionalität unseres Lernverhaltens in Schach zu halten.

Im Kontext der erkenntnistheoretischen Grundlagen Walter Benjamins habe ich einmal beschrieben, wie entscheidend für die Authentizität des Hier und Jetzt eine Symbolerfahrung ist, in der Darstellung und Dargestelltes verschmelzen. Je nach Vorbildung und Konditionierung stützen sich die Spezialisten entweder auf einen theologischen oder auf einen historisch-materialistischen Ansatz Benjamins, um Schlussfolgerungen aus seinen Texten im entsprechenden Korsett zu präsentieren. Dabei ist der entscheidende Trick, den Bereich des Dazwischen aufzusuchen. Nicht nur im Leben saß er zwischen allen Stühlen, auch die theoretischen Fundierungen hat er als Relationsmetaphysiker zwischen extremen Gegensätzen verankert, um Wahrheiten in ihrem oszillierenden Zwischenraum aufzusuchen. In der ersten der Thesen über den Begriff der Geschichte deutet sich an, wie jene Mas­se von Gedanken und Bildern zu organi­sieren sei, mit denen er sich ein Leben lang beschäftigte. Ein dafür typisches dialektisches Bild liefert von Kempelens Schachautomat, bei dem eine Puppe hinter dem Schach­brett saß, während sie von einem darunter verborgenen Zwerg, einem Meister des Schachspiels, gelenkt wurde, der jede Partie gegen das menschliche Gegenüber entschied. Auf die Philosophie übertragen gewinnt immer die Puppe: also der historische Materialismus, weil sie es ohne weiteres mit jedem aufnehmen kann, wenn die Theologie in ihrem Dienst steht – dieses Beziehungsgefüge hat Sternberger einmal als Abgrund der Macht gekennzeichnet. Tatsächlich sind beides lediglich Repertoires einer Extremwerttheorie: Nach Maßgabe des erkennt­nis- und sprachtheoretischen Ansatzes werden Verspannungen durch Zitatzusammenhänge hergestellt. Jedem Schachspiel liegt ein Regelkanon zugrunde, von dem auszugehen ist, wenn Ausgang und Verlauf der Partie tatsächlich verstanden werden wollen. Wenn de Saus­sures für die Linguistik das Zusammenspiel der sprachlichen Einzelheiten mit einer Partie Schach verglich, weist dies mit dem Blick auf Benjamins Beschäftigung mit der Sprache auf alles, was das Spezialistenkorsett in Form bringen oder verleugnen möchte. In beiden Fällen liegt ein System von Werten vor, deren Modifikationen mit jedem Zug zu beobachten sind. Wenn die Bewegung einer einzigen Figur die Gesamtheit des Relationsgefüges verändert, ist gleich­zeitig die Gesamtheit des Relationsgefüges die Repräsenta­tion der Stellung dieser Figur in ihrer Einzigartigkeit. Eine Partie Schach wird zur modellhaften Verwirkli­chung dessen, was die Sprache in ihrer natürlichen Form darstellt. Das dialektische Bild Benjamins legt also die Erklärung nahe, warum weder Theologie noch historischer Materialismus, sondern die über diesen Clinch herrschenden medialen Gesetzmäßigkeiten des Dazwischen am Steuer der Entwicklung sitzen. Was für den Analytiker die Träume des Individuums, sind für Benjamin die Moden und Künste, Architektur und Technik – er verfolgt die gewisse Gesetzmäßigkeiten nahelegenden Beziehungen. Als wir ins Abseits befördert werden sollten, blieb als Ausweg nur die pragmatische Umsetzung dieser intellektuellen Spielerei, um die nötigen Kräfte immer wieder neu für uns freizusetzen. Die selbsternannten Gegner ließen uns für die Ausarbeitung einer machttheoretischen Sprachesoterik keine Zeit mehr; doch es ging weiter, weil wir das Göttliche im Orgasmus zu befördern wussten, um für Augenblicke Geistesblitze zu bewohnen, in denen sich Jetzt und Ewigkeit kreuzten. Das Es als Raum der reinen Bewegung gilt der Psychoanalyse als Reaktor von Symbolisierungen jenseits der Unterscheidung von positiven und negativen Strebungen; der Trieb als Antrieb setzt selbst Geschlechtsdifferenzen zwischen Betragsstriche. Eine ganze Reihe von Zitatzusammenhängen musste erst einmal helfen, auf einen möglichen Nenner zu bringen, was uns dabei geschah, hatte zu übersetzen, in Worte zu fassen, was erst einmal nur energetische Wirkungen waren: Höre die heiligen Schwingungen, fließe mit dem Strom. Gehe über dich hinaus, wenn du dich finden willst, aber setze nie voraus, schon fertig zu sein. Verschwende dich, investiere alles was dir an Möglichkeiten zur Verfügung steht, komme soweit es geht von dir weg, um für die Unendlichkeit eines Augenblicks vom Geheimnis göttlicher Energien ergriffen zu werden. Nichts ist festgestellt, die Magie des Namens transportiert Schöpfungen in einen tristen und alternativlosen Alltag, das richtige Wort im rechten Augenblick haut Umzingelungen weg. Alles ist in Bewegung, wenn du an nichts haftest, deine Gewohnheiten gesprengt wurden, beginnst du an der Schöpfung der Welt mitzuarbeiten. Wenn du dann noch lachen kannst, wirst du bemerken, wie selbst Bosheit und Vernichtungswunsch als Zuwendungen zu kodieren sind, deren Energie sich verwenden lässt – nach Kamper bewirken gerade die erlittenen Grausamkeiten die nötige Sensibilisierungen für entscheidende Grundrisse der Welt. Du bist kein abhängiges Geschöpf der Götter, sondern diese sind ein Resultat deiner Reinheit und Kraft. Der Selbstvergottung mancher Mystiker/innen ist vielleicht die größte Wahrheit abzulauschen, die Wesen aus Fleisch und Blut noch auszuhalten im Stande sind. Es mag schon vor dir göttliche Gewalten gegeben haben, weil es schon immer Leidenschaften gab, aber Hormone allein sind keine Auszeichnung – auch wenn jeder Mangel ihrer Wirksamkeit als böser Fluch erfahren wird. Götter mögen als ewige Objekte Relationen im Sinne Whiteheads sein, doch für die Realisierung von Aphrodite oder Hermes sind die jeweils Lebenden zuständig, ihre positive Wirksamkeit beruht auf der lebensbejahenden, die konfliktuelle Mimetik ins Schweigen befördernde Kanalisierung der Ein- und Ausflüsse von Leidenschaften. Bereits im Schweigen, das die Musik transportiert, entsteht jener Raum im Kleinen noch einmal, in dem die Leidenschaften dem Namenlosen die Ingredienzien einer Semantik abringen. Gerade weil die Musik gestaltete, materialisierte Zeit ist, verklärt sie unseren Bezug zum Hier und Jetzt auf der Erde; die Wesensverwandtschaft von Zeit und Musik verschränkt seit Platon das Ästhetische mit dem Theoretischen, vermittelt die Zeit des Lebendigen mit der Ewigkeit der Idee. Zeitmaß und Wohlklang dringen unvermittelt in den Hörenden ein, deshalb zieht er die Mündlichkeit aller schriftlichen Unterweisung vor. Die Verknüpfung des Ästhetischen mit dem Intelligiblen ist für ihn der Grund, warum die Sterblichkeit kein Argument ist!

Mit Ch. Schmidt ist für eine Abschweifung weit in die Vergangenheit bis zu Damon zurückzugreifen. Sokrates‘ Lehrer stellte sich die Frage, was unserer Seele geschehe, wenn wir Musik hören und bereitete damit Antworten vor, die im Laufe der folgenden Jahrtausende virulente Argumentationsfiguren in die Welt entlassen haben. Jenseits aller Glaubenssysteme, versetzt in einen Zusammenhang medialer Weltvermittlung, hören wir in einer Hifi-Anlage, wenn wir zu hören verstehen, wie sich göttliche Gewalten verkörpern. Anthropologen und Musikhistoriker stufen die Musik als Urkunst ein, die Magie des Tönens und Horchens ist noch früher anzusiedeln, als die von Urbild oder Urwort. Die Seele, die wie alles Lebendige in ständiger Bewegung ist, überlagert sich mit der Bewegung der Musik, die zur Stimme der uns umgebenden Welt wird – hier entsteht jene Magie der Rhythmen und Klänge, mit denen wir auf die Welt zurückwirken. Beide Bewegungen generieren Kräftepfeile, die wiederrum Anlagen der Seele wachrufen, ihre musikalische Potenz freisetzen. Dieses Wechselspiel aus Horchen und Klingen verbindet uns mit Harmonien, die nie nur ein Verhältnis von Tönen sind, sondern der Klang jenes kosmischen Gefüges, der als Bewegung in Maß und Ordnung selbst Musik ist, ein Werk göttlicher Energien. Entscheidend für dieses Gefüge ist, wie die Menschen den Göttern ähnlich werden, wenn sie glücklich sind, wenn sie sich gemeinsamen Rhythmen hingeben. Die Musik lädt zur Teilhabe an der Harmonie des Kosmos ein, Liebende erfahren das musikalische Maß als Gabe: Ihre Körper werden zu Musikinstrumenten, die sich immer feiner abstimmen, sich in der beseelten Selbstvergessenheit dem Bereich der Weisheit nähern. Als Liebende verwirklichen sie nach Kittler die Gegenwart des Göttlichen, indem sie diesem ähnlich werden. Wenn sich eine Resonanz einstellt, wird die von der Suche nach Harmonien getragene Seelenbewegung vor nichts Halt machen, was sie vom Erspüren und Verknüpfen immer neuer Verwandtschaften im gemeinsamen Leben abhalten würde.

Rhythmus und Taktilität, subliminale Wahrnehmung und Verweisungszusammenhang, historischer Standindex und die Kapazität, die nötigen Verknüpfungen herzustellen, bestimmen über die Gegenwart des Geistes! Ausgangspunkt einer jeden Geistesgegenwart ist der Leib – mit der körperlosen Stimme, kann ich über hunderte von Kilometern Geld in Bewegung setzen, Geld ist auch nur ein, wenn nicht der inhaltsleerste Signifikant – was die Stimme am Anfang der Kette einspeist oder am Ende herausbekommt, mit und außer dem Container Information, hat aber sehr viel damit zu tun, wie ich mich als körperliches Wesen fühle, was ich an Körperspannung über den Draht bringe. Das androgyne Tier mit den zwei Rücken ist seit Vorzeiten die Metapher für die Erfahrung der Präsenz des Göttlichen in der Welt. Wenn es bei Platon heißt, die Götter hätten aus Eifersucht dafür gesorgt, eine ursprüngliche menschliche Einheit aufzutrennen, illustriert dies ex negativo die Beschreibung eines Status der Vollkommenheit, der für uns erfahrbar macht, wie sich das Göttliche durch eine intensive emotionale Besetzung in der Welt verwirklicht. Das erfordert eine Form der Askese, die nicht auf Verzicht und Versagung beruht, sondern auf der Übung des wechselseitigen Aufbaus eines immer höheren Spannungsvolumens – es geht eben nicht allein. Am Anfang mag es so aussehen, als sei alles darauf angelegt, einen zum Scheitern zu bringen oder zur Verzweiflung zu treiben. Vielleicht ist die Liebe als Duell schon eine erste Chiffre der Transzendenz – es müssen nur noch übermächtige Gegner auf den Plan treten, es müssen Anlässe gegeben sein, damit dieser innere Antagonismus zu einer Einheit auf einem höheren Niveau verschmilzt und dann die Bewährung an der Welt dessen Nachfolge antritt. Man oder frau kann den Stress nicht einfach wegficken, sonst bleibt nur übrig, in der Selbstzerstörung letzte Spannungen abzufahren – wir wollen nämlich gar nicht frei von Spannungen sein, wir wollen nur immer wieder in die Lage kommen, sie in einer Weise genussvoll freizusetzen, die das Gefühl bestätigt, Grenzen zu überschreiten und ein beschränktes Leben zur Unendlichkeit hin zu öffnen. Wenn die Turbulenzen im Unendlichen nicht mehr an den Pforten der Wahrnehmung zerschellen, vernehmen wir in den Vibrationen der Echtzeit, wie die lebendige Welt erst in der gegenseitigen Anerkennung der körperlichen Präsenz und des Begehrens entsteht. Die vielbeschworene Wirklichkeit der Phrasen und festgestampften Überzeugungen erweist sich als zwanghafter Schatten des Körperpanzers in den Köpfen von Impotenten und Simulantinnen. Tatsächlich beruhigt oder befriedigt eine stillgestellte Welt trotz aller Ersatzintensitätenvermittlung nie genug; verkrampfte Strategien des Machterhalts haben immer noch mehr aus dem nachgemachten Leben rauszuquetschen, ohne auf die der Reduktion verdankten Sicherheit zu verzichten. Dabei lassen die unendlich gefährlichen und verwirrend schönen Energien, die außerhalb der befriedeten und sterilen Räume mit Blitzen spielen, zwar nichts von unseren gewohnten Vorstellungen übrig, machen aber unter günstigen Bedingungen erahnbar, welche Wirkungsmächte das kosmische Geschehen prägen. Sie mögen sogar ein Gefühl dafür vermitteln, warum wir nicht nur Marionetten sind, sondern Teilhaber dieser Mächte sein können. Das liefert nebenbei eine einfache Erklärung, warum wir während des Sozialisationsgeschehens hinter dem kulturellen Lattenzaun weggesperrt werden, um dort mit Peinlichkeitsriten und Geilheitsdressuren, mit Kleiderordnungen und Benimmregeln geknebelt zu werden: Wir könnten sonst nämlich zu zaubern beginnen. Das Signum des Göttlichen zeigt sich in der vom Begehren bewirkten Verklärung selbst, in dem Sog, der für jene Präsenz sorgt, in der niemand für gewisse Augenblicken nicht über sich hinausgehen will. Die institutionelle Stellvertretung Gottes scheint dagegen aus einer willkürlichen Interpolation hervorzugehen, die das Oszillieren der Extreme übersieht und vom Zusammenfallen der Gegensätze ausgeht. Auch das ist eine Destillation im Prozess der Zivilisation, mit der handhabbare Spiritualisierungen an die Stelle energetischer Potenzen gesetzt werden. Es ist immer wieder die gleiche Basisentscheidung: Lasse ich die Welt zu, gewähre den weit über ein einzelnes Lebewesen hinausgehenden Energien die Raumzeit – oder versuche ich unter dem Zwang der Angstbewältigung den Prozess zu unterbrechen, das Begehren zu sublimieren, um dann vereinzelte Kräfte für mich arbeiten zu lassen, aus Momentaufnahmen eines Kaleidoskops Artefakte des Machtwillens zu machen.

 

In ‚Lebenszeit und Weltzeit‘ schlüsselt Blumenberg Gesetzmäßigkeiten auf, die eine phänomenologische Sicht voraussetzt, wenn wir nachvollziehen und verstehen wollen, was offensichtlich unbemerkt zwischen Menschen stattfindet. Dabei geht es erst einmal nicht ums Unbewusste, sondern ums Unbestimmte, das dazu beiträgt, die Indifferenz der Welt gegenüber dem Menschen ertragbar zu machen. Was die von jedem individuellen Bewusstsein unabhängige Welt konsti­tuiert, ist potentiell das, was durch momentane Konver­genzen der Einfühlung in jede daran beteiligte Subjektivität ein­geht und von ihr mitgeführt wird. Die Anderen bringen jeweils ihre fremden Horizonte, ihre fremde Zeit mit. Wobei die Zeit ein komplexes Netzwerk von Verweisungszusammenhängen ist, das Ergebnis einer integrierenden Synthese. Die verschiedenen Relate, die auch wieder Knotenpunkte verschiedenster  Beziehungen sind, werden zum Aufbau einer objektiven Welt integriert, die als Welt gültiger Er­fahrung jedem an ihr beteiligten Subjekt sein Maß von Gewissheit und Sicherheit gewährt. Kamper führte vor, warum Blumenberg nicht mehr weit von Foucault entfernt ist; die beiden nähern sich der Grenze des Subjekts lediglich aus der entgegengesetzten Richtung. Auf der einen Seite die Unüberbietbarkeit des Menschen, für Blumenberg liegt die Moderne noch immer auf einer Linie mit der Heilsgeschichte; auf der anderen Seite die Schutzmacht des Vergessens gegen die aus der zunehmenden Beschleunigung resultierende Gefahr der Selbstvernichtung. Das Wechselspiel zwischen Kultur und Vergessen macht für Foucault aus der Apokalypse ein Bibliotheksphänomen. Für ihn kollidiert das Plädoyer für die Immanenz der Geschichte mit der deutlich nachweisbaren Kontingenz der Ereignisse, die sich als diskursiv produzierte Niederschläge des Imaginären erweisen.

An den Reibungsintensitäten dieser Grenze ist der Raum zu ertasten, dem wir die Zugänge zur Präsenz verdanken; er untersteht der Bedingung einer Gleichzeitigkeit von Körpern, die bereits die Möglichkeit einer authentischen Erfahrung setzen. In diesem Zusammenhang greift Bohrers Korrektur, nach der die jeweils eigene Lebenszeit mit der Weltzeit nichts zu tun habe, weil es für uns jenseits von uns nichts zu gewinnen gibt; die eigene Perspektive erwächst immer aus Augenblicken der Begegnung. Doch wenn Vergangenheit als Erinnerung zu einem Augenblick der Präsenz werden kann, ermöglicht sogar die nahe Zukunft eine ästhetische Resonanz. An anderer Stelle kommen wir auf Bohrers Verbindung dieses Augenblickscharakters mit der Schönheit zurück – Schönheit als konvulsiver Bewegungsvorgang, kein fiktiver Zustand, sondern der in einen Zeitpunkt zusammengedrängte Verlauf eines subjektiven Impulses, der das am Tun des Tuns, am Erleben des Erlebens gesättigte Versprechen eines Orgasmus transportiert. In den gegenwärtigen Zusammenhängen dient die in einer Plötzlichkeit mögliche, unvermittelte Verkörperung von Erfahrung erst einmal dazu, den insgeheimen Platonismus der Phänomenologie in Schach zu halten.

Der Begriff der physischen Gleichzeitigkeit impliziert für Blumenberg außer dem feststellenden Subjekt alle Arten Objekte, doch ein ursprünglicher Be­griff von Gleichzeitigkeit kann nur der sein, der dem erfahrenen anderen Subjekt dieselbe Wesentlichkeit von Bewusstsein inkorporiert, die als in der eigenen Leiblichkeit inkorporiert erfahren wird. Dies führt zu einer Reziprozität der Erfahrung, wie er/sie mich erfährt. Mag die Erinnerung durch die Beiläufigkeit oder Gleichgültigkeit dieser Erfahrung einseitig oder beiderseitig verblassen, prinzipiell ist sie Teil einer Lebens- und Erinnerungsgeschichte. Die Gleichzeitigkeit mag zu einer der Ungleichzeitigkeiten werden, sie wird dennoch in den verschiedensten biographischen Zitatzusammenhängen Wirkungen zeitigen. Wenn das Ich einem Grenzwert erfüllender Begegnungen nahe kommt, verliert es sich an das andere Ich; dies könnte identisch mit seinem Selbst werden, wenn dessen Anteil naturgemäß nicht relativ gering ausfallen würde. In der Fiktion einer unsterblichen Liebe wird meine Lebenszeit über die Punktualität der Gleichzeitigkeit hinaus eins und einig mit der Lebens­zeit einer/s anderen. Doch das verschmolzene Ich eines gemeinsamen Lebens würde sich in der Realität schnell in eine potenzierte Hölle verwandeln: Schon das eine und identische Ich hält sich oft nur aus, indem es vieles vergisst, verdrängt oder uminterpretiert. Unterscheidungen und Abstände liefern die Voraussetzung für eine relative Erträglichkeit, Entfernungen in Raum und Zeit mindern und erschweren zwar den Kontakt, schützen aber auch vor einer überformenden, fressenden Nähe. Schon deshalb ist ein Rest an Unzugänglichkeit immer konstitutiv für die Wahrnehmung des Anderen; das sich einfühlende Subjekt kann da­mit die Distanz bewahren, ein abgegrenztes Selbst bleiben. Für die Punktualität möglicher Gleichzeitigkeit ist die Lebenszeit die Zeit des einen erlebenden Subjekts, als solche aber vom Leben seines Gegenübers geschieden. Allerdings würde ein psychisches System, das nur auf Zeitpunkte bezogen ist, ein erfahrbares Kontinuum der Dauer verfehlen, erst das Zugleich von Geradeeben, Jetzt und Gleich erschließt uns einen Zeitraum. Die Sprache verbindet als Medium solche entfernten Zeitschnitte, wobei die sprachliche Repräsentation immer die Ferne des Repräsentierten bewahrt, mit den Abständen also fremde Eigenzeit transportiert. Erst die Eigenzeit macht das Phäno­men der Gleichzeitigkeit möglich und für die Fremderfahrung zu einem unerlässlichen Moment. Der/die Andere bewährt sich für meine Erfahrung gerade wenn sie/er sich aus dem Moment der Gleichzeitigkeit wieder entfernt, wenn sie/er in neue und von meiner Erfahrung ganz unabhängige Horizonte von Welt und Intersubjektivität eintritt, durch den Augenblick der Gleichzeitigkeit mit mir aber ver­ändert wurde. Der Leib ist in dieser Konfrontation ein Seismograph der Wirklichkeit der/s Anderen: Vom erfahrenen anderen Ich erfahren zu wer­den, zu sehen wie er/sie mich sieht. Die/der Andere ist von diesem Punkt der Konvergenz an nicht mehr ganz der, der sie/er vor­her war. Ich erwarte, sie/er habe wie ich selbst mit der Erinnerung an diese Gleichzeitigkeit eine Veränderung erfahren, und gerade dadurch habe ich mich verändert. Diese Reziprozität verdankt sich einer Gleichzeitigkeit, die von Psychotikern systematisch ausgehöhlt wird. Nichts bedroht deren System aus Lüge und Verleugnung derart wie das Zeugnisablegen, die Erfahrung eines Hinzutretens von unabhängigen Zeugen, die nicht einfach durch die Zurechtweisung das-bildest-du-dir-doch-nur-ein zum Verstummen verurteilt werden. Das Maß der wechselseitigen Veränderungen bestimmt ganz nebenbei Erinnerungen, die mich überleben können und doch nicht unabhängig von mir bestehen. Alles was mich angeht, braucht Zeugen, um sich in der Wirklichkeit zu behaupten, denn was in keinem lebendigen Gedächtnis aufbewahrt wird, Zeugnisse und Artefakte alleine reichen nicht, gerät auf die abschüssige Bahn der Inexistenz. Ich erinnere mich nicht nur, ich werde auch erinnert: Fremderfahrungen arbeiten nicht allein mit aktuellen Anlässen an meiner Selbstdefinition, sie sind die Folie, auf der Inkommensuralitäten erst entstehen. Eine der ältesten Weisheiten, die uns von den Griechen überkommen sind, lautet ganz schlicht: Beuge dem Vergessen vor! Aus diesem Grund trifft Foucaults Ansatz, der sich immer Vergangenheit und Zukunft zugleich widmet, in einer Bewegung der Distanzierung auf Blumenbergs Anthropodizee. Er stellt gerade bei der Umwandlung aller Wissensweisen in ein Wissen vom Menschen für den Menschen fest, wie damit die Spur gelöscht wird, die das Wissen auf seinem Weg von der beginnenden Neuzeit bis zur fortgeschrittenen Moderne hinterlassen hat.

Oberflächlich verstehen wir unter Eigenzeit jene Zeit, die nach den eigenen Bedürfnissen und Rhythmen gestaltet werden kann. Wenn wir uns ihrer Erfahrung anvertrauen, stoßen wir allerdings recht schnell auf gewaltig irritierende Gesetzmäßigkeiten hinter unseren Gewohnheiten. Eigenzeiten sind widersprüchlich und unverfügbar, sie ereignen sich ohne eigentlich zu sein, sind weder subjektiv noch objektiv, sondern bewegen sich dazwischen wie zwischen göttlichen Energien und natürlichen Gesetzmäßigkeiten. Jedes Bild, jede sprachliche Objektivierung, arbeitet bereits an einer Überwindung der Eigengesetzlichkeit des Gefühls, bedeutet eine Depotenzierung der Unmittelbarkeit. Alle vom statistischen Mittel abweichenden Gefühle, Willensakte und Leidenschaften beanspruchen endlose zeitliche Räume, fügen sich keinem engen Zeitkorsett, um ihre Bewegung fremden Kontrollinstanzen zu entziehen, den eigenen Rhythmen zu gehorchen, die sich als sehr fremd erweisen können. In einem groben Raster impliziert der Topos Eigenzeit, neben der psychoanalytischen Erkenntnis, dass das Ich nicht Herr im eigenen Haus ist, bereits den kulturkritischen Begriff der Entfremdung – nur dass die Herrschaft des Ich schon immer auf einer Illusion beruht, nur durch Verleugnung oder Verdrängung überhaupt funktioniert. Aus diesem Grund analysiert E. Lenk mit Recht eine ‚unbewussten Gesellschaft‘, deren Mitglieder sich vor allem an Werten und Überzeugungen festhalten, die die Ursprünge ihrer Erfahrung und die Möglichkeit unzensierter Aufmerksamkeit zwanghaft ausklammern. Mit der Industrialisierung wurde die Zeiterfahrung homogenisiert und in der Folge einer zunehmenden Technisierung der Lebenswelt unterstand sie immer stärkeren Produktivitätsanforderungen. Zeitdisziplin ist mit Elias eine mittlerweile alles durchdringende Folge des Zivilisationsprozesses. Doch was die Kritik als eine Form der Enteignung unserer Zeiterfahrung kennzeichnet, wenn sie von einem Verlust der Eigenzeit spricht, hat auf der anderen Seite erst für einen enormen Gewinn an disponibler Zeit gesorgt. Je komplexer die technischen Zusammenhänge werden, je mehr entlastet uns die Technik von den damit verbundenen Arbeiten. Früher unvorstellbare Freiheitsspielräume sind uns zugefallen, sofern wir mit ihnen umzugehen verstehen. Die Produktivitätssteigerung durch automatisierte und computergesteuerte Abläufe stellt mittlerweile einen zeitlichen Rahmen zur Verfügung, der noch vor der Mitte des 20. Jahrhunderts unvorstellbar war. Ohne ein Verständnis der Souveränität der Eigenzeit scheint es mittlerweile für ganze Bevölkerungsschichten zum Problem zu werden, die freie Zeit nicht nur totzuschlagen oder durch Verdumpfung auszusperren, sondern sinnvoll mit dem gewonnenen Überschuss umzugehen. Zur ernstzunehmenden Lebensaufgabe wurde es, selbstbestimmt an einem Lebenssinn zu arbeiten, aus der Freiheit, die uns als Gewinn an verfügbarer Lebenszeit zufällt, unseren Antrieb in sinnvolle Tätigkeiten zu investieren. Damit hängt viel von der Fähigkeit zur Selbstbestimmung ab, gerade deshalb gab es noch nie so viele Industriezweige und Institutionen, die von diesem Überschuss profitieren und alles daran setzen, uns vor der inneren Leere, vor der Angst vor der Angst zu verschonen. Allerdings bringen sie eine/n mit den Aufforderungen zur fehlerhaften Identifikation und der Ersparnis persönlicher Kontakte um die Echtzeit der Däumlinge am Smartphone, verführen zum abstumpfenden Konsum in und mit der Maschine, während das Kommunikationsvermögen schwindet. Dabei gilt das Prinzip der Wiederholung, des Durcharbeitens auch für den Computer: Kamper spekulierte, ob die Unerträglichkeit eines Lebens, das wiederholt ohne zu wiederholen, vielleicht mittels der Maschinen, die ebenso funktionieren, erträglicher gemacht wird. Der Rechner wird zu einer Zeitentlastungsmaschine, die jene leere Zeit, die für den Menschen mehr und mehr unerträglich wird, übernimmt, um ihm eine zwangsneurotische Wiederholungsschleife abzunehmen. Doch das ist nur die objektive Seite, während zur Selbstimmunisierung notwendigerweise Beziehungsarbeit und kreative Eigenarbeit taugen. In einer ersten Schutzimpfung beginnen sie sich unter optimalen Bedingungen zu überlappen, den Forderungen der Fremdbestimmung zu widerstehen. Zudem benötigen sie auf die Dauer der täglichen Routinen als Motor diverse Formen der Depersonalisierung, erst der Urlaub vom Ich regt das Lernvermögen an. Der von Baudrillard zum ‚Tod der Moderne‘ konstatierte Endpunkt des Sinnverlusts eines riesigen Repertoires an Bedeutsamkeit ist vor allem einer der großen Institutionen. Dahinter wird allerdings das mit den menschlichen Glückserwartungen verbundene anarchistische Potential freigesetzt, an dem diese Institutionen nur schmarotzt haben, um ihren Machtanspruch durchzusetzen. Der rechte Augenblick transportiert nach wie vor das metaphysische Gewicht jener vor aller Institution in den zwischenmenschlichen Intensitäten angesiedelten, natürlichen Religiosität. Die Steigerung der Entfremdung durch die Wohltaten unserer Kultur kann zu einer Zunahme des Lernvermögens führen, wobei die Geschlechterspannung nicht nur zur lustvollen Abfuhr des Sogs der Fremdbestimmung taugt, sondern das Nahen göttlicher Gewalten vorbereitet. Dank einer energetischen Selbstimmunisierung führt jeder gemeinsame Orgasmus zur Entfremdung von der Entfremdung, damit also zu den wesentlichen Beziehungen zurück.

Der Lektüre Blumenbergs sind vor allem in seinen Überlegungen zur Metaphorologie wesentliche Anregungen zu verdanken. Seine Anregungen werden unsere Fragestellungen allerdings nur fruchtbar verarbeitet, wenn wir die Basissetzung modifizieren. Wir gehen von der Präsenz des Göttlichen im hormonellen Geschehen aus, die in der Liebe immer wieder neu wirklich wird. Eine seinsgeschichtliche Ambivalenz verdankt sich der nicht geklärten Frage: Was ist denn das Sein? Die verschiedenen immer weltferner werdenden Abstraktionen: Das Ding an sich, der Begriff des Dings oder die ungreifbare Idee des Seienden! Oder ist es nicht viel eher der physikalische und biochemische Prozess, das materielle Substrat, um das unsere Metaphern kreisen. Die Präsenz des Göttlichen in der Welt steht nicht erst seit der Zeit zur Debatte, seit der Max Weber die Abwesenheit Gottes und das gegen diesen Verlust entwickelte, stahlharte Korsett der Moderne auf den Nenner brachte. Als Kafka beschrieb, wie das Göttliche virulent geworden ist, wie das Ungeheure als Gewährleistung des Alltäglichen in seiner Gegenwart aus allen Ritzen quoll, zog er die notwendige Konsequenz aus Webers Beobachtung eines neuen Pantheismus: Viele alte Götter tauchen entzaubert in der Gestalt unpersönlicher Mächte wieder auf, versuchen in technischen Entwicklungen und Zwängen der Verwaltung über unser Leben zu verfügen, während sie untereinander ihre ewigen Kämpfe verlängern. Selbst mit einer aufgeklärten Polytheismuskonzeption hat er nicht auf die kompensierende Funktion des Sehnens und der Erwartung in den verschiedensten kulturellen Ausprägungen verzichten können, während Freud konstatierte, dass viele theologische Energien von der Libido absorbiert werden, weil sie dort ihren Ursprung haben. Die philosophische Anthropologie eines Plessner fängt das Mängelwesen Mensch in einer Konzeption von Ausdrucksgestalten der wesentlichen Exzentrik auf; die eines Gehlen bedient sich an den Vorgaben von Hegels objektivem Geist, um daraus die Lehre vom Vorrang der Institutionen abzuleiten. Beide extremen Ausprägungen wurden von Scheler inspiriert, nach dem der Geist wie ein Blitz einschlagen kann – eine Ableitung uralter Gottesvorstellungen –, damit aber entscheidende Bedeutungen prägt. Auch bei K. Heinrich oder Kamper finden sich Variationen der Voraussetzung, es habe das Ursprungsmythologem nie gegeben, eine Deckerinnerung für etwas a priori Abwesendes habe die verschiedensten Vorstellungswelten in Bewegung gesetzt – doch beide haben brauchbarere Hebel als den Vorrang der Institutionalisierung angesetzt. Die Einebnung der Differenzierung von Ausdruck und Begriff, die ursprünglich die Angst vor dem Tod in Schach halten sollte und deshalb die Lebendigkeit tabuisierte, wird durch die Phantasie geleistet – für Kamper wird eine Haltung zum Anderen notwendig, mit der die Zwänge verabschiedet werden, alles immer auf das Bekannte, auf das Selbe zurückzuführen. Wir sollten also das Repertoire von Geschichten, von denen alles seinen Ausgang nimmt, genauer betrachten, die Symbole, die die Verdichtung von Prozessen der Wahrnehmungsverarbeitung transportieren, die Jahrmillionen zurückreichen. Symbole beziehen Kraft aus dem körperlichen Geschehen – sie können dank einer produktiv umgesetzten Geschlechterspannung die Eigenzeit modifizieren. Wenn allerdings die Gegenwart göttlicher Energien ausfällt, ist zugleich jegliche Authentizität gestrichen: Dann gibt es keine Intensität des Hier und Jetzt mehr, womit die Möglichkeit des vollen Sprechens entfällt. In der Position Blumenbergs gibt es keinen Actus Purus, weil es keinen Ursprungsmythos gegeben hat, nur Überlieferungen, nur die Vertreter Gottes, nur Funktionäre der Vertretung – im besten Fall die Simulation verschiedener Intensitäten. Diese bannende Verleugnung hat eine stabile Einsicht in den Erkenntnischarakter des sexuellen Geschehens zu ersetzen: Die Emergenz göttlicher Energien ist bisher in ihrer klarsten Form ein Werk des menschlichen Biomagnetismus, im tierischen Bereich äußerte sie sich in einer dumpfen und blind tastenden Funktionalität. Benjamin folgte der Prämisse, der Ursprung sei das Ziel; für unsere Zwecke sollte ein daran ausgerichteter Lernprozess der Selbstoptimierung an jenen göttlichen Energien arbeiten, die in der Liebe entfesselt werden. Wenn wir den fruchtbaren Ansatz seiner Relationsmetaphysik weiter entwickeln, landen wir bei Elias‘ Konzeption der Zeit als eines Symbols für ein mehrdimensionales Relationsgeschehen. Alles Wahrnehmbare hat eine Koordinate in jeder der vier Dimensionen des Raumes und der Zeit. Aber gleichzeitig wird das zeitliche Geschehen in einer spezifischen Art und Weise symbolisiert und damit zur Repräsentation einer fünfdimensionalen Menschenwelt. Diese fünfte Dimension als Zusammenhangsform des Erlebens, des Bewusstseins, der Erfahrung, entsteht dank der erlernten Synthese, die Raum und Zeit als symbolische Strukturen erfahrbar macht. Damit erscheinen jene menschlichen Leistungen im Blickfeld des Beobachters, mit denen das Geschehen in Raum und Zeit verarbeitet wird. Mit einer Erfahrung des Beobachters, die die Leistungen der Beobachtung zusammenfasst, wird zugleich der Symbolcharakter der vier Dimensionen als Orientierungsmittel von Menschen sichtbar, die einer Synthese fähig und damit in der Lage sind, das was nacheinander vor sich geht oder nur ungleichzeitig existiert, in der Vorstellung zugleich gegenwärtig zu haben. Die Vorstellung, die Menschen von sich haben, ihre Selbsterfahrung, ist nichts von ihrer Erfahrung, dem Bestand ihres Wissens Unabhängiges, sondern ein integraler Teil ihres symbolischen Universums, verändert sich also entsprechend ihrem Status in der Entwicklung des Wissens. Die Zeit, die auf der vorausgegangenen Stufe nur als Dimension der Natur erfahrbar war, wird als menschengeschaffenes Symbolgeschehen erkennbar, wenn die Gesellschaft als Subjekt des Wissens mit einbezogen wird. Das durch Menschen ermöglichte gesellschaftliche Universums, in dem durch selbstgeschaffene, erlernbare und vermehrbare Symbole erkannt und kommuniziert wird, stabilisiert eine Reflexionsebene, die die materielle Natur der Welt überformt und damit vervielfältigt. Mit dieser systemtheoretischen Akzentuierung sollte noch einmal deutlich werden, welche adäquate Vermittlung von Subjekt und Objekt das symbolische Geschehen für die Verankerung der notwendigen Erfahrungen in der Welt leistet. Der symbolische Tausch der Worte, Versprechen und Eide funktioniert nur dann wirklich ohne Rest und Stolperstein, wenn in einem umfassenden Gut-dass-es-dich-gibt auf der sexuellen Ebene mit der Synthese von Aufmerksamkeit und Zuwendung ein vollendeter Austausch gefunden worden ist. Es gilt also das in der Theologie verschüttete Emanzipationswissen wieder freizusetzen, nach dem wir uns anhand der Maßgeblichkeit einer nichtindividuellen Ordnung in einem Bereich des Dazwischen zu finden beginnen. Wir können dafür sorgen, diese umfassendste Form des kommunikativen Geschehens und der Erkenntnis in einer gemeinsamen Zeit zu verankern: Das geht nur mit dauernder Übung!

Um Whiteheads Neukonzeption der Ontologie zu paraphrasieren, ist das im Rahmen der Kosmologie als energetischer Exzess wirkende Sein nicht nur Schauplatz göttlicher Entitäten, sondern zugleich ein umfassendes relationales Speichermedium. Zeitzeugnisse in diesen Speichern entscheiden darüber, was wirklich gewesen sein wird; alle zeitliche Wahrnehmung ist ein Resultat von Erinnerungsspuren, schon Momente des Sehens interpolieren bekannte oder erwartbare Werte, um wiederzuerkennen und einzusortieren. Die Zeit entzieht sich der Teilbarkeit und damit Zenons Paradoxie, weil sie kein kontinuierlicher Prozess ist, sondern eine atomistische Abfolge von Feldern, die Muster der gespeicherten Geschehnisse realisieren. Eine Zeitkonzeption als diskontinuierliches Springen und Wiederholen liegt jenseits der Vorstellung von konkurrierender Linearität und Zirkularität. Statt Zeitpunkten folgen Zeitschnitte aufeinander, damit wird Dauer zu einer Wiederholung dieser Muster in aufeinander folgenden Geschehnissen. Die traditionelle Punktualität der Gegenwart dehnt sich zu einem Feld aus, während Zeitlichkeit zur Bewegung der Differenzierung und Wiederholung der Felder minimiert wird. Der Zeitverlauf ist in der Lage, die Innenseite der Wirklichkeit nach außen zu drehen, das Maß der Dauer ist dann paradoxerweise die unendlich stetige Vertiefung des Augenblicks. Diese Deutung der Zeit eröffnet als unüberbrückbaren Abstand ein fundamentales Dazwischen, vor dem wir traditionell immer in Polaritäten ausweichen, um uns nicht auf die Gefährlichkeit des Ungreifbaren einzulassen. Subsysteme werden über Zeiten hinweg als vernetzt erfahrbar; die Zukunft entscheidet in diesem energetischen Verweisungszusammenhang nicht nur über den Wahrheitswert vergangener Ereignisse, sondern gewisse Ereignisse einer fernen Vergangenheit erweisen sich als Nachrichten einer nahenden Zukunft – nur deswegen liefern die ältesten Mythen noch immer zwingende Regieanweisungen. Gedacht ist also nicht an die platte Polemik, danach wisse man immer alles besser, sondern an jene prophetische Gabe, unter hohem Stress und in Situationen der Ausgeliefertheit Momente einer Zukunft vorher zu wissen und sie in entscheidenden Begegnungen zu Siegen für die eigene Geschichte umzumünzen.

Das erste Mal sind uns die Gesetzmäßigkeiten der ‚Eigenzeit‘ bei Helga Nowotny begegnet, obwohl sie intuitiv bereits jahrzehntelang gehandhabt wurden; somit wird immer wieder auf diese Untersuchung zurückzukommen sein, wenn sie sich mit unseren Erfahrungen berührt. Die Begrenztheit der Zeit ist ein zen­traler Wert der Industriegesellschaften, der über den Pro­duktionsbereich hinaus alle Lebensbereiche kolonialisiert hat. Der oberste Grund­satz für technische Artefakte wie für menschliche Tätigkeiten lautet, mehr aus der verfügbaren Zeit zu machen – die logische Folge dieses Mehr ist ihre Verknappung. Tatsächlich wird Zeit von Menschen gemacht; aber sie ist nicht bloß von Menschen geschaffen, sondern sie ist je nach dem Stand der kulturellen Entwicklung eine soziale Einrichtung, die über den Menschen gebietet. Wir setzen Zeit im Erfinden von Intervallen, spielen mit ihnen in rituellen Gesten und Gebräuchen. Im Planen und Verhandeln, im Versprechen oder geschickten Hinauszögern entsteht in den Abfolgen zwi­schenmenschlichen Handelns die Erfahrbarkeit der Zeit. Sie hat vor allem mit der Macht zu tut, die Menschen mit den nötigen Strategien gegen einander ausüben. Zeit verbindet und trennt – die Kämpfenden wie die Liebenden. Doch paradoxerweise wird die Eigenzeit erst durch die Zeit der anderen ermöglicht. Erst wenn ein gemeinsamer zeitlicher Rahmen zur Verfügung steht, der weder von dem einen noch von dem anderen ganz beherrscht wird, können gewisse Zwänge gelockert werden, bis sich Freiräume ergeben. Zwischen Protagonisten setzt dies einen Prozess des ständigen Werdens, ein Aushandeln und eine Auseinandersetzung mit­tels ihrer zeitlichen Strategien voraus. Dem stra­tegischen Handeln in der Zeit und durch die Zeit stehen viele Techniken zur Verfügung: beschleunigen oder verlangsamen, versprechen, warten und warten lassen, im richtigen Augenblick entscheiden… Nachdem mittlerweile das Maschinenzeitalter mit seinen linearen Zeitabläufen dem Ende zu geht, weil Flexibilität als neue Zeitnorm entstanden ist, mutet diese Entwicklung durch die entsprechenden Wechselwirkungen nicht nur dem konservativen Beharrungsvermögen ungewohnte Lernprozesse zu, sondern verwandelt auch die zwischenmenschlichen Beziehungen. Nicht nur Maschinen und Technologien haben sich gewandelt und erfordern andere Zeitabläufe als jene, die die überkommenen Produktionstechniken vorgegeben haben. Diese Entwicklung ist in der zeitlichen Verfügbarkeit aufgegangen, die informationsintensive Technologien ermöglichen, aber auch voraussetzen. Ihre technische Umsetzung fand die Kreisläufigkeit in der Entwicklung immer leistungsfähigerer Computer. Die reibungslose Zirkularität von Informationen innerhalb eines digitalen Systems erlaubt es diesem, zu einem bestimmten Zustand immer wieder zurückzukehren. Die Voraussetzung, Zeit besäße eine selbständige Existenz, hängt nicht zuletzt mit der Tatsache jener sozialen Einrichtungen und Institutionen zusam­men, die viel zu unabhängig vom einzelnen Menschen geworden sind. Die beschleunigte Gesellschaft hat uns flexibler und wohlhabender gemacht, aber auch die traditionellen Haltepunkte und Sicherungen durch Gewohnheiten erodiert. Doch während Menschen einander antagonistisch als sinnstiftend, sym­bolisch interagierend, mitein­ander kommunizierend gegenüberstehen, tritt ihnen die Zeit der Institutionen als zähflüssig, beharrend entgegen. Während die Welt der Kausalität einer linearen Zeitlichkeit unumkehrbarer Veränderungen untersteht, gewährleistet das Symbolische, einen Zusammenhang zu einem späteren Zeitpunkt als Gleichen wiederzuerkennen. Tatsächlich sind wir in der Lage, an der Verfertigung unserer Zeiterfahrung zu arbeiten, auch wenn es erst unter Schmerz und Verzweiflung möglich wird.

Kaempfers Konzeption eines gedoppelten Zeitablaufs unterstreicht die uns mögliche Erfassung der zeitlichen Prozessualität. Im indexikalischen Koordinatenzentrum des Ich-Hier-Jetzt wirken zugleich zentripetale und zentrifugale Kräfte. Wir erfahren zum einen die irreversible Linearität des Zeitpfeils in die Zukunft, die der Verausgabung, der Entropie, der Evolution, der Gattungsgeschichte und dem individuellen Leben auf den Tod zu entspricht. Daneben wirkt aber zugleich eine zyklische, reversible Zeitform, die in rhythmischen Formen der Wiederholung der Selbsterhaltung von Systemen dient: Tagesabläufe, rituelle Feste, biologische Zyklen, Jahresumläufe; eine Zeit, die wieder zurück kann. Keine der beiden Zeitformen kommt dabei rein für sich vor, sondern ist zunächst immer komplementär mit der anderen verbunden. Beide können schneller oder langsamer werden, wobei ihre jeweiligen Geschwindigkeiten im umgekehrten Verhältnis zueinander stehen. Unter extremen Bedingungen kann dieser Wechselbezug zerreißen, wobei der Stillstand der einen Zeitform die Entfesselung der anderen auslösen wird. Kaempfer geht von einem zeitlichen Differential-Getriebe aus, das unter extremen gesellschaftlichen oder evolutionären Umständen zerbrechen kann. Der Körper legt dann ein Veto ein, wenn er in einer Art Todstellreflex erstarrt, weil die Geschwindigkeiten, die der Kopf projektiert, ein zuträgliches Maß überschreiten.

Doch auch diese Erfahrung transportiert eine Chance. Weil der Mensch durch Gewohnheitsbildungen und Institutionen lernbehindert wird, braucht es Schocks, die die Wahrnehmung aufrütteln. Jene bannende Ausgeliefertheit, die der Trägheit und dem Sicherheitsbedürfnis zu verdanken ist, muss gesprengt werden. In den meisten Fällen ermöglicht erst der Zusammenstoß mit einer Katastrophe systemische Lernschritte. Tatsächlich reicht es nicht, den Zusammenbruch eines Selbstvergewisserungssystems als Didaktiker auszulegen oder für sich arbeiten zu lassen, um die Panik umzuleiten; das wäre nur die Wiederentdeckung jenes theologischen Tricks, der dazu diente, nichts aus Katastrophen zu lernen. Auf diese Weise haben sich in der Geschichte diejenigen, die in einer Position saßen, anderen beizubringen, was ihre Sprachregelung als das Richtige bezeichnete, weitgehend gegen jedes Lernen aus Misserfolgen abgedichtet. Noch die ästhetische Erfahrung des Schiffbruchs mit Zuschauer liefert homöopathische Dosen zur Erhaltung jener Erfahrungs- und Lernresistenz – ein Großteil der Massenunterhaltung profitiert von diesem Erfolgsmechanismus. Die Routinen der Abschottung sind die Kehrseite der paläoanthropologischen Dimension des Sündenbockmechanismus! Die Tür zur Übertragung unerträglicher Spannungen auf ein Opfer wurde einst durch Initiationsriten aufgestoßen, während heute Affären und Skandale dramatische Entdifferenzierungen der Gesellschaft liefern – die Krise hebt die Trennung der Funktionsbereiche auf, setzt eine paranoide Deutungswirklichkeit frei, die normalerweise von den Vertretern der Institutionen dank der Komplexität eines zivilisatorischen Firnis unter Verschluss gehalten wird. Die Institutionen hätten keine derartige Durchschlagskraft gewonnen, wenn ihr Deutungsmonopol nicht in der Lage gewesen wäre, jene paranoiden Erkundungen in Schach zu halten, die die Sinneswahrnehmung nach der Dalí verdankten Prämisse Lacans offen und wirkungsmächtig strukturieren. Die Folgen von Institutionsmechanismen greifen derart ineinander, dass das normale Leben Erwachsener sich als tragbares Gefängnis erweist, in dem die Vergangenheit dem Vergessen ausgeliefert wurde und die Zukunft verbaut ist. Jenseits von Geschwätz und wuchernden Vorstellungen hilft oft nur, die Erfahrung eines Absterbens und Zersplitterns aller bisherigen Gewohnheiten zu durchlaufen, die einen scheinbaren Halt vermittelten. Nach Kamper liegt im Annehmen und Aushalten der dadurch freigesetzten Angst, die als vorweggenommener Tod das Leben erst lebenswert macht, das Versprechen einer anderen Wirklichkeit, in der Beziehungen und Gegenstände gegenwärtig werden. Diese Präsenz ist dann mit einer Anstrengung verbunden, die nicht als Anpassung an Gegebene, sondern als immer wieder neue Arbeit an der Bewegung des Begehrens begriffen werden muss und in einem feindlichen Kontext auch missglücken kann.

Auch wenn wir diese mit Nichts gesättigte Grundlage aller Erfahrung nicht wissen wollen: wir treten immer wieder auf die Schwelle. Über Jahrtausende hinweg waren den einzelnen Schwellen Initiationsriten zugeordnet, und wer sie überschritt, gehorchte der Veranderung. Trotz des Begriffs der Entfremdung und der Herr-Knecht-Dialektik, der damit einhergehenden Substantialisierung des Ich, ist in der Tiefenstruktur des abendländischen Wissens ein riskanter Erkenntnisbegriff aufbewahrt, den institutionalisierte und konformistische Theoriebildungen verdrängten und verleugneten – auf den sie dennoch immer angewiesen waren, weil er die Sehnsucht nach einer Erleuchtung, den Willen zur Wahrheit, diesseits aller halbherzigen Konventionen, erst einmal in Gang gesetzt haben musste, bis dann jenseits ihrer, auf der Rückseite des Wahns, noch einmal ein narzisstisch beschädigter Abglanz zu entdecken war: In den Selbstverstümmlungs- und Verleugnungsriten von Institutionsopfern oder Krüppelzüchtern.

Der soziale Tod kann eine einschneidende Variante der Erlebnismodi sein, die unsere Erfahrung auf einem übergeordneten Level neu formatieren. Eine andere Sozialisationsform könnte im 21. Jahrhundert dafür sorgen, sich ihm aussetzen, während man die gewohnten Kreise verlässt: die eigene Altersgruppe, Klasse oder Religionsgemeinschaft. Die Trennung setzt Größenfantasien frei, entblößt die Gewohnheitsmuster ihres institutionellen Glanzes, konfrontiert das Ich mit der Haltlosigkeit seiner Alltagroutinen. Der soziale Tod bewirkt den Zerfall der sozialen und kulturspezifischen Rollen; unbewusste Werte und Identitätsstützen beginnen sich aufzulösen, womit die den gewohnten Verhältnissen angepassten Wahrnehmungsweisen formlos werden. Die Panik mag einen Schwindel der Haltlosigkeiten erfahrbar machen, der fehlerhaften Identifikationen verdankte Gleichgewichtssinn kollabieren, doch auch ein Aufatmen ist möglich, wenn die Wirklichkeit plötzlich lichtdurchflutet wird, wenn die Farben leuchten und eine ungeheure Leichtigkeit den Körper erfasst: Wenn wir auf einmal die Gewissheit verspüren, von all dem Müll befreit zu sein. Beides impliziert Todesweisheiten, die wir nutzen könnten, wenn sich unsere Welt nicht längst von Initiationsroutinen verabschiedet hätte. Die intelligente Voraussicht einer Unausweichlichkeit des Todes untersteht einem institutionalisierten Tabu, das ihre Verleugnung in alle kulturellen Fühlfäden einschreibt, bis diese fundamentale Neurotisierung auf die Lust am Leben abfärbt: Askese und Raffgier, Selbstverstümmelung und Opferkult, Sparsamkeit und Machtbedürfnis versuchen im Imaginären eines ewigen Lebens Fuß zu fassen. Realistisch wäre es, die beschränkte Zeit sinnvoll zu nutzen, um die Kraft für Lebendigkeiten möglichst lange positiv abzufedern und zu befördern – der Glanz momentaner Glückserfahrungen verschwindet auch nicht angesichts der Ziellinie eines zu erwartenden Todes. Gegen Ende eines erfüllten Lebens stirbt es sich im Bewusstsein, nichts verpasst, aber jetzt die nötige Ruhe verdient zu haben, wesentlich leichter. Wäre der Mensch nicht einem Prozess der Entfremdung bis zur Verdinglichung ausgesetzt, würde er den Tod nach Adorno weniger fürchten – die Konditionierung durch eine Warenwelt der universalisierten Tauschgesellschaft verpasst uns die abstumpfende Erfahrung des Absterbens aller Lebendigkeiten; der Tod mitten im Leben bringt erst die Panik zustande, jede und noch die letzte Gelegenheit zu verpassen. Diese Prozesse und Gesetzmäßigkeiten legen eine Wahrheit frei, die die zwangsneurotischen Resultate der Verleugnung der Angst vor dem Tod in Schach halten könnte. Aber schon deshalb dürfen die entscheidenden Zeichen nicht beachtet werden. Alles andere eher ist üblich, um willige Konsumenten und unmündige Wähler hervorzubringen; Zeichen als Symptome unterstehen dem Tabu, werden mit Tranquilizern überspielt oder als Krisenindices mit Antidepressiva irrealisiert. Dabei haben sie den Schub einer lauteren Wahrheit, die durch  institutionalisierte Fehlinterpretationen unterdrückt und ausgeblendet wird. Der durch Rhythmen der Eigenzeit bereits vorbereitete Sprung im Signifikantennetz soll gar nicht erst versucht werden, damit die Person noch verstümmelter, als sie hineingeraten ist, aus einer privilegierten Erfahrung hervorgeht. Wichtig ist in diesen Fällen vor allem der Bezug auf die Alltagssituation: Auf mystische Offenbarungen oder extraordinäre Grenzerfahrung kann man/frau ein Leben lang warten, um die in der eigenen Biographie versteckten Möglichkeiten der Erweiterung und Veränderung der Spielräume der eigenen Rolle nur um so gründlicher zu verpassen. Schon zwischen dem Ich des Jetzt und dem des Geradeeben gibt es eine Entfremdung – nach einer Nacht voll heftiger Träume oder einer rauschhaften Erfahrung staunen wir manchmal, wie holpernd und mühsam eine Kontinuität zurückgeholt wird, solange das vergangene Ich von außen zu sehen ist. Dabei implizieren diese Brüche eine unerkannte aber gewaltige Chance. Priester, Gurus, Gelehrte, Dichter oder Stars liefern in der Position der Stellvertretung viele Gründe, die Rhythmen und Erfahrungsformen der eigenen Lebendigkeit durch Identifikationen zu verleugnen. Mögliche Veränderungen setzen aber gerade an den kleinen Begebenheiten an, an den in alltäglichen Zusammenhängen notwendigen Änderungen der eigenen Wahrnehmungsmuster und Verhaltensgewohnheiten. Nach dem Durchlaufen eines sozialen Todes landen wir am Rand jener symbolischen Ungewissheiten, die sich zwischen beengenden aber einander widersprechenden Schemata ergeben. Um Novalis zu paraphrasieren, liefert der soziale Tod eine höhere Offenbarung der Gesetzmäßigkeiten des bisherigen Lebens und stellt damit Regeln zur Verfügung, mit denen eine Neuformatierung ermöglicht wird. Greifbar wird der Kontext des aktuellen Lebenskontextes, mit dessen Evidenz ein Rahmen für nonkonfliktuelle Handlungen, Gesten und Sprachformen entsteht. Der Stellenwert kreativer Eigenarbeit kann nicht hoch genug angesetzt werden, wenn wir uns für eine kleine Ewigkeit auf der anderen Seite des kulturellen Lattenzauns befunden und dank der nötigen Intensität die Umkehrung des verdrängten und ständig wirksamen Opferkults erfahren haben. Der soziale Tod zeigt uns, wie die Grenze der Trauerarbeit mitten durch die alltäglichen Belange verläuft; ästhetische Erfahrung gestaltet die Grenze in Metaphern der Überschreitung; aber für ein Paar wird an dieser Grenze eine erotische Praxis der gemeinsamen Gestaltung des Hier und Jetzt als Resultat von Passagen und Wiedergeburten möglich.

Ein kaschiertes Gewaltmonopol auf dem Wissen und das gesellschaftlich erwünschte falsche Bewusstsein greifen im schlechten Status der Normalität wie Zahnräder ineinander. Die hergestellte Unbewusstheit befördert Angst, Ausgeliefertheit und Sadismus; sie ist im Endeffekt die Schaltstelle beschränkter Wahrnehmungen, neurotischer Dummheit, erwünschter Subalternität. Mit der Erfahrung des sozialen Todes sind diese Verkennungsanweisungen aufzusprengen. Die Erfahrung veränderter Bewusstseinszustände führte uns einmal auf wichtige Schaltstellen, an denen die Homöostase des Elends neu formatiert werden kann – es verwundert nicht, dass sie bereits in den Erfahrungen einer Verliebtheit auftauchen. Die Evolution hat uns mit einem wichtigen Repertoire für Selbstheilungskräfte und Immunisierungen versehen: Glückstaumel, außergewöhnliche Gefühle der Freude, Verzückung und Erleuchtung, Aufsprengung der Subjekt-Objekt-Dichotomie und universale Verschmelzung, Einssein mit der Welt und den Dingen. Mit Hilfe dieses Repertoires sind wir in der Lage, eine kulturell vorgegebene Weltsicht aufzugeben, die wir während der Kindheit und Sozialisation erworben haben. Dem Hinweis, wie häufig veränderte Bewusstseinszustände vorkämen, wie nötig und gesund sie für viele Individuen seien, entspricht das weitgehende Verbot in der westlichen Welt, ihre Bedeutung ernst zu nehmen und fruchtbar zu machen. Mit den Mußestunden in den kulturellen Nischen wurde ein Reservat geschaffen, damit zugleich dafür gesorgt, die immunisierenden Selbstheilungskräfte aus dem normalen Leben auszusperren. Noch das ideologische Korsett der stabilen Ich-Konstruktion in der klassischen Psychoanalyse und deren Nachfahren unterstreicht diese Arbeitsteilung – auf der Couch nehmen wir uns in einem sparsam vorgegebenen Rahmen noch die Zeit für jene umfassende Form der menschlichen Rede, für die wir im Alltag keine Zeit mehr haben dürfen oder wollen. Wir geizen mit der Aufmerksamkeit, schauen nicht mehr richtig hin und verbieten uns den Anspruch, ordentlich zuzuhören. Und das ist keine Schluderei, kein biophysisches Aufmerksamkeitsdefizit, sondern das Resultat einer Flucht aus der Gegenwart, deren Reizüberflutung uns bedroht und überfordert. Die Kaffeehäuser und Zeitungen der Aufklärung hatten die politische Partizipation, die Willensbildung und das Bedürfnis eines lösungsorientierten Sprechens face to face gefördert; das heutige Übermaß an anonymer Information bewirkt das Gegenteil, transportiert unverbindliche Phrasen neben gewalttätiger Aggressionsabfuhr, setzt uns wieder der Erfahrung eines Absolutismus der Wirklichkeit aus. In gewissen Situationen der extremen Ausgeliefertheit schaltet ein menschheitsgeschichtliches Repertoire aktive Techniken des Widerstehens an, die wir dank normaler Sozialisationsanforderungen überhaupt nicht erfahren sollten. Während anhand Jean-Pierre Vallas Untersuchung über 'Kulturelle und psychische Faktoren der Entstehung veränderter Bewusstseinszustände' eine durchgehende Linie von den Drogenerfahrungen zur Liebe als Duell festzustellen war, begann sich ein Modell der emotionalen Besetzung zu konstituieren, das zum Lernen in der Katastrophe, zum sozialen Tod und zu systemischen Sprüngen in den Lern- und Wissensniveaus wesentliche Einsichten beigetragen hat.

Die Rückführung von Bedeutungen auf schlichte Konventionen wurde verabschiedet durch die Absicherung der Semantik auf einem tiefer gelegten Fundament. Dank der Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte zum Entstehen von Gefühlen und der emotionalen Besetzung kognitiver Fähigkeiten hat der konventionelle Drill der pädagogischen Institutionen an Halt verloren. Die überwiegende Sozialisation von Kleinkindern durch die Mutter oder einen Mutterersatz ist eine notwendige Bedingung, die das Kleinkind aus den primären symbiotischen Beziehungsmustern in eine Phase konstanter Objektbeziehungen führt, die im Alter von zweieinhalb bis drei Jahren erreicht ist. Diese Objektkonstanz impliziert die Fähigkeit, über eine einigermaßen konstante innere Vorstellung des Selbst zu verfügen. Die affektive Qualität dieser Beziehungen setzt die Grundlage für das Begreifen der Wirklichkeit; Affekte sind in der frühen Kindheit der wichtigste emotionale Nährboden, ohne den keine kognitiven Prozesse ablaufen, weil ihre Verknüpfung spezifische Wahrnehmungen an eine Bedeutung bindet. Folgerichtig ist die Grundlage der Koordinatensysteme, innerhalb deren wir uns im späteren Leben orientieren, eine emotionale Besetzung von Bedeutungen. Schlichte Konventionen bedeuten uns auf Dauer nichts, selbst wenn sie noch so gut benotet werden – nur in institutionellen Zusammenhängen mögen sie biographische Misserfolgsgeheimnisse abpuffern. Die jeweiligen Institutionen haben spezifische Auswahlkriterien, die in der Folgezeit die bevorzugten psychischen Deformationen fördern oder zu weiteren Spezialisierungen auffalten. Im Gegenzug zur Perpetuierung der familialen Verstümmelung greift eine Umformatierung des biographischen Koordinatensystems an den emotionalen Besetzungen an. Werden Emotion und Bedeutung wieder getrennt, entkoppelt dies die Verknüpfung zwischen Objekt und gedanklicher Vorstellung und setzt Bindungsenergie frei. Wie sie sich fremd werden, treten merkwürdige Erscheinungen auf, die den Erfahrungen einer intensiven Verliebtheit entsprechen: Der Empfindung einer plötzlichen Helligkeit der Welt und die damit einhergehende Unbeständigkeit der Objekte. Das spontane Abziehen einer Besetzung tritt in der Regel im Zusammenhang mit einschneidenden Veränderungen im Leben auf: der Verlust einer geliebten Person, der Bedrohung durch eine äußere Gefahr, der kompletten Veränderung der kognitiven Bedingungen der Wahrnehmungen. Neben diesen modellhaften Katastrophen kann sich der Countdown einer künftigen Katastrophe einstellen, wenn die familiale Besetzung auf einen Menschen verlagert wird, mit dem das Versprechen eines gemeinsamen Lebens verbunden ist. In der Regel werden diese Prozesse durch einen starken Affekt beschleunigt, der den nötigen Druck ausübt, um eine Ablösung herbeizuführen. Das Abziehen der Besetzung gibt Erwachsenen die Möglichkeit, die in seiner frühen Kindheit erfolgte Konditionierung abzustreifen, um für Augenblicke in einer staunenswerten Präsenz anzukommen.

Wir können uns – und sei es mit der Starthilfe von Halluzinogenen – auf intensive Wahrnehmungen einlassen, um zu horchen und zu fühlen, um zu riechen und zu schauen, um uns von Rhythmen tragen zu lassen. Nach der gewöhnlichen Zeitvorstellung rauscht die Gegenwart, reduziert auf ein schmales mediales Fenster, unablässig an uns vorbei und wird ständig von der Vergangenheit geschluckt. Je mehr die Zeit der Beschleunigung untersteht, je schneller wir meinen, unsere Ziele zu erreichen, je weniger bleibt uns von der Erfahrung dieser Zeit übrig. Die paradoxe Entwicklung, die Erfahrung beschleunigter Lebens- und Produktionsprozesse die Zeit immer knapper erscheinen zu lassen, obwohl wir nachweisbar immer mehr Zeit zur freien Verfügung haben, ist weniger einem Diktat der Chronokratie zu verdanken, als der Unfähigkeit, mit sich einverstanden und bei sich zu Hause zu sein – vermutlich ist die Chronokratie erst aus dieser Fluchtbewegung entstanden. Aus jener Abwesenheitsdressur, die wir den Wunschbildern und Erwartungsmustern der Mütter verdanken, wird ein Motor der Anwesenheitsverweigerung und der Weltflucht. Die symbolischen Erscheinungsformen, mit denen das magische Erbe der Mutterabhängigkeit bemerkbar wird, sind in allen Distanzierungsformen zu bemerken, sei es in der Regredierung auf verschiedene Formen der Partnerunfähigkeit, sei es in den verhärteten Rückgriffen auf jene verhärtete Form der Ehe, bei der die Konventionen bereits dazu dienen, möglichst wenig an der Lebenswelt des anderen Geschlechts teilzuhaben. So ist es nur stimmig, wenn wir umso offener für eine/n Partner/in werden, umso unwichtiger der ursprüngliche Mutterbezug dank einer erfüllten Sexualität geworden ist. Selbst das Bedürfnis nach dem Aufenthalt in Ideologien und Ersatzreligionen kann durch hohe Dosierungen von Sex pur abgestellt werden, ein exzessiver Drogenkonsum kann sich als uninteressant herausstellen – dem Motor der ursprünglichen Abhängigkeiten ist damit der Treibstoff zu entziehen. Erst die Erfahrung, mit einem anderen Körper zu einer Einheit zu verschmelzen, kündigt den anfänglichen Eigentumsanspruch auf. Mit den nötigen Routinen erfahren wir das Hier und Jetzt als Feld, in dem wir empfinden und uns bewegen… Diese Erfahrung muss sich nicht einmal fremd anfühlen, nur intensiv und umfassend. Bis zu diesem Punkt der Entwicklung war sie lediglich dank profaner Erleuchtungen, die bereits die Erfahrung lieferten, wie wir uns in der kulturellen Nische der Musik orientieren, auf einen entwirklichten ästhetischen Rahmen beschränkt. Während wir Musik hören, sind wir in einem zeitlichen Feld der Nachahmungsneuronen, das Bewegungen in beiden Richtungen ermöglicht: Wir wissen nicht nur, was wir gehört haben, wir wissen auch bereits, was darauf folgen wird. Für Lévi-Strauss wird die Musik in der Einleitung von ‚Das Rohe und das Gekochte‘ wie der Mythos zu einem die Zeit beseitigenden Verfahren, während dem wir beim Hören an einer Art Unsterblichkeit teilhaben. Es gibt momentane Ewigkeiten, in denen die Gesänge in den einzelnen Zellen, das Rauschen und Vibrieren ihrer zeitlichen Ausfaltung, zu einer Woge des überbordenden Lebenswillens anschwellen und über alle Dämme der institutionalisierten Stillstellung treten. Die Erfahrung der Präsenz setzt einen anderen, nichtlinearen Zeitprozess voraus. Kittler hat immer wieder unterstrichen, warum die institutionalisierten Künste lediglich imaginäre Beziehungen zu den Sinnesfeldern unterhalten, die sie voraussetzen. Während Buchstaben und Papier nur Vorstellungen der Lesenden in Bewegung setzen, haben die die Physiologie erweiternden, verstärkenden Medien, allem voran der Sound, selber einen teilhabenden Bezug am Realen. Akustische und visuelle Medien sind, solange sie noch keiner Digitalisierung unterstehen, von genau der Materialität mit der sie arbeiten: Gerade ihre indexikalische Verhaftetheit in den Sinnesdaten lässt sie das Spiel auf und mit den Nerven beherrschen. Die mit ihnen freigesetzte Bewegung befördert noch unterhalb der Sphäre der Bedeutungen eine Bejahung des Fließens und der Wandlungen der Lebendigkeit, in der sich Vergangenheit und Zukunft tangieren und in ihren feinsten Aromen mischen. (Weil wir keine Nullen und Einsen hören oder sehen, unterstehen die digitalisierten Medien einer analogen Rückübersetzung, die dank durchschnittlicher Technik bereits den Index aufs Reale reproduziert.)

Was einmal als Seele bezeichnet wurde, kann als Fließgleichgewicht jener körpereigenen Drogen verstanden werden, die im besten Fall wie eine gelungene musikalische Improvisation auf der Grundlage der im Laufe eines Lebens dichter und tönender werdenden Harmonie antwortet, im schlechtesten Fall aber eine Homöostase des Elends als Kakophonie dröhnen lässt. In vergangenen Epochen mag sich dieses vordiskursive Geschehen des relativ zeitenthobenen Standindexes durch Zeiten und Räume mitgeteilt haben –  im Status einer informalisierten Normalität wird es durch all jene Botschaften übertönt, die dafür zu sorgen haben, dass wir arbeiten und konsumieren, um der Wirklichkeit von Kapitalbewegungen zu dienen. Erst die Entfremdung von all jenen scheinbaren Sicherheiten, die wir der Pathologie der Normalität verdanken, produziert einen Überschuss, die Sprache wird spielerisch, nimmt das Wörtliche symbolisch, widersteht damit den Zwängen einer fehlerhaften Selbstidentifikation. Erst wenn wir Sprache jenseits von Information und Instrumentalisierung verwenden, stellen wir jenes Medium her, in dem eine umfassende Koordination des Hier und Jetzt ermöglicht wird. In diesem Zusammenhang greift Sonnemanns Kritik an den Bildwelten und der Vorherrschaft des Imaginären – für Hans Jonas ist das Sehen der Sinn des Gleichzeitigen und Koordinierten, für Sonnemann dagegen das Hören einer Abfolge die Grundlage des vernünftigen Vernehmens. Der Streit um die Wirklichkeit der Zeit als räumliche Bewegung steckt noch in Kants Begriff der Zeit als An­schauungsform, die eine Verräumlichung darstellt, wie dies jedes Uhrwerk nahelegt. Mit der Beschreibung Burckhardts fließt die Zeit der mechanischen Uhr nicht mehr, sondern die die Zahnräder antreibende Kraft untersteht einer Hemmung, sie ruckt Zahn um Zahn voran. Ihr Fluss wird in distinkte, klar unterscheidbare Zeitpunkte zerlegt, der Zahn der Zeit produziert Zeitzeichen, die zu lesen sind. Diese seit Jahrhunderten beschleunigte Routine der Übersetzung des Zeitflusses in ein gedankliches Räderwerk wurde mit der Entwicklung fotographischer Apparaturen sogar noch überboten, dank denen der Bewegungsfluss in aufeinanderfolgende, minimale Zeitmomente einzufrieren war. Diese Entwicklung mag sich neben der zunehmenden Wucherung von Verwaltungsstrukturen als Erklärung der im Prozess der Zivilisation zunehmenden Antriebsstörungen anbieten. Ganz analog negiert Kants Anschauungsform die Zeit als Bewegung; eine sinnliche Erfahrung dieser Bewegung, die die Zeit doch zuerst und entscheidend ist, zählt nicht mehr. Dabei nehmen wir, die Unumkehrbarkeit der zeitlichen Bewegung als selbstver­ständlich vorausgesetzt, etwas keineswegs Erstaunliches wahr: Sämtli­che Phänomene, in denen Zeit sich gliedert und artikuliert, die sich nur ihr und nicht dem Raum verdanken, erfahren wir rhythmisch-akustisch. Das Entscheidende für Sonnemann ist, wie dies ihrer Bestimmung als Anschauungsform spottet. Alle Sprache, alle Musik, aller Rhythmus, alle vernünftige Verständigung wenden sich ans Ohr, nicht ans Auge. Ihre Abkunft stammt aus der Gemeinsamkeit des Gesprächs, der Aufmerksamkeit einer dialogischen Wachheit, die das Vernehmenkönnen aus einem Zuhörenkönnen begreift. Anhand von Tomatis Untersuchungen zur vorgeburtlichen Kommunikation sind weitreichende Unterstreichungen der von Sonnemann präparierten, auf erkenntnistheoretischen Konklusionen beruhenden Beobachtungen aufzuzeigen. Er kennzeichnet das Horchen als eine Gabe höherer Ordnung, die sich zwar mit Vorliebe des Gehörs bedient, aber als Fähigkeit zu beschreiben ist, die über die organische Funktion des Ohrs weit hinausreicht, sich an der Klangwelt der jeweiligen Wirklichkeit orientiert. Damit kann es zu einer über alle Grenzen ausgeweiteten Verbindung mit einem Ganzen kommen, als dessen kleiner Teil sich der Mensch erfährt. Die Fähigkeit sich dem anderen zu eröffnen, nicht nur zuzuhören, sondern zu Horchen, führt zu feinsten Wahrnehmungen, damit zu scharfsinnigen Schlussfolgerungen. Zu horchen auf das Substrat all der Erscheinungen, die die Welt des Menschen bilden, führt zu einer fortwährenden Anteilnahme und Freude an den geringsten Details der Schöpfung: Das Leben zu bejahen heißt horchen, also nicht gehorchen, nicht nachplappern oder mitbeten. Beide Relate, das Horchen und das Leben implizieren die Gegenwart eines sich entwickelnden Seins, das auf die Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung selbst horcht. Gegenüber dieser Variante des Lernvermögens, die sich mit den aktuellen Entwicklungen der theoretischen Physik überschneidet, den Aufenthalt in einem kreativen Universum anempfiehlt, ergibt sich zwingend die Frage, was von der selbstreflexiven Vitalität alles durch eine Erziehung zu stillgestellten Konsumenten und kritiklosen Automaten abtötet wird? Schulen und Ausbildungsstätten produzieren Bonsais und Zombies, außerdem Verstümmelte, die sich als Krüppelzüchter an der ausgesaugten Lebendigkeit therapieren. Trotz eines Erkenntnistands auf dem Level von Unschärferelation, Feldtheorie und Quantenverknüpfung fragt Jonas nicht danach, wie die Einzigartigkeit des Sehens in Hinsicht auf die Simultaneität der Präsentation eines Mannigfaltigen prozessiert wird. Sehen wird für ihn zur Darstellung von Gleichzeitigkeit durch Gleichzeitigkeit – diese Einheitlichkeit des Imaginären erinnert nicht zufällig an die ursprüngliche symbiotische Einheit während der einem nicht einmal der eigene Schmerz gehörte. Dabei scheint uns das Auge lediglich ein Tableau zu präsentieren, während alle anderen Sinne ihre wahrgenommenen Vereinheitlichungen des Mannigfaltigen aus einer zeitlichen Abfolge von Sensationen konstruieren. Die perzipierten Qualitäten haben Prozesscharakter, sind in der Musik besonders offensichtlich Resultate einer Zeiterfahrung – nicht anders übrigens, als beim Sehen, das auf codierten Gewohnheitsmustern beruht. Der Code übersetzt optische Eindrücke in Vorstellungen, die dem entsprechen, was wir schon einmal gesehen haben, schon deshalb wiegen wir uns in der umfassenden Illusion einer Unmittelbarkeit!

Lévi-Strauss schlägt in der ‚Luchsgeschichte‘ für die Erkenntnistheorie einen Bogen von den Mythen schriftloser Gesellschaften zu den Unvorstellbarkeiten einer wissenschaftlichen Zivilisation, die erneut auf Mythen zurückgreift. Während die positiven Erkenntnisse am Anfang weit hinter den imaginativen Kräften zurückblieben und dem Mythos durch Erzählung und verkörpernden Ritus die Aufgabe zufiel, diese Lücke zu schließen, befinden wir uns in der Wissensgesellschaft in der umgekehrten Situation, die zu einem vergleichbaren Ergebnis führt. Mittlerweile sind mathematisch-naturwissenschaftlich gewonnene Fakten den Kräften der Imagination soweit voraus, dass unserem Vorstellungsvermögen nur das Hilfsmittel bleibt, wieder auf den Mythos zurückzugreifen, um jene von den Wissenschaften enthüllten Gesetzmäßigkeiten anschaulich zu begreifen. Mythische Darstellungs- und Denkformen vermitteln erneut zwischen der Inszenierung der Gelehrten auf der Kanzel oder in den Medien, die durch Berechnungen Zugänge zu einer unvorstellbaren Realität aufgetan haben. Dem Laien, der wissen will, wie eine Realität zu verstehen sei, deren mathematischer Nachweis alle Befunde der sinnlich-anschaulichen Intuition Lügen straft, bleiben Erzählungen als einziges Kommunikationsmittel der Wissenschaft. Die Namen oder Bildwelten, die sich Gelehrte ausmalen, um den Abstand zwischen makroskopischer Erfahrung und den dem Laienverstand unzugänglichen Wahrheiten zu überbrücken, haben sämtlich den Charakter von Mythen. Noch dazu gehorchen die Narrative einer heraklitischen Dialektik, nach der ein in diese Konstruktionen verstricktes Denken zwingend antithetische Ergebnisse hervorbringt, am prominentesten die Ambivalenz heilig-verflucht und recht aktuell der Welle-Teilchen-Dualismus. Berechnungen haben nur einen Sinn für den Forscher, solange er auf seine Apparate und Formeln vertraut und kein Bedürfnis verspürt, die Ergebnisse umgangssprachlich zu übersetzen. Der ehrliche Laie wird allerdings gestehen, dass die Konkretisierungen mit keiner seiner Vorstellungen von Welt zu verbinden sind. Für ihn wird wie in theologischen Spekulationen eine übernatürliche Welt vorausgesetzt, die nur durch die Übersetzung in eine mathematische Sprache überhaupt an Sinn gewinnt. Und doch gibt es genügend Beispiele ‚genialer Gehirne‘, theoretische Forscher, denen eine Lösung im Traum erschien oder durch eine zufällige Beobachtung in der Natur, durch eine Begegnung auf der Straße nahegelegt wurde. Unsere Wirklichkeit ist eine über die Jahrhunderte gewordene Konstruktion, die nicht nur der Domestizierung unserer Naturerfahrung gehorcht, sondern auch den gesellschaftlichen Verfügungen der Macht, was überhaupt der Wahrnehmung unterstehen darf. Eine Dialektik der Aufklärung macht sich bis in die Deformation unsere Sinnensysteme hinein bemerkbar: Was uns von einer übermächtigen Natur befreien sollte, von den durch ihre Erfahrung ausgelösten Ängsten, hat auf all das zurückgewirkt, was wir mit der Natur teilen. Der Zauber, den eine erste Aufklärung durch die Erkenntnis der Welt loswerden wollte, hat die erkennenden Subjekte überformt; methodisches Denken wurde weitgehend zu einem ritualisierten Zwangsverhalten, das der Angstbewältigung verpflichtet war. Die Ordnung und Gesetzmäßigkeit, denen man sich verpflichtet fühlte, waren solche geschlossener Welten – aus diesem Grund war für Kamper die einzige Kritik der Moderne mit Erfolgschancen eine Kritik des Mythos und seiner imaginären Zwangsläufigkeiten. Vielleicht transportieren Erzählungen als ursprüngliche Antriebe des Mythos noch immer die Fähigkeit, sich anderem zu eröffnen. Märchen waren nicht nur die ersten Ratgeber der Kindheit, sie wurden insgeheim zu Sozialisationsagenturen von Blockbustern. Weil wir auch in einer überkomplexen Welt nach Sinn und Gerechtigkeit suchen, greifen die ursprünglichen Erklärungsmuster – in manchen Fällen sind sie den beschränkenden Imperativen des wissenschaftlichen Denkens noch immer überlegen. Wie häufig werden uns Verhaltensweisen des Horchens präsentiert, Thematisierungen einer tierischen Körperbeherrschung verbunden mit einem entfalteten Sinnenbewusstseins, dank dem sich feinste Wahrnehmungen und scharfsinnige Schlussfolgerungen einstellen, die allem zu widersprechen scheinen, was die in den letzten Jahrhunderten sozialisierten Anschauungen nahelegen.

 

Alle Erfahrung setzt eine durch die Zeit strukturierte Wirklichkeit voraus. Diese Zeitstruktur als Erfahrung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist ein Prozess in der Zeit, also selbst wieder zeitstrukturiert. Mit Picht ist von einer Verschränkung der Zeitmodi zu auszugehen, von der Vergangenheit der Gegenwart, der Gegenwart der Gegenwart, sowie der Zukunft der Gegenwart. Mit Vergangenheit und Zukunft als den beiden anderen Zeitmodi ergeben sich neun Verschränkungen die wir in einer indexikalischen Zentralperspektive des Ich-Hier-Jetzt wie selbstverständlich handhaben, während wir die Gegenwart der Gegenwart nur einige wenige Sekunden als Präsenz erfahren. Nachdem das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion gekennzeichnet wurde, ist nicht zu übersehen, dass sich die anfängliche Konstruktion der Zentralperspektive dem Spiegel, also der Übertragung des Imaginären in die Mathematik verdankt.

Als Einstieg zum Thema Präsenz bedienen wir uns am Artikel ‚Eigenzeit‘ des ‚Historisches Wörterbuch der Philosophie‘. J. v. Uexküll hat die These aufgestellt, in jeder Umwelt, die vom Subjekt hervorgebracht wird, herrsche eine eigene Zeit. «Die Zeit, die alles Geschehen umrahmt, scheint uns das allein objektiv Feststehende zu sein gegenüber dem bunten Wechsel ihres Inhaltes, und nun sehen wir, dass das Subjekt die Zeit seiner Umwelt beherrscht. Während wir bisher sagten: Ohne Zeit kann es kein lebendes Subjekt geben, werden wir jetzt sagen müssen: Ohne ein lebendes Subjekt kann es keine Zeit geben.» Die Vorstellung einer subjektiven Eigenzeit geht auf Baer zurück, der 1864 in einer Rede die Fragestellung einer subjektiven Zeiteinheit umriss. An einleuchtenden Beispielen stellte er dar, wie einem Wesen mit erheblich verlängerter oder verkürzter subjektiver Zeiteinheit die Welt erscheinen müsse: Wäre bei einem Menschen die subjektive Zeiteinheit um das tausendfache verkürzt, würde eine Gewehrkugel im Flug stillstehen; wäre sie aber entsprechend verlängert, würde die Sonne als feuriger Bogen imponieren. Während Baer noch keinen Terminus für die subjektive Zeiteinheit einführte, wird diese seit Uexküll als ‹Moment› bezeichnet. Er definiert diesen als «jene Spanne Zeit, die ein Lebewesen verwendet, um äußere Eindrücke als gleichzeitiges Merkmal aufzunehmen» und sieht «die Ursache hierzu ... in einem inneren Rhythmus des Zentralnervensystems, der bei verschiedenen Tieren große Unterschiede aufweist». Man kann den Moment als den «Zeitraum» definieren, innerhalb dessen wir Reize, unabhängig von ihrer objektiven Zeitfolge, als gleichzeitig empfinden. Untersuchungen aus neuerer Zeit bestimmten die Dauer des Moments auf im Mittel 102 Millisekunden. Die von Baer erschlossene Vorstellung lässt sich heute mit filmischen Mitteln als Zeitlupe oder als Zeitraffer anschaulich machen. Ansätze zu einer experimentellen Bestimmung des Moments bei verschiedenen Gattungen finden sich bereits bei Uexküll. Wäre unser spezifisches Zeitmaß ein anderes, sähe unsere Welt anders aus – dabei sollte nicht übersehen werden, dass diese Unterschiede nicht nur einzelne Gattungen betreffen. Je nach Lebensstil, Umweltanforderungen und Lernvermögen fallen diese ‚Momente‘ schon für einzelne Individuen ganz verschieden aus, oft genug treffen verschiedene Welten aufeinander, manchmal sogar in ein und demselben Kopf.

Blumenberg unterstreicht in ‚Lebenszeit und Weltzeit‘, dass unsere Welt anders aussähe, wenn das dem Menschen eigentümliche Zeitmaß ein anderes wäre. Prinzip der Erfah­rung ist eine aus dem unendlichen Fundus der Materie hervorgehende Kosmogonie, die ständig alle Stadien ihres Gesamtprozesses empirisch vorweist. Damit erst gibt es eine Ausflucht des Menschen aus seiner theoretischen Fixierung auf den Absolutismus der Zeit: die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen im Raum. Dieses Mittel der theoretischen Zeitraffung dient der Darstellung des Ganzen im Nebeneinander seiner Relikte und Möglichkeiten. Wenn er die Voraussetzung des spezifischen Zeitmaßes in einer Form des biologischen Funktionstauschs von Lebenszeit und Weltzeit komplementär betrachtet, in der Verlängerung der Lebenszeit und der Verlangsamung des Standards Pulsschlag, ereilt ihn „ein aufregender Augenblick des Gedankens“, der für meine Argumentation in jener Gesetzmäßigkeit der Stillstellung der Kräfte des Individuellen durch ihre Institutionalisierung mündet. Das ursprüngliche Programm der Neuzeit richtete sich gegen das auf Spekulationen beruhende System der mittelalterlichen Scholastik. Als Realität galt der Aufklärung nur noch das mit den Sinnen Wahrnehmbare oder das, was sich mit menschlichen Mitteln auf das Resultat von Druck und Stoß zurückführen ließ. Dennoch war es die Wissenschaft selbst, die der Unsinnlichkeit wieder die Tore öffnete. Unsichtbares, überhaupt Unmerkliches führte mit der Newtonschen Physik erneut dazu, Kräfte anzunehmen, für die der Mensch kein Organ besitzt und deren Existenz lediglich aus geordneten Zahlenverhältnissen zu erschließen war. Die durch keine Aufklärung entkräftete Bereitschaft, dem Nichtwahrnehmbaren alles zuzutrauen, wurde durch die mathematische Interpolation abgeschirmt, die allein die Öffnung für noch Unbekanntes vertretbar machte. Die Bandbreite der Erfahrungsformen der Lebendigkeit wurde Normierungen unterworfen, die vor der Überflutung durch Magie und Spekulation schützen sollten, aber die Pathologie der Normalität derart eng abzirkelten, dass bereits romantische Künste bedrohlich wirkten, Erotik oder Traumerfahrung vom Wahnsinn umwittert waren.

Wie tief diese Formatierung angelegt ist, hat Hacking nachvollzogen, als er im Kapitel ‚Vor dem Gedächtnis‘ demonstriert, warum der Kulturimperialismus längst nicht tot ist; heute wird er professionell von Psychiatern anstelle von dilettantischen Missionaren betrieben. Statt von der Ethnologie zu lernen, wie sehr unsere Erfahrungsformen im Prozess der Aufklärung reduziert und beschnitten worden sind, werden westliche dissoziative Störungen nicht etwa als eine lokale und spezifische Form von Trance angesehen, sondern die Trance wird als Untertypus einer westlichen Krankheit der dissoziativen Störungen betrachtet. Schlimmer noch: Die Psychiater verwandeln zentrale und bedeutungsvolle Bestandteile anderer Kulturen in Pathologien mit der Rechtfertigung, während im Westen multiple Persönlichkeiten auftreten, habe fast die gesamte übrige Welt die Trance. Für Hacking ist das kein Grund, die Trance in eine Störung umzuwandeln, die der dissoziativen Störung gleichkommt, die bisher eine nur dem Westen eigentümliche Geisteskrankheit war. Tatsächlich ist von einem innerem Team auszugehen, das in einer immer komplexeren Welt bei einer weichen, für verschiedenste Perspektiven offenen Sozialisation lernt, vielfältige Aufgaben zu koordinieren. Wenn die Erziehung zu einem Charakter, zu einem gepanzerten Ich, durch die Beschränktheit dumpfer Deppen forciert wird, kann eine multiple Persönlichkeit das Ergebnis sein. In jedem Fall fällt das Sendungsbewusstsein der westlichen Normalitätsemphase auf uns selbst zurück: Was wir den anderen vorschreiben, wird in Sozialisation, Schule und Ausbildung als Beweisfigur an den eigenen Generationen durchexerziert. Die Empfangsbereitschaft für die Botschaften eines der Lüge unfähigen Körpergeschehens wird gestört, die Basis einer gattungsspezifischen Klugheit empfindlich erodiert. Nietzsche machte bereits das Prinzip fehlerhafte Identifikation für Irrtümer verantwortlich, die aus dem wissenschaftlichen Zurechtbiegen der erwünschten Ergebnisse resultieren; die vorausgesetzte Gleichheit ist ursprünglicher als das Erkennen der Gleichheit: Die Projektion wird so Voraussetzung des Denkens. Für die gesellschaftlichen Funktionszusammenhänge des Westens zeigt Hörisch anhand des Geldes, wie gültiges Erkennen zur Täuschung über den eigentlichen Sachverhalt wird, wenn das Konstitu­tionsverhältnis der Erkenntnis ein Verweisungszusammenhang der Verkennung ist. Die Komplexität des Geldes erklärt sich durch den Bezug auf ein Symboldenken, das ursprünglich aus der Erfahrung des Heilig/Verfluchten erwächst – das Symbol ist kein Werkzeug der Rationalität, sondern ein Kennzeichen des Sakralen. Die Eigenheit des Geldes resultiert weniger aus dem Tauschwert, als aus seiner Beziehung zur Macht, die den Bezug zum Sakralen vermittelt. Was als Reichtum erstrebt wird, ist tatsächlich die Macht über Menschen, über deren Arbeitskraft wie Leistungsfähigkeit. Die elementaren Formen des Denkens sind Epiphänomene des Äquivalententauschs; sie machen damit eine Kritik der politischen Ökonomie zur Kritik der unrei­nen Vernunft. Wir haben nicht nur vergessen, dass es tatsächlich um das schmutzige Heilige im Leben geht, wir sind sogar noch dazu verdammt worden, dieses Vergessen gründlich zu vergessen. Unsere Rationalität erweist sich als relativ, weil das für den Wahrheitsanspruch postulierte Transzendentalsubjekt der universalisierten Warenform gehorcht. Selbst eine Theorie des kommunikativen Handelns wäre nur dann durchzuhalten, wenn wir von allen strategischen Sprechakten absehen – der meisten Kommunikation liegt die Information nur am Rande zugrunde, während deren Betätigungsfeld die Manipulation in den verschiedensten Varianten ist. Dieses Abhängigkeitsverhältnis von Geist und Geld wird in den Führungsetagen zynisch gehandhabt, während es die kriminellen Randzonen der Gesellschaft auf einen Realgehalt reduzieren, von dem noch die Ordnungsmächte und das Finanzministerium profitieren. Durch demokratische Parteien vertretene Herrschaftsverhältnisse, die durch Geld und Macht korrumpiert werden, preisen eine Stabilität an, deren Halt und Sicherheit sie vermitteln, und vor dem Hintergrund totalitärer Regime haben sie sogar recht. Aber wenn eine Demokratie durch den konservativen Grundsatz, dass neben dem Konsens über unverrückbare Werte alle über alles reden können, um damit den Veränderungswillen und das Lernvermögen zu ermüden, wenn das Gerede also vor allem dazu dient, alles wie gewohnt bleiben zu lassen, ist in einer Zeit des enormen technischen Wandels, der dank der Globalisierung wandernden Machtbalancen, höchstens ein kleiner Aufschub zu gewinnen. Was die subalternen Parteigänger der Macht nicht beunruhigt, solange für ihre Bedürfnisse nicht alles relativ ist, sondern Geld und Einfluss absolute Werte bleiben. Aufgrund einer Position an den Schalthebeln der sogenannten Volksparteien bringen sie ihre Schäfchen ins Trockene, sichern ihren Ablegern mit dem Einfluss des Namens die Zugriffsmöglichkeiten, bei einem der nächsten Versuche, die großen Institutionen zur Selbstbedienung zu verwenden und künftige Generationen standesgemäß abzusichern.

Tatsächlich führt die Relativität längst nicht zur oft genug befürchteten Haltlosigkeit, denn sie setzt Lernvermögen und Flexibilität frei; jede Relation steckt in universellen Bezügen. Wenn das Prinzip Relationalität in seiner ganzen Tragweite umgesetzt wird, gibt es nichts, das nicht über alle möglichen Umwege mit allem anderen verbunden ist – eine frühe Spur findet sich bereits bei Platon, für den Eros als reine Relation gedacht werden soll. Schönheit hat auf der hormonellen Ebene eine Wirkungsgewalt, die eine stringente Logik auf der Ebene der Argumentation noch überholen kann – eben diese hormonellen Auslöser synchronisieren Schönheit und Augenblick. Für Bohrer gibt die Schönheit dem Augenblick den Charakter einer erschreckenden Erfahrung, verleiht ihm eine Inkommensurabilität, die nicht nur die surrealistische Erotik prägte, sondern bereits in Rilkes ‚schrecklichem Anfang‘ aufblitzt. Die Emphase des Tuns, des Erlebens überformt das Subjekt, es verschwindet in einer Woge des Mitgerissenwerdens. Wenn es heißt, die Faszinationskraft einer schönen Frau werde durch ihre Dummheit nicht beeinträchtigt, höre ich nur das Ressentiment der abgeschlagen hinterher hinkenden Konkurrenz. Wenn Mathematiker von der Schönheit eines Beweises sprechen, ist dies beileibe keine Metapher, so abgestorben und kalt manche Formel auch erscheint, transportiert sie doch einen Nachhall der Beweiskraft der Schönheit. Aus unvordenklichen Zeiten hat sich die Ahnung erhalten, dass Wahrheit eben nicht nur eine Funktion von Sätzen ist. Was irgendwann einmal als abgehobene Funktion der Vernunft behauptet werden konnte, ist der Intelligenz körperlicher Routinen nicht vorausgegangen, sondern verdankt sich Abstraktion und Generalisierung, greift auf eine schlaue Kette von Erfahrungsformen zurück, die nicht bewusst gewesen sein müssen, aber zu Handlungsanweisungen taugten, weil sie passten, weil sie stimmig waren, weil sie ineinander griffen wie die sexbedingte Zivilisierung männlicher Jagdbeuter durch die Erfahrungsformen weiblicher Sammlerinnen. Als in der griechischen Philosophie die Verkleinerungsform des Eros an die Stelle von Aphrodite getreten ist, haben wir es mit dem Beginn jener grundlegenden Verleugnung zu tun, die die kulturschwule Vereinigung konstituiert. Unter der Perspektive Virilios mag mit dem Frauenraub die Domestizierung der Frau zum Lasttier begonnen haben, womit für den Mann eine erste Freisetzung von unabhängiger Mobilität verbunden war. Während die Frau für die Gepäckbeförderung sorgt, kann sich der Jäger zum Krieger entwickeln, sich zum Männerjäger entwickeln und dem homosexuellen Duell widmen. Die untergeordnete Rolle der Frau in den durch die Großreligionen geprägten Institutionen entspricht der Selbstabgrenzung des Männlichen vom Weiblichen, wie dies in Schultes ‚Philosophie der letzten Dinge‘ vorgeführt wird. Die Seel- und Selbstsorge der Priester, Theologen, Philosophen und Theoretiker dient der Pflege wie Optimierung des männlichen Selbstbewusstseins. Von den Frauen übernehmen sie die Kompetenz für die letzten Dinge: Geburt, Tod und ewiges Leben – wobei das Verschmelzungsbedürfnis der Mystiker, die Wonne des mütterlich-Numinosen im Modus des Als-Ob in kulturellen Nischen gepflegt als auch entkräftet wird. Nicht nur für Schulte weist Nietzsches Schlussfolgerung, die Wahrheit könnte ein Weib sein, auf die fällige Rehabilitation des Verdrängten hin, das der Geschlechtsumwandlung des Göttlichen zu verdanken ist. Wenn an anderer Stelle die Spuren von Nietzsches Initiation durch einen älteren Mann verfolgt werden, sind tatsächlich alle Konditionen der kulturschwulen Vereinigung auf den Nenner gebracht – womit an dieser Stelle nicht ausführlich auf biographischen Abschweifungen zum Thema päderastischer Verführungen zurückgegriffen werden muss. Für Virilio ist bereits das domestizierte Weib die erste logistische Stütze zur Vorbedingung einer Möglichkeit des Krieges, weil es die Sorge für den Nachschub übernimmt. Sie ermöglicht die erste Revolution des Transportwesens und erlaubt dem von ihr delegierten Jäger eine Spezialisierung auf die Entwicklung von Machtritualen und Finten, von Strategien und Taktiken, um sich nicht nur im symbolischen Schwanzlängenvergleich mit anderen Männern zu messen. Entscheidend für unseren Zusammenhang ist die Genese jener weiblichen Körperschaften, die eine gleichgeschlechtliche, männliche Elite der Bewegung und Innovation hervorbringen, ohne die eine Akkumulation von Energie und Wert, die Kapitalisierung der Güter und des Reichtums, unmöglich gewesen wäre. Gegen die Macht der weiblichen Magie waren Logik, Rhetorik und Heuristik noch die harmlosesten Waffen – die gesellschaftliche Abwertung der Frau war eine Langzeitstrategie, während ihre ursprüngliche Macht in einem Prozess der gegenseitigen Domestizierung an dromokratische Institutionen delegiert wurde. Im ‚Philosophischen Sperrmüll‘ tauchen bereits jene weiblichen Körperschaften auf, die in der Verlängerung eifersüchtiger Mütter agieren und reale Frauen ausschließen oder zu Wesen zweiter Wahl verwünschen. Deshalb lautet der von Kittler formulierte Imperativ, mit dem solche Institutionen über ihre männlichen Mitglieder verfügen: Bevor man eine Frau haben darf, hat man die mütterliche Körperschaft zu begehren. Ein solch verordnetes, primordiales Begehren ist abgründig, weil es in Konkurrenz zu den hormonellen Bindungskräften errichtet worden ist. Jeder unbefriedigte Mann ist manipulierbar, aus diesem Grund resultiert die Macht von Institutionen aus der Verfügung über jene göttlichen Energien, die die Beherrschbarkeit garantieren. Die Gemeinde ist eine Frau, der Körper des Staates ist weiblich – er vermag Männer leidenschaftlich zu binden, aber a priori nicht zu befriedigen. Die drei großen archetypischen Körperschaften, die Armee, die Kirche, die Universität sind Mütter und zwar Mütter, die diese ihre Qualität kaum verschleiern, sondern in einen eifersüchtigen Machtanspruch verwandeln. Erst mit der technischen Möglichkeit der Klonierung, für die es nur eine weibliche Eizelle braucht, kann die Genealogie mit einer von Männern entwickelten Technologie wieder aus der weiblichen Verfügung übernommen werden; die Anfänge einer Weiblichkeit aller Sozialität würden damit narzisstisch reaktualisiert. Aber soweit muss es nicht kommen, solange Mütter in den frühen Prägungsphasen diesen Narzissmus mit der Partizipation an den Großinstitutionen ausleben. Wer darauf achten wöllte, keine Kosten der geplanten Karriere mit einer Liebesbeziehung verrechnen zu müssen, sollte rechtzeitig auf den Erfolg in solchen Institutionen verzichten. Ähnliches gilt für die von Sennett getaufte „Kultur der Kurzfristigkeit“, in der die geforderte Wandlungsfähigkeit, Flexibilität  und Mobilität, die damit einher gehende ‚Hire-and-fire-Mentalität, auf die ohnehin fragliche Beziehungsfähigkeit abfärbt. Wenn es bei Lacan heißt, es gebe kein Verhältnis der Geschlechter und Bolz zur Begründung die Systemtheorie bemüht, so ist für mich das Wörtchen „mehr“ zu ergänzen: Es gibt in vielen Fällen keines mehr. Die überformenden und erdrückenden Besitzansprüche der Mütter mögen bei beiden Geschlechtern die Bindungsängste motivieren; wenn allerdings die von Großinstitutionen ausgeheckten Medien dazwischen kommen, werden biomagnetische Wirkungsfelder zwischen den Geschlechtern in andere Sphären umgeleitet. Übergangsobjekte mögen eine Bereicherung des Repertoires vorbereiten, doch wenn sie zum Rückzug auf Ersatzobjekte werden, leitet dies bereits Verzicht und Resignation ein. Meine Mutter hat Gunars Verführung durch einen Päderasten des Süddeutschen Rundfunks wohlwollend ignoriert, weil ihr Bildungstick bestätigt und der Machtanspruch zugleich kaschiert wurde: Sie hatte nicht vor, mich an eine andere Frau abzugeben. Die Mutter der Kompanie, der Schoß der Kirche oder die Alma Mater ziehen ihre Kraft aus der Entsinnlichung der Welt – von der Entgöttlichung der Qualitäten unserer Erfahrung führt eine gerade Linie über die Desexualisierung der Körper zum Fetischismus des Geldes. Innerhalb der psychischen Ökonomie verdanken wir mütterlichen Körperschaften die homosexuelle Tradition des Geld heckenden Geldes. Der in ihnen ausgebrütete Humanismus über Verschriftlichung und Säkularisierung, die Reformation über Versprachlichung und Aufklärung, liefern alle wesentlichen Zutaten einer protestantischen Ethik.. Religion geht bruchlos über in Ökonomie, Ablasshandel wird Geldhandel, aus der Schuld vor Gott werden finanzielle Schulden, das Gewissen des Gläubigen wird zur Selbstkontrolle des Bürgers, das Ringen um ein gottgefälliges Leben zur hektischen Arbeits- und Betriebsamkeit, das Auserwähltsein in Gott zum gesellschaftlichen Erfolg. Für die Präsenzkultur eines Aristoteles war Geldmachen eine unnatürliche Perversion, die Wissenschaft des Genießens hat dem Konsum von Gebrauchswerten, der Befriedigung der Bedürfnisse zu dienen. Dagegen beansprucht der inhaltsleerste Signifikant Geld, alles zu ersetzen, was den nichtkonventionellen Bindungskräften gehorchen könnte. Wenn es dem Geld eigen ist, jenseits der Geschlechterspannung mehr zu werden, gehorcht diese Vermehrung geheimen asexuellen Abfuhrphänomenen, die sich unter der Hand in Akkumulationsfunktionen verwandeln. Das Sparen, die Anreicherung von Resten, die Produktion von Mehrwert beruhen auf der Verselbständigung des Tauschwerts, Zinsen führen die klassi­sche, heute allerdings ins Unbewusste abgedrängte Assoziation mit sich, perverse Kinder des Geldes zu sein. Das Tauschmittel als abstrakte Gabe wird pervers, wenn es mehr als ein Tauschmedium ist und sich auf Kosten der Triebregungen vermehrt.

Wir könnten sehr viel mehr wahrnehmen, wenn wir nicht ins Korsett des gesunden Menschenverstands eingesperrt wären, wenn uns das tragbare Gefängnis des von Müttern und Bildungsbeamten konditionierten Ichs nicht davon abhalten würde, diese Wahrnehmungen zu verarbeiten, für unsere Zwecke zu nutzen. Zur Kompensation wurden die Institutionen Kunst und Sport mehr und mehr ausdifferenziert. Sie entstanden als Nischen, in denen gewisse Fähigkeiten geübt und ausgeübt werden durften, aber mit dem Unterhaltungswert, im Fortgang vor allem mit dem Entstehen eines Marktes für den Massenkonsum, stellten sie zugleich den Rahmen zur Verfügung, innerhalb dessen die Geistesblitze des Sinnenbewusstseins der Inflation ausgesetzt waren, also entschärft wurden. Diese Schematik hat das religiöse Empfinden vorgegeben, das in der Erfahrung von Not, Ausgeliefertheit und Angst ein durchaus akzeptables Puffersystem zur Verfügung stellt: Wenn ein Menschlein nicht mehr ein noch aus weiß, beginnt es zu beten – zur Erregungsabfuhr und in der die Zeit streckenden Hoffnung, eine Antwort auf diesen Anruf aus höchster Not zu bekommen. Aus diesem Grund bietet sich an, die exilierten Qualitäten der Lebendigkeit von ihrem der Religionsgeschichte bedingten Ausschluss zu befreien. Die Gewissheit, die der Mensch so besessen suchte, war ein Resultat der Ausgeliefertheit und der Angst vor dem Tod – dabei ist der Tod die einzige dem Menschen mitgegebene Gewissheit, der er Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit verdankt. Die zwanghafte Suche nach absoluten Gesetzen ewiger Dauer steht in der Nachfolge unsterblicher Götter, die einst dazu taugten, die Furcht zu verkörpern und damit zugleich eine diffuse, objektlose Angst in Schach zu halten. Was die Institution Kirche einmal als Sicherheit versprach, prägte die verschiedensten Formen der Abwesenheitsdressur und hat sich mit der Aufklärung in den wissenschaftlichen Anspruch verjüngt, zeitlose und haltgebende Wahrheiten zu produzieren. Im Gegenzug wäre die an Modellen geschulte Logik von Erkenntnisfunktionen tatsächlich ein brauchbares Vorbild für biographische Improvisationen, für die an der Unbeständigkeit von Interpretationen sich entlang hangelnde Freude an der Entdeckung und Erweiterung eines Repertoires von Lebendigkeiten. Alle Zeitbestimmung ist das Ergebnis spezifischer Formen der Verknüpfung von zu Zeichen gewordenen Ereignissen. Die Synthese, die das Zeitempfinden des heutigen Menschen ausmacht, ist die späte Stufe einer langen Reihe von Prozessen der Habitualisierung, an der vor allem jene großen Institutionen beteiligt waren, die darüber entschieden, wie die Ereignisse in der Zeit zusammenhängen. Dank gewisser technischer Entwicklungen haben uns die Wissenschaften aber nicht nur die Absolutheit der Bombe, die Gewissheit der Bevölkerungsexplosion und die Erwartung einer ökologischen Apokalypse beschert, sondern als Nebenprodukte der Kriegstechnologie den Computer und die multimediale Erweiterung unserer Erfahrungswelt zur Verfügung gestellt. Mit dem Weltkrieg als Theodizee eines technischen Prothesengottes erodieren Erfahrung und Erinnerung, unterstehen in der Folge den Massenmedien, die sie auf Archive und Speichermedien angewiesen sein lassen. Rezipieren heißt, Schocks zu parieren und Reaktionsformen in bewusste Routinen umzubauen. Die Informationsspeicher setzen eine integrale Entfaltung der in den modernen Medien vorgegebenen Wahrnehmungsformen voraus, die auf einer Einfühlung in die Gesetzmäßigkeiten von Informationsflüssen und Datenverarbeitungen beruht – manche Nachvollziehbarkeiten des Datenflusses stellen sich im Traum ein. Bolz begreift den Film im Anschluss an Benjamins Schulungsgang als integrale Entfaltung der in den optischen und akustischen Maschinerien präformierten Apperzeptionsformen, der es um keine Sinndeutung mehr geht, lediglich um die Vertiefung der Apperzeption. Die Argumentation geht allerdings knapp an Benjamins Emanzipationspotential vorbei, das von der Sozialisation der weiblichen Lebenswelt bis zum Panoptikum reichende Prinzip Augenüberwachung sei abzulösen durch anarchistische Nahsinne wie das Tasten, Riechen, Schmecken. Nachdem Bolz in anderen Zusammenhängen das Dictum Lacans, es gebe kein Verhältnis der Geschlechter, auf Ehe und Familie zu applizieren wusste, um eben entgegen der Warnung Tucholskys: Fang nie was mit Familie an! eine Geschlechtsgemeinschaft zwischen Männern und Frauen zu begründen, wogegen nicht nur die Scheidungsrate spricht, wenn spätestens nach der Belastung durch ein zweites Kind jede Freude am gemeinsamen Sex auf der Strecke bleibt. Gegen den ganzen Kontext dieser Argumentation legt ein kultureller Umweg Blumenbergs nahe, welche fruchtbaren Einsichten mit einem Plädoyer für ‚die Helden der Familie‘ ausgeschlossen werden. In der ‚Beschreibung des Menschen‘ referiert er den Sachverhalt, dass einzig unter den Säugetieren beim Menschen Orgasmusfähigkeit und Gesichtszuwendung bei der Paarung korrespondieren, was den Idealfall mit sich bringt, dass Orgasmen reziprok ausfallen. Wenn die Gleichzeitigkeit das Lustbedürfnis beider Partner befriedigt, werde die Kategorie der Wechselwirkung durch den Blick realisiert. Ein Kontrollverhalten, während dem das Männchen nicht nur den eigenen Lustgewinn erziele, sondern seinen Erfolg bei der Partnerin verifizieren könne. Diese blutleere Spekulation transportiert immerhin eine Ahnung, warum beide Protagonisten des sexuellen Duells immer wieder den Erfolg einer energetischen Gemeinsamkeit suchen. Das spricht gegen jeden Narzissmus, der nicht nur kulturschwule Protzgebärden oder ernüchternde Ergebnisse der Untersuchung ‚warum Frauen Sex haben‘ offenbart, sondern unterstreicht auch die bescheidene Einsicht, die sich in der Verballhornung ‚nichts gegen Frauenbewegungen, solange sie schön rhythmisch sind‘ verbirgt. Wenn die Körper in biomagnetischen Entladungen zu klingen beginnen, Hautkontakt und Taktilität gemeinsame Rhythmen finden, in eine Resonanz prälogischer Stimmigkeiten einschwingen, geht tatsächlich jeder Kontrollimpuls verloren. Wir müssen nicht mehr Herr über das Chaos werden, es in eine Form zwingen, selbst sprachliche Übersetzungen oder gestische Veranschaulichungen, irgendwelche Vorstellungen und Bildwelten verschwinden in der sich aufbauenden Ekstase. In einem Nu der Unendlichkeit sind wir eine  gewaltige Schwingung der Schöpfung, partizipieren an den mächtigen Strömen einer Einheit, die eine ungekannte Verbindlichkeit von Sinn gewährt. Jede Echtheit ist den Nahsinnen des Körpers zu verdanken, während der Fernsinn des Auges leicht zu täuschen ist und wenig zur Verifizierung taugt. Das Auge ist der immateriellste unter den Sinnen, als reine Durchlässigkeit ekstatisch außerhalb seiner Selbst und gerade deshalb nicht selbstreflexiv. Wenn dagegen alle Sinne trainiert werden, gibt die Optik ihre Führungsrolle an die Nahsinne ab, an Rhythmus und Taktilität, an Witterung und Geschmack. Unter diesen Voraussetzungen bringt uns die Sensorik dazu, jenseits des Bedürfnisses nach einem identifikatorischen Halt, der in den meisten Fällen nur einen Selbstbetrug speist, in der Zerstreuung Diskontinuitäten zu parieren. Diese Schulung stellt einen subliminalen Raum zur Verfügung, in dem wir ohne es zu wissen schon immer an verschiedenen Medien der Geistesgegenwart trainiert werden.

Die leibhafte Abstraktion einer haptischen Rezeption mag das Rückzugsgebiet der Innerlichkeit zerstören, das scheinbar private Wahrnehmungsfeld zerstückeln, aber sie macht mit Kittler das Inkommensurable der Individualität speicherbar. Genau das muss kein Verlust sein, denn mit deren Reproduzierbarkeit sind ganz andere Möglichkeiten zur Hand, Sinnenbewusstsein und Lebendigkeiten zu trainieren, anhand von nachvollziehbaren Selbstobjektivierungen die narzisstische Verkapselung zu sprengen. Wir müssen nur beginnen, die mit den Speichertechnologien verbundenen Erkenntnisse für uns zu verwenden, Techniken als externalisierte Denkvorgänge jenseits der Institutionen einsetzbar zu machen. Die Theologie hat die Menschheit, indem sie den Sinn unseres Lebens auf ein Jenseits verlagerte, im Fortgang der Zeit um die Erfahrung der Möglichkeiten eines authentischen Lebens betrogen. In ihrer Nachfolge entzieht uns die Wissenschaft als Gewissheitssubstitution das Repertoire für ein immer wieder in gewissen Begegnungen und Erfahrungen glückenden Lebens. Was Großinstitutionen bestenfalls versprechen konnten, war ein Quantum Trost, doch darauf ist geschissen, wenn wir uns mit der Vorstellung anfreunden, den Sinn dieses einmaligen Lebens selbst zu ergründen. Der Weg einer allmählichen Erschaffung junger Götter stellt immer wieder für Momente einen Sinn bereit, den keine Institution verbürgen kann. Die psychische Notwendigkeit einer emphatischen Artikulation konkreter Befriedigungen als Vorgriff auf die Einlösung unserer Hoffnungen und Wünsche ist keinem institutionell verbürgten Rahmen unterzuordnen. Das ist gut so, denn sonst pervertieren Sachzwänge und Gruppengesetzmäßigkeiten den Drive. Eben weil die Bedeutung der sozialen Zeit in der Praxis des gesellschaftlichen Zusammenlebens derart zugenommen hat, wird die in Jahrhunderten ausgeprägte Verkehrung des tatsächlichen Verlaufs der Ereignisse immer deutlicher: Die theoretische Physik strukturiert nur einen kleinen Ausschnitt der Möglichkeiten unserer Zeiterfahrung. Obwohl sie dies mit der wissenschaftlichen Durchdringung der Lebenswelt beansprucht hat, stellt sie längst kein ausreichendes Repertoire natürlicher Zeiterfahrungen zur Verfügung. Gegenüber einer streng reduzierten Konvention liefern verschiedene Selbsterlebensbeschreibungen der Eigenzeit ganz andere Repertoires an Erfahrungsformen.

 

Die Dynamisierung der Zeit zu einer Kraft der Geschichte hat mit Koselleck einen gewissen Abschluss der Geschichte des Begriffs der Geschichte zur Voraussetzung, den man als Übergang zur Ausbildung eines einheitlichen Geschichtssubjekts an­sehen kann: Den seit etwa 1780 auftretenden Kollektivsingular von Geschichte. Nach Blumenbergs Interpretation macht der Mensch nicht die Geschichte; aber er macht das Tempo dieser Geschichte! Dieser zweite Satz ist in seiner Geltung vom ersten abhängig, denn das Antreiben des Tempos setzt die anderweitig abgesicherte Zwangsläufigkeit der Abfolgen voraus. Kein erbauliches Resultat; aber angesichts der Zukunftsdimension das offenbar tröstlichste, wenn Blumenberg die davon ausgehende Faszination betrachtet. Der Druck unter dem sich das Geschichtsbewusstsein als die Einheit dessen konsolidiert, was treibt und getrieben wird, scheint das Resultat jener Dissoziation zu sein, in der die Weltzeit hinter einer immanenten Le­benszeit hervortritt und sich die Geschichtszeit assimiliert. Ge­schichte, als der Lebenszeiten und Generationszeiten übergrei­fende Prozess, vereinnahmt die Individuen, stößt zugleich aber auf deren Unbehagen, den Widerstand in die Theorie integrieren zu lassen. Was wiederum die Beschleunigung zur Folge hat, die wie ein Kompromiss zwischen Weltzeit und Lebenszeit wirkt, indem sie die Illu­sion einer erneuten Konvergenz erweckt. Bereits in ‚Säkularisierung und Selbstbehauptung‘ ist für Blumenberg entschieden, dass Säkularisierung im eigentlichen Wortsinn keinesfalls als Verweltlichungsprozess verstanden werden muss, denn mit der Moderne wurde keine jenseitige in eine diesseitige Welt eingetauscht, genau genommen hat sie nicht einmal ein irdisches Leben anstelle eines jenseitig-künftigen gewonnen, sondern die Menschheit wurde bestenfalls auf ein beschränktes Leben im Hier und Jetzt zurückgeworfen.

Mittlerweile verfolgt und relativiert Blumenberg den Gedanken der Beschleunigung unserer Zeiterfahrung als Heilserwartungsrest. Die Geschichte als fortschreitende Bewegung von der Schöpfung zur Erlösung ist eine Erfindung der Kirchenväter, die bereits die Ursprünge des modernen Fortschrittsgedankens vergiftet hat. Blumenberg bezieht sich auf Ernst Benz‘ Para­digma der Säkularisierung einer Heilsgeschichte, deren Antrieb und Ab­lauf festgelegt ist. Die modernen Theorien der Veränderung, der Revolution, des Umsturzes und des Terrors erscheinen als säkularisierte Abarten der ursprünglich christlichen Akzelerationsidee. Die christliche Erwartung des Heils vom Weltende kann für einen kürzeren Zeitraum als Propaganda des Endes fungieren. Sie nützt jenen, die sich zur Kompensation dieser Schrecknisse durch die Beschwörung der baldigen Wiederkunft des Herrn bereits eine privi­legierte Sonderstellung gesichert haben. Doch für die lan­gen Zeiträume, die dem wirklichen Prozess der Säkularisierung vor­ausgingen, scheint die kultische Bitte um Aufschub viel wahrscheinlicher, also die entgegengesetzte Bemühung um eine Ver­zögerung des Endes. Die apokalyptische Spekulation gab einst Auskunft über die Bestandsdauer der Welt als eines reinen Wartestands; im Status der Aufgeschobenheit wird die Eschatologie zur Quelle der Theologie, die sich im Telos eines europäischen Geschichtsdenkens verpuppt. Auf dem kürzesten Weg zu Ende gebracht, musste das Weltende durch das irdische Paradies, durch das Ziel einer perfekten Welt ersetzt werden. Damit wird die Geschichte unserer Herkunft in die unserer Zukunft verlängert, aus der imaginären Voraussetzung eines höheren Entwicklungsstands entsteht der Antrieb, die Bewegung in die Zukunft zu beschleunigen. Mit der Expansion neuer Märkte im Gefolge der Kolonialisierung und der Abkopplung technischer Fertigkeiten im Umfeld der protestantischen Ethik wird die Perfektionierung der Welt verabsolutiert, während der Heilsgedanke nach einer Umleitung über den Imperialismus der Erlösung durch den Konsum untersteht – auch Geld ist ein Aufschub, nicht nur des unmittelbaren Konsums, sondern vor allem der Konsequenz unserer Zielsetzungen. Wir kaufen, um die Signale der inneren Leere zu übertönen, jagen einem Fetisch hinterher, weil der wenigstens für die Zeit seiner Neuheit die Stabilisierung einer identifikatorisch arbeitenden Psyche gewährleistet. Als Benjamin den ‚Kapitalismus als Religion‘ klassifizierte, ging er von der Beobachtung aus, dass dieser dieselben Sorgen, Qualen, Unruhen befriedige, wie die Religion, also mit dem Rückzug Gottes ins Privatleben zur Kultform geworden sei. Aus dem religiösen Bewusstsein der protestantischen Ethik Max Webers, das einmal den Geist des Kapitalismus prägte, ist mit dem Geld die präsente Gottheit des täglichen Lebens geworden, die für Marx die Praxis bestimmt, ganz nebenbei aber einen transzendenten Gott überflüssig macht. Blumenberg erinnert an jene von einer verdrängten Todessehnsucht ausgehende Zwanghaftigkeit, der eine zunehmende Beschleunigung gehorcht, denn das Bedürfnis nach einer Verkürzung des Wegs zum Ende ist nicht einfach stillzustellen. Wenn der Durchschnittsmensch meint, sich an Gewissheiten stabilisieren zu müssen, das einzig Gewisse im menschlichen Leben aber der Tod ist, sorgt eben dieses Bedürfnis dafür, das Angsterregende am Wunder des Lebens möglichst schnell hinter sich lassen. Als philosophische Idee entwickelt er in der ‚Beschreibung des Menschen‘  die Eschatologie als strategisches Unternehmen, um den grundsätzlichen Mangel einer Anthropologie auszugleichen, die keiner Selbsterkenntnis entspringt und auch in keine solche zu integrieren ist. Der Imperativ eines ‚Erkenne-dich-selbst‘ wird in dem Moment zur unverständlichen Phrase, in dem als Bezug wirklich die Erkenntnis angezielt ist, also keine Erinnerungen oder Erwartungen dafür einstehen. Was bietet sich an, wenn keine moralische Selbstprüfung, keine Fähigkeiten oder Begrenzungen der individuellen Kapazität darunter verstanden werden? Selbsterkenntnis müsste dann die Menschheit in ihren Individuen in einer potentiellen Gesamtheit ihrer Handlungsbedingungen zu erfassen und zu beurteilen vermögen. Erst unter dieser Idee wird deutlich, was Erkenntnis über den Menschen jenseits seiner zufälligen biographischen Verwicklungen aussagen könnte. Die subjektiven Künste, nicht nur das durch Identifikation zu vereinnahmen, was das Subjekt nicht ist, sondern das, was es als Gewesenes war und künftiges sein wird, für eins und identisch zu halten, sprengen diesen Imperativ der Erkenntnis. Der Mensch kann kein reines intentionales Subjekt sein, weil er die Einflüsse seiner Mitwelt durch Distanzleistungen gelernt hat zu kompensieren. Dabei sind wir uns selbst zu einem großen Maß undurchsichtig, es gibt keine Unmittelbarkeit zu sich selbst als Form der inneren Selbsterfahrung – der anthropologische Rückzug auf die Gesetzmäßigkeiten der sprachlichen Vermittlung beweist, wie diffus und unbegrenzt der Bereich einer mittelbaren Selbsterfahrung ist. Aber kraft einer Delegation von Zuständigkeiten trauen wir den anderen eher zu, ein Bild von uns zu gewinnen, das unseren Ansprüchen genügen könnte. Das ist neben der Angst ein Motor des Konformismus wie neben den Zwängen der Selbstdarstellung ein Zugang zu verschiedenen Verführungen der Simulation.

Mit Baudrillard ergeben sich für eine der Abwesenheitsdressur unterworfene psychische Struktur folgerichtig Entmaterialisierung und Simulation als stimmige Ausweichbewegung – damit aber der Verzicht auf eine materielle Erdung, einer biologischen Ableitung jener panischen Impulse, die der von der Theologie ausgebeuteten Entfremdung von unseren Ursprüngen zu verdanken ist. Dabei könnte der körperliche Vollzug der Liebe in den biographischen Zusammenhängen bereits als eine umfassende Verwandlung, damit als eine Form des Wunders erfahren werden. In dieser Hinsicht ist die Bestimmung der Geschwin­digkeit das zentrale Säkularisat, mit dem das Verhältnis von Lebenszeit und Geschichtszeit auf eine mittlerweile erzwingbare Konvergenz gebracht wird. Was sich als ursprünglicher Motor der Sehnsucht nach dem Weltende darstellte, mög­lichst viele Menschen an einer Heilserwartung des Endes teilhaben zu lassen, wird in der verweltlichten Gestalt zum ungeduldigen Extrem des Terrors. Das zeigt, warum die Verzeitlichung des Heils mit der Geschichtserwartung das Himmelreich als transzendentes Ziel aus den Augen verloren hat. Aber der Institutionstheoretiker blendet die Konsequenz der vielfältigen Entlastungen aus, die uns nicht nur das Leben erleichtern, sondern uns um die Freude an den lebendigen Vollzügen betrügen, sie aus Angstbewältigung ersparen. Transzendenz machte sanft, solange wir danach auf all das hoffen können, was uns im Leben vorenthalten wurde, dagegen macht die Immanenz gewalttätig, wenn wir davon ausgehen müssen, um was wir alles beschissen werden. Der Aufschub mag eine entscheidende historische Erfindung des frühen Christentums sein, aber niemand konnte davon ausgehen, dass es einmal notwendig sein würde, den Aufschub unendlich lang dauern zu lassen. Wenn unsere letzte Wahrheit vom Ende lautet, dass es nach menschlichen Maßstäben kein Ende gibt, weil selbst der Wärmetod in anderen Dimensionen spielt, müsste die Notwendigkeit einzusehen sein, sich in sinnvollen Betätigungen einzurichten. Wir sollten die nötigen Routinen üben, um eine relativ stabile Wolke von Interdependenzen über die Erotik mit unseren lebendigen Vollzügen zu verknüpfen. Das nötige Rüstzeug steht zur Verfügung, wird aber zu gern einfach übersehen oder im Dienste der Abwesenheitsdressur verleugnet.

 

Mit dem Ende der Dominanz linearer Zeitabläufe beschreibt Nowotny einen erstaunlichen Wandel, der wie nebenbei die Chance mit sich bringen könnte, die zwanghafte Fixierung auf ein Weltende und die damit verbundenen Todesrituale zu verabschieden. Die Zeit ermöglicht die Erfahrung der Nichtidentität in der Identität als Voraussetzung einer durch die Intersubjektivität verstandenen Erfahrung der Identität in der Nichtidentität. Lebendigkeit ist keine Substanz, sondern ein Fließgleichgewicht, das sich umso besser stabilisiert, umso mehr divergente Bestrebungen integriert und genutzt werden. Wenn Gesellschaften als mehr oder weniger stabile Ungleichgewichte neue Strategien erproben, um ihre immanenten zeitlichen Widersprüche zu bearbeiten, um Lösungen für die immer drängenderen Probleme ihrer Zeitnot zu finden, gehorchen sie einer ähnlichen Entwicklung wie der, die Kittler an den technischen Medien beschrieben hat. Weil diese in der Lage sind, das Reale aufzuzeichnen, können sie jene Autosuggestionen ausschalten, die dem Imaginären gehorchen. Das ist eine enorme Chance, mittlerweile könnte ein überkommenes System von Behinderungen vor der Verabschiedung stehen, wenn nicht die Angst vor der ökologischen Katastrophe und die Fluchtbewegungen in verschiedene Kriegsschauplätze zur Reaktualisierung obsoleter Geisteshaltungen führten. Was sich der Behauptung der Nichtigkeit des Weltlichen gegenüber der göttlichen Gegenwart verdankte, war ein Resultat von Angst und Sicherheitsbedürfnis. Als Emanzipation von dieser imaginären Präsenz kann die Gegenwart sowohl chronologisch-linear gedeutet werden, als auch als Teil von wiederkehrenden Zyklen, die alle ihrer eigenen Zeitdauer und typischen Verlaufskurve folgen – wenn wir für unsere Gegenwart und die aus ihr folgende Zukunft verantwortlich sein wollen, ist die Selbstermächtigung nötig, eine Einsicht in den Ausnahmecharakter der Präsenz mit der Verantwortung für eigene Entscheidungen zu verbinden. Die auf den linearen Ablauf bezogenen Bezüge des Terminkalenders treten zurück oder werden ergänzt durch die Orientierung an den zeitlichen Rhythmen eines inneren Programms oder eines genetischen Codes. Damit wird es möglich, Zeit für dringende Entscheidungen zu gewinnen, also die Gegenwart zu dehnen, ihr Fassungsvermögen zu erhöhen, womit sich an der Eigenzeit von Systemen ausgerichtete Komplementaritäten anbahnen, für die ihre Einordnung in eine lineare Chronologie zu vernachlässigen ist. Die Pluralität der Zeiten nimmt zu, wenn die Bedeutsamkeit in den Eigenzeiten der zusammenhängenden Er­eignisse und Prozesse, die ein System ergeben, wirksam wird. Der Prozess der Zivilisation unterstreicht mittlerweile die Notwendigkeit, die mit der Linearität verknüpften Lebensformen der Industrialisierung bewusst zu ergänzen. Deren Übergewicht im sozialen Leben muss mit zyklischer Zeit und zyklischen Le­bensformen kompensiert werden, die Hysterien entkrampfen und Konflikte entdramatisieren. Die Reziprozität ist fast zwingend ein Aspekt der zyklischen Zeiterfahrung, die Verpflichtung auf Gegenseitigkeit bei gleichzeitiger Anerkennung der sich für die Geschlechter unterscheidenden Erfahrungsmuster. Doch das ist alles andere als selbstverständlich, nachdem Eroberer und Unterdrücker die Erfahrung einer hunderte von Generationen haltenden Kette geprägt haben; die rücksichtslose Ausbeutung der biologischen Ressourcen war das Erfolgsrezept für Macht und Reichtum. Für Norman O. Brown resultierte die Psychologie des Gebens ursprünglich aus der weiblichen Körpererfahrung, die des Nehmens und Besitzens aus männlichen Kompensationsbemühungen der Schöpfungsinkompetenz. Genealogisch gestaltet sich die Beziehung zwischen Zeit und Geld viel enger, als es dem normalen Alltagsbewusstsein zugänglich ist. Ihre Grundlagen sind in den biologischen Rhythmen des Zusammenlebens zu fin­den, die ein Repertoire der sozialen Evo­lution bereitstellt – den Katastrophen des 20. Jahrhunderts verdanken wir immerhin dieses Lernpensum, dass es nicht sehr lange derart destruktiv weitergehen kann. Das Ziel sind neue Gewohnheiten und selbstlernende Institutionen, die einer Gesellschaft durch ihre zyklische Wiederkehr keine statische, sondern eine dynami­sche Stabilität verleihen. Auf der internationalen Ebene wird dieses Lernprogramm sehr viel Schmerz und Geduld erfordern, denn wenn von einem Ausgangspunkt der Unterdrückung und Hoffnungslosigkeit ausgegangen wird, müssen die jeweils Mächtigen erst einmal die Erfahrung machen, dass die Hoffnungslosigkeit, auf die sie aus eigener Macht zusteuern, noch viel schrecklicher sein wird. Aber es ist nicht notwendig, nach Afrika oder Südamerika zu schauen. Unsere Entwicklung seit Protestgeneration, Sexwelle, Frauenemanzipation und ökologischem Wachwerden, ist nicht unbedingt hoffnungsfroher. Schon das eigentliche Zentrum des gesellschaftlichen Motors, das Verhältnis der Geschlechter, macht in diversen Zusammenhängen deutlich, warum nicht nur diese Beziehung in den psychischen Strukturen sehr viel mit der Ambivalenz von Himmel und Hölle zu tun hat, mit der Angst vor einer unabwendbaren Abrechnung. Ganz pragmatisch wird die Entwicklung nachvollziehbar, wenn Frauen auf einer neuen Alltagskultur bestehen und zeitpolitische Forderungen erheben. Sie klagen Rechte ein, um Zeitkonflikte zu bewältigen, die in allen Reibungsflächen zwischen Markt und Staat, zwischen Arbeits- und Freizeit, unfreiwilliger und freiwilliger, bezahlter und unbe­zahlter Zeit zum Ausdruck kommen. Ihre Konflikte erge­ben sich aus der Erfahrung einer arbeits­teiligen Gesellschafts- und Zeitordnung, in der die Zeitökonomie der Männer niemals der der Frauen gleich war. So haben sich unterschiedliche Zeitkulturen entwickelt, die weit tiefer ge­hen, als pragmatische Anforderungen oder zugeschriebene Arbeitsleistungen erwarten lassen. In diesem Konflikt entstand das Ringen um eine neue Zeitkultur. Zutage treten strategische Kampfplätze, politische Arenen, in denen es darum geht, besser zu verstehen, in welche Richtungen gesellschaftliche Prozesse drängen, welche Optionen offen stehen. Die Uhr hat einmal die gesellschaftliche Zeitökonomie revolutioniert, indem sie über Transportsysteme und Maschinen zu einer Rationalisierung und Vereinheitlichung der Erfahrungsmuster führte. Die Ausdifferenzierung verschiedener Zeitkonflikte führt nun zu einem Wiederfinden verdrängter oder verleugneter Erfahrungsformen. Die innere Zeiterfahrung mag eine Grundausstattung des Bewusstseins sein, aber längst kein Apriori von Formen der Wahrnehmung, wie Kant postulierte, sondern ein Aposteriori gesellschaftlicher Disziplinierungen.

Die Dominanz der sich seit Descartes durchsetzenden linearen Zeitkultur, die mit Burckhardt bereits in der räumlichen Konstruktion der großen Kathedralen beginnt – die die Schwere überwindende, zum Himmel strebende, lichtdurchflutete Materie wird zu einem Signum der Transzendenz – und mit der mechanischen Uhr unhinterfragbar wurde, ist mit der theoretischen Physik aufgebrochen worden. Außerdem setzen die sich an die Sinne wendenden Medienmaschinen des vergangenen Jahrhunderts eine neue Aufmerksamkeit für menschliche Körper wie für Dinge der Außenwelt frei. So behutsam und vorsichtig er seine Beobachtungen auf den Nenner bringt, wird bei Gumbrecht diese Entwicklung Teil und Fortführung der biologischen Evolution mit kulturellen Mitteln. Für Nowotny münden faszinierende Wiederkehr des Zyklischen und Unter­suchungen der Eigenzeit von Populationen und Systemen in der Auf­einanderfolge technischer Artefakte, von Ideen oder von Kunstobjekten, in der Frage nach der systematischen Orchestrierung dieser Zyklen. Die Suche nach der inneren Uhr, nach der Eigenzeit von entstehenden, wachsenden und vergehenden Techniken und Entwicklungssystemen, die schließlich von techno­logischen Neuerungen abgelöst werden, versucht die Zeitdiszi­plin der zyklischen Wiederkehr ausfindig zu machen, um sie zu nutzen. Jene Fraglichkeiten, die von der Linearität geleugnet oder an den Rand gedrängt wurden, warten mit Lösungen auf, die den heutigen Problemen gewachsen sein könnten. Der Rationalisierungsanspruch, der mit dem Beginn des Maschinenzeitalters Methode, Organisation und Institution vorangebracht und dann einer durchgehenden Beschleunigung unterworfen hat, erscheint also auf einer höheren Entwicklungsstufe erneut – diesmal aber mit der Chance, in stumpfsinnige Arbeitsabläufe eingesperrte Manpower weitgehend überflüssig zu machen, um menschliche Unwägbarkeiten für kreative Prozesse freizustellen. Der Eigenzeit einer technischen, wissenschaftlichen oder künstlerischen Innovationsfolge oder eines Systems von Werken auf der Spur zu sein, könnte dazu führen, die in solchen Regelmäßigkeiten enthaltene Zeitdisziplin zu funktionalisieren, bis sie produktiv in aktuelle Entscheidungen einbezogen wird – kreisläufige Prozesse funktionieren um so besser, um so weniger in sie eingegriffen wird. Eine umfassendere Workbalance würde den Raum für zwischenmenschliche Bedürfnisse freisetzen, die in den sogenannt normalen Lebensabläufen immer vernachlässigt werden müssen, obwohl sie die Grundlage von Leistungsfähigkeit und Freude am Erfolg sind, für die eine Kompetenz aber bisher nur auf der Ebene der Eigenarbeit erworben wird. Die inhärente Spannung zwischen der Wiederholung als dem Bedürfnis, zu bekannten Mustern zurückzukehren, und der Erfindung als dem Verlan­gen, durch Variationen und Ausflüge ins noch Unbekannte der Gewohnheit zu entkommen, prägt die symbolische Produktion ebenso wie die technische. Sie liegt dem komplementären Verhältnis zwischen Linearität und Zyklizität zugrunde. Das Individuum mag von Institutionen gegen ein Übermaß an Variationen durch vielschichtige Gewohnheiten geschützt werden. Aber schon als der Produktivitätsfaktor Zeitökonomie entdeckt wurde, hat das Prinzip Wirtschaftlichkeit grundlegende Fragen aufgeworfen, die mittlerweile ganz andere Maßstäbe setzen. Die extremen Formen der Entfremdung von Sennetts „flexiblen Menschen“ objektivieren Lernprozesse, über die hilflos geklagt wird, mit denen aber die Entfremdung der Entfremdung in Angriff genommen werden kann, wie dies manche digitalen Nomaden bereits vorführen. Gerade weil mobil zu sein in der sozialen Wertigkeit vieler Menschen die Bedeutung von geistiger und körperlicher Fitness angenommen hat, werden sie mit Fetischen der Mobilität beschäftigt und sogar ausgebremst. Tourismus- oder Fitnessbranche, Auto- oder Unterhaltungsindustrie gehorchen vor allem dem Systemprogramm, trotz zunehmender technischer Möglichkeiten und erreichbarer Geschwindigkeiten nichts am Status Quo zu ändern. So könnte es sich anbieten, die Immobilität eines auf das Auto setzenden Wirtschaftssystems zu verabschieden – das Auto ist tatsächlich der Fetisch, mit dessen Hilfe eine umfassende Stillstellung verleugnet und ertragen wird. Schon eine  an diesem Detail ansetzende Variation würde den Umbau des kompletten Systems nötig machen, zudem auch einige ökologische Fraglichkeiten beseitigen. Daraus könnte ein Umbau des Systems der Bedürfnisse resultieren, die bisher mit unbefriedigenden Surrogaten abgespeist werden und lediglich den Marktmechanismus befeuern – für Befähigte auf der zwischenmenschlichen Ebene und für die Massen in den digitalen Medien, wobei die Befähigung zur Eigenarbeit auf breiter Front längst nicht ausgeschlossen ist. Selbst Gehlens Erklärung der kulturellen Dynamik aus der Zunahme von Handlungsspielräumen, die aus der durch Institutionen ermöglichten Entlastung von natürlichen Zwängen des schlichten Überlebens resultierten, könnte gegen die Zwänge gesetzt werden, die durch die Entlastung dank Institutionen entstanden und zu einer zweiten Natur wurden. Wenn uns der Aufenthalt im Auto beim täglichen Stop and Go mehr Zeit und Nerven kostet, als ein strammer Spaziergang oder eine kleine Radtour auf der gleichen Strecke, sollte das zu denken geben. Die Zeit, die wir mit Hilfe von Technik und Institution sparen könnten, wird absurderweise zum Großteil aufgezehrt, wenn Behörden oder Institutionen, Updates, Sachzwänge oder Verfahrensordnungen derart in unsere Zeitökonomie eingreifen, dass von Ersparnis nicht die Rede sein kann, nur von zusätzlichem Stress, der eben nicht oder nur in wenigen Fällen durch körperliches Abarbeiten und Ausagieren harmlos abgefahren wird. Tatsächlich ist die Entlastung von körperlichen Belastungen und der Mangel an echten Intensitäten wesentlich an der Auslösung von Zivilisationskrankheiten beteiligt – die Verwalter des Elends haben ein viel zu großes Interesse an der Bestätigung ihrer Existenzgrundlage. Die bereits mit der Verschulung angezielte Stillstellung sorgt für Voraussetzungen, die ein ganzes System von Gesundheitsorganisationen und an ihnen hängenden Schmarotzern am Laufen halten. Zynisch wird auch hier das ökonomische Resultat als Erfolg zu reklamieren sein, denn die Verwertung von Letztmaterie und selbst die Entsorgung der geschundenen Reste können noch erstaunliche Umsätze in Bewegung setzen. Wenn für die Qualitäten des Menschlichen gerade noch ein schmales Zeitfenster für Hobby und Zerstreuung bleibt, hat sich das Prinzip Entlastung längst in sein Gegenteil verkehrt. Es bietet sich also an, gewisse Entlastungen von der Entlastung zu kultivieren. Das bereits in ganz verschiedenen Zusammenhängen thematisierte Glück des Unvorhergesehenen könnte vom raschen kulturellen Wandel befördert werden, denn Institution und Tradition sind nur dynamisch zu stabilisieren, indem das Bewusstsein historischer Gewordenheit sich neuer oder erweiterter Medien der Reflexion bedient, damit aber Weichenstellungen und Variationsmöglichkeiten freigibt, die mit der Digitalisierung sinnliche Repertoireerweiterungen kultivieren. Wie immer ist die Entwicklung dank einer technischen Revolution ambivalent: Wir können daran wachsen oder uns mit geringerem Aufwand töten; wir können den Sinnen und der körperlichen Selbsterfahrung ein ungeahnt offenes Terrain bereiten oder den Körper als unnützen Ballast dank virtueller Welten hinter uns zurück lassen. Bisher sorgt nicht nur ein wachsender Prozentsatz der dicker und unbeweglicher werdenden Kinder für Mängel des überlasteten, schlecht ausgestatteten Gesundheitswesens; adipöse Verwaltungen führen am anderen Ende der Lebensskala zu immer höheren Kosten bei zunehmender Demenz. Eine einfache Form von Führerscheinprüfung als Voraussetzung möglicher Zeugungsvorgänge würde die Welt verändern, die Mittel vermehren, die zur Finanzierung einer gerechten Chancenverteilung notwendig wären – mehr noch eine finale Beruhigungsdosis bei fortgeschrittener psychischer Abwesenheit, wenn einfachste identifikatorische Zuordnungen nicht mehr statthaben.

 

Der Renaissancephilosoph Otto geht von der erst einmal befremdlichen Beobachtung aus, die Aufklärung beginne nicht mit Descartes‘ Reduktion der Erkenntnis auf die mathesis universalis, sondern mit einer neuen, ganz anders betonten Gewichtung zweier Voraussetzungen der Erkenntnis: Der Erfahrung durch die Sinne, durch das Sehen und durch das Hören. Damit ist eben nicht das Sehen um des Sehens, das Hören um des Hörens willen gemeint, sondern sie werden zunehmend als Bedeutungsträger erfahren, womit bereits ein zunehmender Abstand zur Welt einsetzte. Durch einen reflektierten Gebrauch dieser Sinne galt es den Sinn des Wahrgenommenen zu erschließen und somit eine vermittelte Kette von Interpretationen zu schaffen. Schon hier deutet sich an, wie die Materialität der Dinge, die Spuren, die wir in der Welt verfolgen, die Witterung, die uns führen kann, mit Hilfe von Spiegelungen und Projektionen zugunsten kodifizierter Bedeutungen unwichtig werden. Wenn sich in diesem Zusammenhang die Kritik Derridas einstellt, der Gebrauch von Zeichen setze bereits einen Abstand zur Materialhaftigkeit der Welt voraus, ist mit Kamper in der entgegengesetzten Richtung die Herkunft dieser Zeichen zu befragen. Mit Sicherheit wurden die Erinnerungen an ihren Ursprung durch die Verkettung von abstrahierenden und generalisierenden Vorstellungen nicht vollständig gelöscht. Grundsätzlich tendiert eine sprachlich vermittelte Welt dazu, anstelle der realen Welt ein Bild vernetzter Vorstellungen von ihr zu setzen, dabei aber vergessen zu machen, wie dieses Bild zustande gekommen ist. Gerade weil das Reale der Welt so unerreichbar ist wie Kants Ding-an-sich, beobachtet Kamper an der Zirkulation der Zeichen ein Überhandnehmen von Hieroglyphen ohne Sinn. Folgerichtig bietet sich der Versuch an, die zunehmende Verwirrung als Spiegel zu nutzen, um durch reine Ausdrucksgestalten ein Sensorium für Sachverhalte auszubilden, die allein auf sich beruhen, also der Auslegung durch ein Verstehen nicht bedürfen. Wichtig für den später noch genauer zu thematisierenden Zusammenhang ist vor allem ein Begriff der Zeit, der sich von der Anschauung löst, sich der Anhörung nähert. Beim Umgang mit den Zeichen ohne Sinn stößt er auf eine Ebene, die von rhythmischen Markierungen in einer Wirklichkeit des Zählens geprägt ist, die keiner Dechiffrierung auszusetzen sind, sondern als Zeichen der Zeit die Male und Kerben als schlagende Beweise einer zeremoniellen Ordnung nahelegen. An unwillkürlichen Wirksamkeiten ist ein noch immer funktionierendes, vorgeschichtliches Körpergedächtnis zu entdecken, das Lacan als Sprachordnung des Unbewussten dechiffriert hat. Anstelle einer Rückreise in die Genealogie der Körper als Gattungsgeschichte, um jene Materialität der Zeichen aufzusuchen, die Spuren als Narben einer Einschreibung ins musikalische Sensorium zu verwenden, ist an Parallelen zur frühen Spracharbeit Benjamins zu erinnern. Die riskante Verbindung zwischen Wunden und Wundern, in deren zeremonieller Ordnung jene Magie wirkt, die uns im Durchlaufen von ausgetüftelten Grausamkeiten für die Grundrisse der Welt sensibilisierte, wurde bereits in den verschiedensten Zusammenhängen angedeutet. Vor über vierzig Jahren habe ich gezeigt, wie das Absehen von Bedeutungen und die Konzentration auf interne Verweisungszusammenhänge reiner Ausdrucksgestalten als fundamentale Annäherung an eine von Kant inspirierte Zeichentheorie verstanden werden kann. Benjamin wie Peirce gingen von der Kritik der Urteilskraft aus, um ein zwischen den Kritiken vermittelndes Kategoriensystem auszuarbeiten. Während Benjamin in der Verkleidung einer mystischen Sprachtheorie über Ausdruck, Name und Idee sprachimmanente Verweisungszusammenhänge einkreiste, die nichts bedeuten, als Relationssysteme also jenseits der Semantik wirken, hat Peirce Fundamentalkategorien einer Semiotik präpariert, mit denen die starre Entgegensetzung von Denken und Materie hinfällig ist. Gezeigt wurde, wie nur verschieden akzentuierte Zwischenwelten vermittelt werden: Es gibt keine Erfahrung einer materiellen Qualität ohne die Verbindung eines indexikalischen Bezugs mit einem Repertoire von Bedeutsamkeiten. Der Symbol-, Ikon- und Indexwert ist nie absolut gegeben, sondern kontextabhängig bis konventionell, selbst die Unterscheidung von analogen und digitalen Zeichen untersteht einer Vermittlung. In beiden Fällen wird das Außersprachliche der Welt mit Hilfe eines Zeichenrepertoires vermittelt; binäre Oppositionen erweisen sich bei genauerer Betrachtung als Schnitte durch eine Skala analoger Übergänge. Nietzsche hat mit der Kennzeichnung des Begriffs als einer Setzung, der nichts ganz entspricht, aber vieles ein wenig, die Arbeitsweise unseres Erkenntnisvermögens genau getroffen; mit eigens erfundenen Begriffen und Zahlen verfügt der Mensch über das Mittel, sich vielfältiger Tatsachen zu bemächtigen und diese mit Zeichen dem eigenen wie dem kulturellen Gedächtnis einzuschreiben. Die Überlegenheit des Zeichenapparats beruht darauf, sich über Abstraktion und Generalisierung weit von den einzelnen Gegebenheiten zu entfernen, um über ihre Gesetzmäßigkeiten zu verfügen, über eine immer größere Menge von Dingen durch das geistige Vermögen, mit Zeichen umzugehen, zu herrschen. Aber wenn die erste Sprache der physikalischen und biomagnetischen Natur die des Ding-an-sich ist – dem Menschen schon immer unerreichbar – geht seine Voraussetzung in die Irre; es gibt keine Unmittelbarkeit unserer Wahrnehmung und Physiologie, die durch den intellektuellen Abstand zur Welt immer weiter ausgedünnt werde. Auch Sinne sind evolutionär entstandene, datenverarbeitende Apparaturen, die Zeichen und Schlussfiguren verbinden – die sinnlich erfahrbare Welt ist in ihren Erscheinungsformen immer abhängig von den Basisprogrammierungen oder Drogen, die über die Formen der Wahrnehmung bestimmen. Wie Derrida anhand Freuds Traumdeutung gezeigt hat, beschäftige sich diese weniger mit den Inhalten als mit den Beziehungen des Traums, mit Funktionszusammenhängen, Situationen und Differenzen – wenn wir gewisse biographische Gesetzmäßigkeiten unserer alltäglichen Lebensumstände kapieren wollen, geht dies nicht anders aber vielleicht nur so.

Wenn in der Renaissance die Erfahrung durch das Hören zum Modell eines Denkens aus der Sprache wurde, so mag daran die Verschiebung der Gewichtung der jeweiligen Relate deutlich werden. Dem gesprochenen Wort weist dies eine kognitive Kraft als Ausdruck zu, es bleibt nicht auf ein bloßes Abbilden des Begriffs beschränkt – von hier aus erklärt sich die eminente Bedeutung der Metapher. Die Erfahrung durch die Augen wird modelliert zum Konzept eines die Welt erschauenden, dabei geometrisch messenden Verstandes. Wie nebenbei entwickelt sich daraus eine Philosophie des Geistes, die alle seine Kräfte umgreift: die Sinnlichkeit, die Erinnerung, die Phantasie. Diese Philosophie des Geistes hält die Kräfte nicht in Distanz zur reinen Vernunft, sondern ordnet sie dem Ingenium zu, das sie in ihrem Zusammenspiel trägt. Als Peirce im Kontext der Kantschen Kritiken überlegte, was tatsächlich Geist sei, kam er auf das In-Beziehung-Setzen, doch bereits in der Renaissance wird die Relation oder ein Gefüge von Relationen denkbar, wie dies später Leibniz systematisiert hat. Ein Naturverständnis, das die Gegebenheiten der Natur im Spiel ihrer Ähnlichkeiten betrachtet, wird vom reflektierten Gebrauch der Sinne gefördert. Im Ähnlichkeitsdenken der Renaissance wird eine logische Kategorie entbunden und zum Laufen gebracht, die von der Fesselung durch das Substanzdenken zur Unbeweglichkeit verdammt war: Erst mit der Kategorie der Relation wird es möglich, die Vorstellung einer unendlich beziehungsreichen Welt zur Darstellung zu bringen. Die Welterfahrung eines magischen Animismus musste nur in die entsprechenden funktionalen Relationssysteme übersetzt werden, wie dies mancher Blockbuster bereits vorführt, um in den Prozessen des Computerzeitalters eine Renaissance zu erfahren. Wenn Aleida Assmann die Faszination beschreibt, die in der Renaissance von den Hieroglyphen auszugehen beginnt, legt sie eine Besessenheit durch den Gedanken der Adamitischen Sprache nahe, der Schöpfungssprache, die den Dingen die adäquaten Namen verliehen hat. Dabei werde mit der sehnsüchtigen Suche nach Signaturen an den Dingen, nach ursprünglichen Bedeutungsresten, immer wieder nur der schmerzhafte Abstand zu den Dingen unterstrichen. Das Postulat einer Unmittelbarkeit von Sinnen und Sinn gehe fließend über in die Erfahrung eines Verlusts an Welt – beides ist falsch, diese Erklärung unterstreicht die Strategien der Macht, um den ihnen gebührenden Gehorsam einzufordern. Gerade die Einweihungsriten der verschiedenen Geheimlehren machen deutlich, wie viel Hokuspokus notwendig ist, um Macht und Überlegenheit der Eingeweihten zu gewährleisten. In verschiedenen Zusammenhängen konnte Lacan zeigen, warum es den großen Anderen nicht gibt, er aber im Feld der Überbauten und Umwege eines Nichts instrumentalisiert wird, um rücksichtslose Vollzüge der Macht zu gewährleisten. Tatsächlich steht ein zynisches Machtwissen gegen die realen Zugänge zur Welt. Schließlich werden mit der Zurichtung durch die Naturwissenschaften, die Francis Bacons Programm der Folter der Natur umgesetzt haben, die Gegenstände der Forschung jeden Eigenrechts beraubt; das Ergebnis liefert nur Aussagen über Totes. Auch die Macht des Stärkeren liefert auf Dauer keine Legitimierung für den Mangel an Einfühlung oder die Rücksichtslosigkeit stumpfer Deppen. Die Zynismen von Bildungsbeamten kaschieren die Angst vor den Gesetzmäßigkeiten des Lebendigen; sie machen sich die Mortifikation zu eigen, reduzieren Wahrheiten auf eine Eigenschaft von Sätzen. Daran zeigt sich das Unvermögen, die Weltendinge aus einer intimen Kenntnis ihrer Relationen heraus zu verwenden oder mit ihnen in einer Weise umzugehen, mit der sie ihre jeweilige Wahrheit offenbaren. In den entscheidenden Zusammenhängen blicken selbst die Dinge uns an; ihr Blick vermittelt mehr, als dies kodifizierte Bedeutungen je könnten, sie haben ein Gesicht. Die Welt spricht zu uns, wenn wir in der Lage sind, sie durch den Lärm zu vernehmen, den wir ständig selbst um uns verbreiten. Es kann das Gesicht der/s anderen sein, in dem wir unserer Wahrheit begegnen; es kann der Anspruch und das Versprechen sein, mit dem wir uns jenseits von Lüge und Verleugnung zu situieren beginnen, es kann der performative Eid sein, mit dem uns erst einmal klar wird, dass eine Wahrheit für sprechende Wesen wesentlich mehr ist, als eine Funktion von Sätzen; in manchen Fällen ist es ein gesamter Lebenszusammenhang. In den Erfahrungen der Wahrheit des Lebendigen gründet jene personelle Macht, die die Institutionen schon immer als unlautere Konkurrenz diffamiert haben, die sie mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln ins Imaginäre abdrängen oder als Wahn verteufeln mussten. Gerade weil ihre Macht den unerwarteten Entscheidungen ihrer Stifterpersönlichkeiten zu verdanken ist, überraschenden Erfolgen und dem einhergehenden Charisma, gehört zur Bestandssicherrung der Institution die Vorsorge, derartig unkontrollierbare, profane Epiphanien nicht noch einmal zu gestatten.

Allerdings wurde mit Bacons ‚Novum Organum‘ auch jene Brücke von der Sprachmagie zur induktiven Schlussfolgerung konzipiert, mit der alternative Kenntnisweisen jenseits der dumpfen Machtstrategien von Institutionen möglich sind – die übrigens dank der Umwege von Außenseitern und Eigenbrötlern beiderlei Geschlechts für die Verjüngung des institutionellen Lernvermögens sorgen. Eine aktuelle Definition der Kultur ist nach Nünning der von Menschen erzeugte Gesamtkomplex kollektiver Sinnkonstruktionen, Denkformen, Empfindungsweisen, Werten und Bewertungen, der sich in Symbolsystemen materialisiert. Hervorzuheben ist, dass in dieser Zusammenfassung auch die Empfindungsweisen materialisiert werden, nicht nur das Universum des Wissens wird in einem semiotischen Feld konfiguriert. Wer sich im Jahrhundertgeschäft der Semiotik auf den Weg einer Physiognomie der Kulturen macht, den symbolischen Ausdruck zu fassen sucht, den eine Geschichte in der jeweilige Sprache gefunden hat, ist nach wie vor am magischen Projekt Bacons beteiligt, die Welt nach den Bedürfnissen des Menschen umzugestalten – das läuft wahrscheinlich sogar stimmiger und reibungsloser, wenn statt der Folter die Empathie bemüht wird. Von Bacon stammt eine frühe Form der Ideologiekritik als Idolenlehre, zugleich auch eine ursprüngliche Form des sapere aude: Habe den Mut, dich deiner eigenen Sinne, deiner Geschmacksorgane  zu bedienen, ohne dich dabei von anderen bevormunden zu lassen. Sapere bedeutete ursprünglich schmecken, bevor es zu Verstehen oder Wissen promoviert wurde. Als Leitspruch der Aufklärung musste das Habe-den-Mut-zum-Wissen erst durch eine Geschichte der Hermetiker, Alchimisten und Spinozisten hindurchgehen, bis sie mit Kant für die Normalvernunft zurecht zu schustern war: Habe den Mut, deinen Verstand zu gebrauchen – und das heißt etwas anderes. Dagegen beruhte noch Spinozas materialistischer Pantheismus auf dem Prinzip, dass alles mit allem zusammenhängt – also nicht darauf, dem Drill zu gehorchen, der einer beschränkten Weltsicht den Gehorsam einbrennt, sondern den Mut oder das Selbstverständnis aufzubringen, sich auf Wahrheiten jenseits der Herrschaftsverhältnisse einzulassen. Damit sind wir wieder bei einer porösen Zeitkonzeption, die nach beiden Seiten Benetzungen und Berührungen untersteht.

Das Thema des sozialen Todes (Bilz) wurzelt in den Zusammenhängen einer symbolischen Verletzbarkeit des Menschen, deren Voraussetzungen von Liebsch als ‚Subtile Gewalt‘ zusammengefasst werden. Hier werden vor allem die Schaltstellen gekennzeichnet, an denen über ein Leben entschieden wird, damit aber ex negativo ein Repertoire bereit gestellt, den Gewissheiten eines Schicksals zu entgehen. Die Kraft des Sprechens hat jede/r erfahren, für die/den Worte sich in bestimmten Zusammenhängen in einen stechenden Schmerz verwandelten. Tatsächlich haben wir bereits alle als Kinder während der wohlmeinenden Erziehungsversuche erlebt, wie Sprache kränkt und verletzt. Die prägende Wirkung wurde durch die Sprechakttheorie auf einen Nenner gebracht; die gewaltsame Rede, mit Worten unangenehmes oder böses zu bewirken, betrifft jedes leibhaftige Sein, das sich als sprachlich affizierbar erweist, das sozial überhaupt nur vermittels seiner Ansprechbarkeit und seines Anspruchs existiert. In dem Maße, wie diese in Frage gestellt sind, droht eine soziale Existenz zu verschwinden, der Name nicht mehr zu zählen. Solange der Name im Spiel bleibt, nicht ausgelöscht oder vergessen wird, ist der Inhaber des Namens als jemand ansprechbar und kann Andere ansprechen oder in Anspruch nehmen, die eine Erfahrung vermitteln, wer er/sie ist. Die Kraft der Sprache geht hier so weit, jemanden in seinem sozialen Sein zu halten oder die soziale Existenz zu verwehren. Mit Rosenzweigs Einbrechen des Namens in das Chaos des Unbenannten wird auch deutlich, welche Kräfte der Arbeit am Mythos hier konserviert wurden. Namen bringen Ordnung in die Welt, aber sie transportieren auch den Schrecken der Bedrohung durch eine Deterritorialisierung, die einen haltlos, ohne die gewohnten Identifikationen zurück lässt. Die Sprache kann uns tödlich verletzen, weil wir erst unter ihren Ordnungs- und Orientierungsleistungen geworden sind; wir bedürfen der Sprache, um überhaupt zu sein.

Dabei sollte nicht übersehen werden, dass die Macht des Blicks dieser Okkupation der Welt durch die menschliche Sprache vorausgeht. Es ist der Stolz in den Augen einer Mutter, das Bewusstsein ein Leben geschenkt zu haben und über dieses Leben in einer göttergleichen Form zu verfügen, die sich zur Sonne für ein künftiges Menschlein verwandelt. Die Sprache prolongiert diese ursprüngliche Ausgeliefertheit an die Anerkennung durch den Anderen auf einer abstrakteren Ebene; sie schreibt sie dann aber in einer viel umfassenderen Form in alle späteren Entwicklungen ein. Aus dem nur selten artikulierten, geschweige denn wirklich bewusst gewordenen Gefühl der primordialen Abhängigkeit werden die verschiedensten Variationen des Mythologems Muttermord hervorgegangen sein. Die ursprüngliche Entfremdung eines biologischen Wesens durch die Sprache macht es zu einem naturwidrigen Fremdkörper, sorgt zudem dafür, dass wir uns im Fortgang der Geschichte immer mehr daran üben, die ökologischen Gesetzmäßigkeiten außer Kraft zu setzen. Eine Objektivierung des jeweiligen Geschehens durch symbolische Formen wie die Sprache katapultiert uns nicht nur aus der Natur heraus, sie beinhaltet auch Chancen, die Folgen der ursprünglichen Abhängigkeit zu bearbeiten, einem Souveränitätstraining zu unterstellen.

Aufgrund des Namens kann ich sagen, wer mich ruft; und nur mit der Hilfe des Namens kann ich einen bestimmten Anderen rufen – so sind beide in ihrer Existenz völlig der Sprache überantwortet. Die Konstitution unseres Selbst startet mit der Namensgebung, ist aber niemals abgeschlossen, auch nachträglich greifen diese Voraussetzungen in unsere soziale Konstitution ein. Die Anerkennung durch ein menschliches Gegenüber mag unser Selbstbild konstituieren, doch weil die Anrede der Anerkennung vorausgeht, hängt unser soziales Leben bereits davon ab, wie und ob wir überhaupt angesprochen wer­den. Anerkennbar ist nur, wer ansprechbar ist und Quelle von Ansprüchen sein kann. Beides wird affirmiert durch die namentliche Anrede, in der sich wie in einem Brennpunkt zeigt, dass wir für den Anderen überhaupt existieren. Das er­klärt die Sensibilität für eine Nennung, Deformation oder Leugnung des Namens. Weil es schlimm ist, nicht zur Kenntnis genommen, nicht genannt oder angesprochen zu werden, halten wir sogar an Diffamierungen fest, die uns weh tun: Sie bestätigen immerhin eine gesellschaftliche Existenz, wir werden lieber erniedrigt, als nicht angesprochen.

Die eigentümliche Drohung des sozialen Todes liegt in dem Mangel an Abgrenzung gegenüber dem Anspruch, in den Augen Anderer die eigene Existenz zu bestätigen. Wir wissen nicht, wo der irreversible soziale Tod einzusetzen beginnt, das macht unsere fundamentale Erpressbarkeit aus. Die Wirkung archaischer Ausschlussverfahren oder der durch einen Voodoozauber bewirkte Vagustod zeigen, dass einen keine Namensnennung ab einem gewissen Grad der Unsichtbarkeit wieder ins Leben zurückrufen kann. Weil die soziale Existenz mit der Namensgebung bestätigt wurde, sorgt eine latente Angst vor der damit gegebenen Widerrufbarkeit für Ausgeliefertheit und Willfährigkeit. Weder dass wir als jemand existieren, noch dass es uns überhaupt gibt, erweist sich als unwiderruflich. Nicht einmal die Tatsache, dass wir mit dem Anspruch bereits in unserer Existenz wahrgenommen werden, bevor uns die soziale Gemeinschaft aufgenommen hat, erweist sich als unanfechtbar. Um diese Widerrufbarkeit und Anfechtbarkeit müssen Wesen wissen, die sozial nur als Ansprechbare und als Ansprechende existieren, sich vermittels der Sprache als verletzbare zu begreifen haben. Wir müssen sogar akzeptieren, dass die Anhänglichkeit an Zusammenhänge der sogenannt eigenen Welt am meisten wehtun kann, dass es die Verwobenheit mit den eigenen Ansprüchen und Selbstdefinitionen ist, die tödliche Verletzungen ermöglichen. Also sollten wir möglichst früh lernen, gegen den Konformismus eines auf Sprache angewiesenen Menschen daran zu arbeiten, immer in verschiedenen sozialen Kontexten, also in mehreren Welten zugange zu sein. Distanz heißt das Zauberwort, nur dann können wir uns erlauben, an den Intensitäten eines Augenblicks teilzuhaben, uns der unvermittelten Nähe einer/s Anderen auszusetzen. Für den von Batesons Lernen 3 vorausgesetzten Sprung, die Einsicht in die Gesetzmäßigkeiten des Kontextes unseres ‚normalen‘ Lebenskontextes, ist eine Variation der Erfahrung des sozialen Todes zu durchlaufen. Als Folge einer fundamentalen Entfremdung fallen wir ins Schweigen, gehen durch ein fundamentales Nein hindurch, erhöhen die Abstände, bis der identifikatorische Sinn ausfällt. Erst dann wird eine unmittelbare, echte Nähe zu den Gegenständen der Welt, vor allem aber zu einem lebendigen Gegenüber möglich. Nur in solchen Zusammenhängen der Bedeutsamkeit trifft das Bolzsche ‚Stop Making Sense’ einen Sachverhalt, der seit der Kohl-Ära das ‚einen-Sinn-machen‘ mit wirtschaftlichem Erfolg und politischer Macht verbunden hat. Solange wir unsere Lebendigkeit bewahren, stehen konventionalisierte Bedeutungen und der durch Großinstitutionen verbürgte Sinn unter dem Generalverdacht der Kolonisation der Lebenswelt.

Im Jahrhundert nach dem Linguistik Turn, nach den verschiedenen Varianten der Sprachphilosophie, ist es keine Selbstverständlichkeit, sich erneut auf die Sinne, das damit einher gehende Sinnenbewusstsein, auf subliminale Wahrnehmungen zu berufen. Jegliche bewusste Wahrnehmung beruht bereits auf abstrahierenden und generalisierenden Formen, die einer präfabrizierte Muster liefernden Wahrnehmungsstörung unterstehen – wenn wir den Unvorstellbarkeiten des Staunens auf LSD begegnen, setzt dies vielleicht eine Ahnung frei, was alles aus der Wahrnehmung raus gefiltert wird, damit das erwünscht normale Funktionieren möglich ist. Der Mensch lebt in einer sprachlich strukturierten Welt, wird selbst fast vollständig von der Sprache bewohnt; seine Wahrnehmungen und Erkenntnisse sind den sprachlichen Vorgaben des kulturellen Kontextes zu verdanken – es braucht also enorme Routinen, bis wir bei alltäglichen Handhabungen und Wahrnehmungen nicht mehr wiederholen, was uns eingepritscht wurde, sondern uns von den Energien einer materialhaften Intelligenz führen lassen, also jenseits der Geschwätzwelt auf ein Sehen, Hören und Spüren zurückkommen. Erkenntnistheoretisch führt dies in keine mythische Wunderwelt, nur die kategorialen Grundlagen der Zeichentheorie werden beansprucht. Wenn Nietzsche bei der erkenntnistheoretischen Fundierung seiner Sprachtheorie nicht über die Frage nach dem Wesen gestolpert wäre, hätte er den Sprung zur Relationsmetaphysik des 20. Jahrhunderts vorweg genommen. Wer unter Wahrheit ein Mobile von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz Wahrheit als eine Summe von menschlichen Relationen versteht, sollte daran festhalten, dass das der Stoff ist, aus dem die Welt und das Denken gewoben wird. Wahrheiten werden nicht durch die Relativität entwertet und zu Illusionen oder Lügen, weil vergessen worden ist, dass ihre Begriffe nur metaphorische und anthropomorphe Übertragungen sind. Erkennen ist ein Arbeiten in den geläufigen Metaphern, also ein nicht mehr als Nachahmung empfundenes Nachahmen. Das ist richtig und überzeugend, noch Benjamins Konzeption der unsinnlichen Ähnlichkeit setzt die verschiedenen Relationssysteme, unter denen Dinge, Kunstwerke, Menschen begriffen werden, in ein Beziehungsverhältnis. Für Russell war Ähnlichkeit ein Verstehensbegriff, der  sich nicht weiter reduzieren lässt, Ähnlichkeit richtet sich ans Auge, muss gesehen werden – dagegen sieht Benjamin im Traum mit den Augen des Körpers, zu Ähnlichkeiten taugen biomagnetische Spannungszustände und psychische Besetzungen, nachdem die Offenbarung vom Auge ausgehend den Umweg über den ganzen Körper genommen hat, um sich in der Schrift zu betten. So ist Nietzsches Urteil, dass die Wahrheit daraus entstehe, wenn die Genese der Sprache vergessen und jeder Begriff mit dem Wesen der Dinge gleichgesetzt werde völlig richtig, in die Irre führt lediglich die Behauptung einer alles entwertenden Relativität. Natürlich ist alles relativ, weil es in relationalen Systemen begründet ist, damit tatsächlich in einer Vielfalt von Beziehungen alles mit allem zusammen hängt – wir sind eben nur in der Lage, kleine Ausschnitte nachzuvollziehen. Mit den als triadischen Trichotomien verfassten Semiosen eines Peirce besteht keine semantische Entität und kein materielles Geschehen mehr für sich, sondern in jedem Zeichen, das als Zeichen wieder für ein Zeichen steht, das wieder ein Zeichen für ein Zeichen ist, liegt immer ein Gebilde vor, in dem Materie, Relation und Geist in verschiedenen Mischungsverhältnissen real und nicht nur gedacht vernetzt sind – das eine ohne das andere ist ohne das dritte weder vorstellbar noch wirklichkeitsmächtig. Die ganze Welt der Erscheinungen, von den einfachsten materiellen Gegebenheiten, über handwerkliche Routinen oder binäre Operationen bis zu hochsublimierten, kulturellen Produkten oder wissenschaftlichen Fortschritten ist ein Spiel trichotomischer Triaden. Bereits die Materie denkt, Atome werden auf der subatomaren Ebene durch semimateriale Bindungskräfte zusammengehalten, Beziehungen sind geistige Prozesse – Natur ist, wenn wir uns von der Perspektive einer quantitativen Zurichtung durch technische Wissenschaften verabschieden, ein subtiles Geflecht energetischer Beziehungen, ein umfassender Kommunikationsprozess. Leben sichert sich als momentane Reproduktion von Ordnungsstrukturen gegen Zerfall und Dysfunktionalität durch Rückkopplungsschleifen von Zufall und Energiezerstreuung eben dieser Störfaktoren: Selbsterhaltung ist als Kommunikationsprozess in einem Netz von Rückkopplungen zu beschreiben. Noch die höchste Form geistiger Produktion ist auf materiale Trägerelemente angewiesen, die die Formen vorgeben, in denen Informationen transportiert, im günstigsten Fall in Kommunikation transformiert werden. Es ist die Materialität der Zeichensysteme, die jeweilige Eigenart des Signifikanten, mit der wir mehr über die transportierten Bedeutungen oder Signifikate erfahren, als durch kodifizierte Konventionen – es gibt nichts dahinter, reine Bedeutungen oder pure Materie sind immer nur Epiphänomene. Mit dem aus den esoterischen Traditionslinien entwendeten Symbolbegriff steht eine zeichentheoretische Konzeption zur Verfügung, mit der wir mitten in der Materialhaftigkeit der Welt landen. Das Zeichen mag in der Analyse Lacans selbst ein Motor der Abwesenheitsdressur sein, die Zeichentheorie semiologischer Prägung eine Form von Ideologiekritik spiritueller Veranstaltungen. Aber das muss nicht alles sein, wenn wir die Materialität der Welt wie die Spiritualisierung der Materie als triadische Trichotomien handhaben. Die Differenz zwischen einer Aktualität der Präsenz und ihrer Repräsentation in Wahrnehmung und Bewusstsein muss nicht zu einem hoffnungsvollen Verpassen oder zu einem wahnhaften Hinterherrennen gerinnen, wenn gewisse traditionelle Besessenheiten zugunsten der Möglichkeitsspielräume postmoderner Medien verabschiedet werden. Die Abwesenheitsdressur der Schrift wird durch multimediale Intensitäten des Jetzt und Hier ausgehebelt, digitale Speichersysteme sorgen auf einer fundamentalen Ebene dafür, dem Vergessen in einem umfassenden Maß vorzubeugen, das die Revolution der Schrift nicht vorhersehen konnte. Haptische und rhythmische Erfahrungsmuster führen in die Routinen der Präsenz zurück; unterschwellige Wahrnehmungen, freie Assoziationen, unwillkürliche Erinnerungen befördern die Fähigkeiten Achtsamkeit, Körperbewusstsein, Geistesgegenwart, die von Abstraktionsleistungen und Generalisierungen der letzten Jahrhunderte ausgedünnt wurden. 

Die Formen der Wahrnehmung, des Denkens und der Erfahrung hängen von den Medien ab, die das jeweilige kulturelle Wissen transportieren. Die Bedingungen von McLuhans Gutenberggalaxis tauchen bereits im 12. Jahrhundert durch neue Anforderungen an Manuskripttexte auf, in denen systematisch verschiedene Ordnungskriterien beachtet werden: Inhaltsverzeichnisse, Sachregister, Kapiteleinteilungen, die Trennung von Text und Kommentar, die Verwendung von Papier statt Pergament. Doch erst die Industrialisierung der Buchherstellung durch die Druckerpresse verwandelt das laute gemeinsame Lesen in den Prozess einer auf das visuelle Erfassen und leise Lesen entstehenden Lesekultur, die weitere Ordnungskriterien und Gestaltungen der Drucke mit sich bringt, damit der Wissensvermittlung und dem Meinungsstreit zuarbeitet. Mit dem Buchdruck entstehen Archive, die sich unabhängig vom lebendigen Vollzug erhalten; typographische Speicher erlauben die präzise Wiederholung eines einmal entwickelten Wissensbestands,  befördern damit Induktions- und Abduktionsvorgänge, die die Argumentation enorm erleichtern, in Gefilde führen, die ohne die speziellen Notationen eines typographischen Gedächtnisses nicht mehr nachvollziehbar wären. Die formale Logik, der Euklidische Raum, die moderne Mathematik und die darauf aufbauenden Naturwissenschaften wurden durch das typographische Gedächtnis erst ermöglicht; Kants nicht aus der Erfahrung stammende Formen der Wahrnehmung sind tatsächlich ein Resultat der Grammatik jener Medien, die unsere Sinne, unser Erkenntnisvermögen strukturieren. Schreiben und Lesen verwandeln das Gehörte und Gesprochene in eine visuelle, damit räumliche Sphäre. Die Druckerpresse hat nicht nur den Hörraum in einen Sehraum umgegossen, sie ließ mit dem allgemeinen Wahrnehmungswandel das symbolische System hinter dem visuellen Raum dessen wesentliche Eigenschaften übernehmen: Kontinuität, Uniformität, örtliche Zuordnung.

Schriftlose, auditiv ausgerichtete Präsenzkulturen richten ihren Bildvorrat an Ritualformen kreisläufiger Wiederkehr aus; während die Wahrnehmung in literalen und medialen Gesellschaften vor allem visuell strukturiert ist. Der Einschnitt im europäischen Kulturraum war die Einführung der phonetischen Notation, die Übersetzung gehörter Sprache in visuelle Formen als Abstraktionsleistung, mit der Möglichkeiten der präzisen Aufzeichnung geschaffen waren. Jenseits der Erinnerung und der performativen Vollzüge waren philosophische und dramatische Texte zu speichern, die zu einem gesellschaftlich abrufbaren Wissen wurden, ein objektiviertes Denken außerhalb menschlicher Gehirne, das Generationsketten überdauern konnte. Für Kerckhoves ‚Schriftgeburten‘ führt eine gerade Linie vom Vokalalphabeth, das die Analyse beförderte und die Abstände zur Welt erhöhte, zur Zerstörung der Intuition für die Wirksamkeiten des Kontextes, damit in letzter Konsequenz zur Kernzertrümmerung und der Herrschaft der Atombombe. Unter dieser Perspektive schließt sich die Verwandlung der Welt in Bits und Bytes nur folgerichtig an – obwohl ein sublimierter Analphabetismus Türen der entgegengesetzten Entwicklungslinie aufschließt. Mittlerweile gibt es keine Notwendigkeit mehr, die uns daran hindern könnte, eine kritische Hinterfragung des technischen Wandels für die Emanzipation nutzbar zu machen. Das Repertoire liegt vor, seit mit den digitalen Zugriffsmöglichkeiten des Computers ein offenes und unspezifisches Medium in der Lage ist, über alle Medien zu verfügen, also richtig damit umzugehen. Eine wichtige Parallele hilft uns dabei, denn die symbolische Realität der Zeichenverarbeitung ist eine Maschine, die wie sensibilisierte Körper jenseits der Hermeneutik funktioniert. Der Mensch musste sich einmal von den Zwängen der Natur emanzipieren, mittlerweile sollte er in die Lage kommen, die Zwänge zu verabschieden, die er als Gegengewichte selbst geschaffen hat. Wir haben nicht zwingend den Gesetzmäßigkeiten zu folgen, denen wir eine Wirtschaft der Umweltvernichtung oder eine Technik des Overkills verdanken. Sondern wir können mit den heute vorliegenden technischen Möglichkeiten noch einmal auf die ursprünglichen Fraglichkeiten zurückkommen: Den Motor der wuchernden Vorstellungen eines aus der Natur herausgefallenen Untiers! Es sind genau diese Vorstellungen, die sich im Laufe der Zeit in Prognosen und Berechnungen verwandelten, die den Menschen aus seiner biologischen Umwelt ausschlossen und das Leben als Geschäft kalkulierten. Eine Entwicklung, die mit der technischen Entwicklung allerdings über sich hinaus gegangen ist und spätestens dann obsolet wird, wenn die Medien mit vielfältigen Gestalten der Suche nach dem Sinn, der Orientierung in der Welt, einen umfassenden Mythenverbund inszenieren. Bolz erinnerte daran, dass Blockbuster Selektionsmechanismen zur Optimierung von Mythen zur Verfügung stellen. Ein idealer Inhalt der Medien sind Mythen, das Ideal kultischer Kommunikation im Zeitalter ihrer universellen Reproduzierbarkeit, damit die immer wieder neue Aktualisierung der Aufgaben- und Fragestellungen, die wir der neolithischen Revolution verdanken. Selbst in der Werbung verbirgt sich ein mächtiger Antitrend, denn ihre falschen Versprechungen halten eine utopische Kraft virulent, die die Bilder von Leidenschaft und Glück gegen die Folgen einer gesellschaftlichen Stillstellung aufrichten. Nach Reich bezieht noch das verlogenste Pathos seine Kraft aus einem Rest lebendigen Lebens, die gemeinsten Verlogenheiten werden gesucht und genossen, wenn sie ein Funke Lebendigkeit speist. Nach Jahrzehnten der Beschäftigung mit Fantasie und Imagination hatte Kamper die These aufgestellt: Je tiefer im Imaginären, je näher am Realen. Nebenbei unterstreicht er aber in den verschiedensten Zusammenhängen, warum für Menschen von Fleisch und Blut die erhabenste Erfahrung die der Präsenz ist.

Seit der Frühromantik liefert der Nomade Wunschvorstellungen des Intellekts; im Verhältnis von Labyrinth und Phantasie sind Initiationsriten aufbewahrt, obwohl die ihnen entsprechende Wahrheit heute nicht mehr zeigt, als in früheren Zeiten ein Getreidekorn. Nietzsche wollte mit den Beinen denken und seit den Surrealisten ist der Dichter ein Gehender. Der Weg sei das Ziel wird von Jahrtausende alten Weisheitslehren verkündet – tatsächlich beginnt das Denken mit den Beinen, wie Leroi-Gourhan in ‚Hand und Wort‘ zeigt. Wahrscheinlich ist die Thematisierung des Gehens, des Vorankommens in unseren Zeiten so zwingend, weil bei den Simulanten der Selbstheit aufgrund ständiger Selbstdementierungen fast nichts voran, bei Impotenten aber ständig vor und zurück geht; die Statthalter des besseren Wissens sind häufig genug Gehbehinderte, verkorkste Schreibtischtäter mit Machtfantasien. Der Ordnung des Gehens, Vorantastens könnten die Gesetzmäßigkeiten eines Glücks des Unvorhergesehenen entsprechen – und damit gegen den Imperativ der Stillstellung und des seelischen Erstickungstodes in der verwalteten Welt Auswege bieten. Gehen im Rhythmus des Herzschlags, der bilderlose Fundus einer taktilen Kreativität richtet sich gegen die Macht des Panoptikums, gegen die Besetzung einer Orientierung durch das Auge. Wenn wir nach der Einflusssphäre der von Foucault herausgearbeiteten gesellschaftlichen Macht suchen, die gerade in den kleinsten biographischen Momenten wirkt, ist an der Komplexitätsreduktion anzusetzen: Das Auge liefert für sich bereits eine enorme Komprimierung der Daten, wenn 100 Millionen Sensoren in der Retina lediglich durch fünf Millionen Anschlüsse mit dem Gehirn verbunden werden. Was durch die Sortierfunktion dieses Flaschenhalses wegfällt oder unter die Wahrnehmungsschwelle gerät, untersteht Gesetzmäßigkeiten, die den identifikatorischen Vorgaben einer gesellschaftlich entwickelten Mikropolitik gehorchen. Sie sind jedoch mit dem nötigen informationstheoretischen Hintergrund nicht mehr hilflos zu akzeptieren. Alle sozialen Belange beinhalten normative Setzungen und transportieren ganz selbstverständlich Differenzkriterien der Macht. Aus diesem Grund ist die Macht als ubiquitäres Verhältnis mindestens so tief im gesellschaftlichen Leben verwurzelt, wie die jeweiligen Werte und Normen, in vielen Fällen generiert sie diese sogar. Für Bourdieu hat alle Macht eine symbolische Dimension, deren Effekte sich in die Körper einschreiben, sich in der Haltung, den Gewohnheiten, selbst in den Falten niederschlagen, vor allem aber die synaptischen Verknüpfungen im Gehirn prägen. Der Orthodoxie der herrschenden Verhältnisse, die an einer unreflektierten Anpassung interessiert ist, die mit Verleugnung und Schweigegeboten an deren Vernebelung arbeitet, steht ein häretischer Diskurs gegenüber, der die Gewohnheitsmuster, die Imperative des gesunden Menschenverstands aufzubrechen versucht – auf die Dauer aber für die Verjüngung und Flexibilisierung dieser Verhältnisse sorgt. Schon jeder Streit um Worte im symbolischen Feld ist eminent politisch, denn die Worte organisieren die Wahrnehmungsweise und das mehr oder weniger, oft nur zeitversetzte, gemeinsame Weltverständnis.

 

Das Glück des Unvorhergesehenen bringt die Chance mit sich, mehr und anderes zu finden oder zu erfahren, als dies unsere Erwartungsmuster und die dahinter arbeitende Komplexitätsreduktion erlauben. Brüche und Diskontinuitäten in unseren Biografien bieten sich an, um das Entstehen von Lernprozessen, psychischen Wachstumsbedingungen, relativ einfach zu erklären, um gewisse Regelhaftigkeiten aufzusuchen und zu optimieren, sie für andere zu verallgemeinern. Was liegt näher, als ein fluktuierendes Reich der Semantik vorauszusetzen – ein spannungsbalancierendes Fließgleichgewicht des symbolischen Tauschs. Der Prozess einer sozialen Evolution steuert die Komplexitätsreduktion unseres Wahrnehmungsapparats; in der Folge sind es die Traditionen, Konventionen und Erwartungsmuster, die unsere Erfahrung strukturieren: Gelegentlich war von morphogenetischen Feldern die Rede, hin und wieder heißt es, das Ganze sei mehr, als die Summe seiner Teile, manchmal wird von einer guten Gestalt ausgegangen und in ganz verschiedenen Zusammenhängen ist von Emergenz die Rede. Damit wurde das, was sich den Erklärungen entzieht, mit schönen Namen getauft, bei denen sich der Wille zum Wissen beruhigen darf, obwohl in der Regel nicht verstanden wird, wie nah sich Katastrophe und Geistesblitz sind.

Das älteste uns überlieferte philosophische Fragment stammt von Anaximander; es umreißt die ursprünglichen Gesetzmäßigkeiten des ökologischen Tauschs: Die Ursachen, aus denen die Dinge und Verhältnisse entstehen, liefern die Gründe, warum sie auch wieder vergehen. Für die Übertretung, in die Existenz entlassen worden zu sein, zahlen sie der Zeit eine Schuld ab, bis das Konto aus Geben und Nehmen wieder ausgeglichen ist. Natürlich habe ich dieses Zitat modifiziert, auf einen aktuellen Nenner gebracht – aber da das Original verloren gegangen ist, nur Zitate von Zitaten überliefert wurden, liegt mir diese Vorgehensweise näher als der unter biblischen Vorgaben entstandene Fluch auf der geschlechtlichen Vereinigung: Der Tod sei der Sünde Sold.

Die allgemeinste Gesetzmäßigkeit der Zivilisation beruht auf der Tatsache, dass die Menschheit ökologische Zyklen durch Planung, Vorratshaltung und Technik außer Kraft setzt – der Mensch wird damit zum naturwidrigen Fremdkörper. Diese in uns pochende Fremdheit sollte nicht verleugnet werden, wie die Angst vor den Forderungen der Toten. Die einem Schock, einem Scheitern, einer Desorientierung verdankte schmerzhafte Selbsterkenntnis ist die wichtigste Grundlage von Lernprozessen. Mit dem symbolischen Tausch versuchen wir für eine gewisse Zeit immer wieder ein Gleichgewicht auszutarieren, eingedenk der Tatsache, dass der Gewinn auf der einen Seite zum Verlust auf der anderen Seite wird. Ausgangspunkt ist hier eine Anähnelung an ökologische Zyklen, die uns vor einer Homöostase des Elends bewahren. Wer nicht bereit war, für das Bekommene Gleichwertiges zu geben, hatte Grund zur Angst, in einer Abwärtsspirale hängen zu bleiben. Mit der Entwicklung von abstrakten Handelsbeziehungen und einer Optimierungen unterstehenden Technik wird dieser ängstigende Vorbehalt verdrängt; verabsolutiert werden nun die Gesetzmäßigkeiten eines ökonomischen Tauschs, die den Wert einer Sache am Imaginären festmachen: Etwas ist so viel wert, wie jemand unter dem Druck des Konkurrenzverhaltens bereit ist, dafür zu geben. Das mag lange funktionieren, auch wenn in Vergessenheit geratene Weisheiten für die Individualpsychologie als zwangsneurotische Rituale wiederkehren oder gesellschaftliche Krisen das Wertsystem derart durcheinander bringen, dass unter vergleichbaren Bedingungen einer konfliktuellen Mimetik immer wieder einmal von vorne zu beginnen ist. Lange heißt allerdings nicht ewig – und es macht einen Unterschied, ob die Ausgeliefertheit gegenüber den Folgen eines unfähigen politischen Systems durch die Verlagerung auf Stellvertreterkriege oder die Eroberung neuer Kolonien verarbeitet werden kann oder ob der Planet restlos aufgeteilt ist und die Lösung eines Rückgriffs auf Kriege nicht mehr zur Verfügung steht, weil die Waffentechnik mittlerweile der Logik des Overkills untersteht. Die Verlagerung irgendwelcher Kriegsspiele in die Dritte Welt oder die Regression gescheiterter imperialistischer Staaten auf die Machtspiele des 19. Jahrhunderts kosten heute Ressourcen und wertvolle Zeit, für die uns ein fieberkranker Planet seit geraumer Zeit Rechnungen stellt, die wir nicht mehr begleichen können. Während die verschiedenen unflexiblen und statischen politischen Systeme in irgendwelchen Formen noch immer am Status Quo der Selbstzerstörung festhalten, könnte jeder Einzelne für sich entscheiden, gegen die Imperative der Abwesenheitsdressur an den Schulungsgängen der Präsenz zu arbeiten. Das könnte damit beginnen, auf eine sinnlose Fortpflanzung zu verzichten, stattdessen aber die Erotik zu kultivieren – es wird ihnen nicht gerecht, wenn Kinder als Mittel der Erpressung dienen, mit denen man/frau den Lebensstandard sichert oder für Zuwendungen und Nachsicht verwendet. Wer wirklich mit der Zeugung eines Kindes einen persönlichen Sinn erwartet, nicht nur stumpfen Nachahmungszwängen gehorcht, sollte den in verschiedenen Zusammenhängen geforderten Kinderführerschein vorlegen und außerdem die finanziellen Mittel nachweisen, die einem Kind optimale Entwicklungschancen garantieren. Das könnte zum nächsten dazu führen, sich von Statusdenken und Fetischismus zu verabschieden, also keine entfremdende Arbeit anzustreben, um den sinnlosen Konsumgütermarkt zu füttern, sondern sich in Eigen- und Beziehungsarbeit zu üben, um eine beschränkte Lebenszeit mit Sinnfülle zu laden –  womit man/frau, eben weil sie nicht ein Leben lang vor sich selbst weglaufen, sehr wahrscheinlich keine Angst mehr vor dem notwendigen Ende haben werden.

Wenn wir das nicht planbare Glück des Unvorhergesehen haben, im Hier und Jetzt der Präsenz anzukommen, funktioniert mit den behutsamen Annäherungen Gumbrechts noch immer jener magische Akt, durch den eine zeitlich und räumlich entfernte Substanz präsent wird – obwohl Kairos als Gott des rechten Augenblicks in der Gefahr des Verpassens mit einem Messer hinter uns steht, was dann zu schmerzhaften Lernprozessen führt. Doch wie der zeitliche Vektor suspendiert wird, geht es nicht mehr um Deutung und Interpretation, sondern um die Vergegenwärtigung einer Gestalt im räumlichen Zusammenhang. Jede Form von Kommunikation setzt in irgendeiner Weise die Produktion von Präsenz voraus – die Präsenz ist eine Feldfunktion, die sich kompatibel zur Konzeption der Seele als eines Feldes erweist. Schon deshalb greifen Präsenzerfahrung und Spielfeld bei sportlichen Veranstaltungen ineinander, Gruppenphänomene und Massenbewegung weiten dieses Feld, bis es das erfahrbare Geschehen jenseits subjektiver Beschränkungen erfahrbar machen kann. Der von den Kommunikationsmitteln herkommende Effekt der Greifbarkeit durch Bewegungen zunehmender oder abnehmender Nähe und zunehmender oder abnehmender Intensität beeinflusst uns als Kommunizierende, wir werden durch Nachahmungsneuronen in der Materialität unserer Körper affiziert. Gumbrechts Rückgriff auf Aristoteles wäre noch stringenter, wenn er die antizipierende Funktion künftiger Zustände durch die Teleologie einbeziehen würde. Eine Funktion der Mimesis besteht darin, entfernte Zeiten und Orte zu einer gemeinsamen Gegenwart zu verknüpfen. Für Ricœur vermittelt der mimetische Bezug zur Wirklichkeit erkenntnistheoretisch die Möglichkeit, den mantischen Spielraum zwischen Universalismus und Relativismus aufzufalten, also konkrete Erfahrungen in einem Feld zwischen Idee und Einzelding zu vermitteln. Wie nebenbei werden sich Personen, während sie kommunizieren, in spezifischen und wechselnden Weisen berühren – es geht eben nicht nur um unverbindlichen warmen Wind und wiedergekäute Sprechblasen. Der Raum, der währenddessen entsteht, ermöglicht die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, damit die momentane Suspendierung der Abwesenheitsdressur. Gerade der Bezug von Symbolbegriff und leiblicher Präsenz ist in der Lage, die Willkür der konventionellen Setzungen auszuhebeln. Der Konstruktivismus hat trotz wesentlicher Bestimmungen der Arbeitsweise des Erkenntnisapparats jene Bodenhaftung verloren, mit der genealogische und historische Gewordenheiten aufzuschlüsseln sind. Alle Wahrnehmungen werden bereits durch die Filter der Symbolstruktur unserer kommunikativen Prozesse gesteuert, Gestalt ist sinnerfüllte Wahrnehmung, Sinn ergibt sich immer erst aus dem Kontext, gewohnte Bilder transportieren prospektive Erwartungen. Gerade diese Unterstreichung von Sinn ist alles andere als willkürlich; erst wenn er verloren geht, weil organische Abläufe gestört und ausgebremst werden, um sie für andere Zwecke zu missbrauchen, wird die Sinnkrise als Mangel thematisiert, entstehen jene verhärteten Konstruktionen, die sich mehr und mehr als Wahnsysteme erweisen. Eine sinnerfüllte Wirklichkeit wird nicht thematisiert, wozu auch, wenn alles wie selbstverständlich läuft. Schon im kultischen Tanz wird ein unbewusstes Wissen, eine vorahmende Erfahrung über die Muskelinnervation übertragen; der Bezug auf ein symbolisch verfasstes Weltgebäude wird durch diese Übersetzung geleistet, ist also nicht als beliebig gesetzt. Damit haben wir eine Form des Wissenserwerbs, die eben nicht auf bloße Konventionen reduzierbar ist – Konventionen allein liefern mit Benjamin nur objektive Verlogenheiten‘. Wenn die Wurzeln eines sprachlichen oder tänzerischen Ausdrucks in ein und demselben mimetischen Vermögen gefunden werden, muss bereits eine Form der Sprachphysiognomik vorausgegangen sein: Unser Sprachvermögen ist ein spätes Resultat der Spurensicherung, der Suche nach Zeichen und Hinweisen im mantischen Orientierungsraum von Wildbeutern und Sammlerinnen. Die Konzeption des Wortes als Verweisungszusammenhang und die ganzheitlich verstandene Seele beruhen auf dem gleichen Prinzip der Verwobenheit mit dem umfassenden Ganzen. Die am Wort ansetzende ‚freie‘ Assoziation ist alles andere eher als frei, mit der strengen Determiniertheit viel eher der treffende Index einer Wahrheit, über die wir nicht verfügen. Diese Verwobenheit ist ein Korrelat subliminaler Wahrnehmungen oder den Klarträumen Tholays und LaBerges, die Resultat einer willentlichen Bewegung im Seelenraum sind.

Benjamin hatte in den Texten zum ‚Passagenwerk‘ die gesellschaftlichen Verhältnisse in einer Form dargestellt, mit der Erfahrungen zugänglich wurden, die unterhalb der Schwelle des diskursiven Denkens im Bereich einer präsentativen Symbolik ihren Ort haben. Mit der Technik der darstellenden Konstellation entfernt diese sich von den Sphären der Repräsentation und der Norm (klassischer Rationalismus und hermeneutischer Historismus). Die konstellierende Darstellung arbeitet nicht nur mit einem impliziten Wissen, sondern nähert sich über die performative Präsenz dem Jetzt der Erkennbarkeit an. Die unter dem Einfluss des Surrealismus modifizierten Wahrnehmungstechniken hebeln den Reizschutz des Bewusstseins aus, ermöglichen also von Neuem kleine Schockimpulse und erweitern damit das Erfahrungsspektrum. Manche Einsicht, die Benjamins esoterischer Sprachtheorie zu verdanken war, erwies sich im Rahmen des materialistischen Ansatzes als ungeahnt fruchtbar; heute wird sie durch Sinnenbewusstsein und Bewusstseinsphilosophie in ganz andere Sphären transportiert. Jedes implizite Wissen ist tatsächlich nur ein kleiner Ausschnitt aus einem Repertoire an Wissensweisen, dem wir uns anvertrauen, wenn wir uns nicht darauf kaprizieren, überall ein „Ich-denke“ ranzukleben. Sennetts Schlussfolgerungen über das Handwerk lokalisieren handwerkliche Techniken in eben diesen Zusammenhängen: Was wir gut können, können wir ohne Überlegung. Nach Spaemann realisieren wir das Telos eines Verfahrens oder einer Kunst, wenn wir dabei nicht mehr überlegen müssen, sondern handeln, als sei dies zu unserer Natur geworden. Jede materialhafte Intelligenz, die auf Übung und Gewohnheitsbildung beruht, bringt uns dazu, dem Werkzeug zu folgen, die Kräfte, die in einem Gegenstand wirken, für uns arbeiten zu lassen. Gumbrechts Ausführungen über die Verwirklichung der Präsenz im Sport unterstreichen diese Denkvorgänge außerhalb des Kopfes und gehen sogar noch weiter.

Spielerische Übungen in gewissen gesellschaftlichen Nischen mögen relative Verfügungen ermöglichen, aber gewöhnlich haben Aufschub und Umweg das Leben vor einem Absolutismus der Wirklichkeit zu schützen. Das einfachste Mittel jenseits der Intoxinierung ist noch immer, die unter der Haut brennende Suche nach irgendwelchen Sinnstiftungen mit Geld in den Konsum umzuleiten. Anspruchsvoller ist bereits die Repertoireerweiterung, dank der Logik des Signifikantennetzes den gleichzeitigen Aufenthalt in mehreren Weltausschnitten zu managen, also die Möglichkeit zu kultivieren, an Varianten zu arbeiten, die über die Vorgaben der herrschenden Verhältnisse hinauszugehen. Dabei darf nicht übersehen werden, warum die Erfahrung von Präsenz als bedrohliche Verausgabung gefürchtet wird, die mit Hilfe von Bahnung und Wiederholung hinausgeschoben werden muss. So ist eine zusätzliche Motivation vonnöten, wenn in einer vernagelten, von Lüge und Verleugnung verstellten Welt auf einmal ein Halt in fremden Wahrheiten gesucht werden soll. Mit Gumbrecht wird es gerade der Rückgriff auf Erfahrungsformen der Präsenz sein, mit denen wir am Erhalt unserer Lebendigkeit und Erfahrungsfähigkeit zu arbeiten beginnen. Weil wesentlich mehr Daten auf uns einstürmen, als wir wahrnehmen können, wesentlich mehr an Wahrnehmungsgehalten zur Verfügung steht, als uns bewusst werden kann, ist es eben der Aufenthalt in mehreren Welten und die Abkürzung vorgegebener kultureller Umwege, die es mit sich bringen, dass wir auf einmal sehen oder hören, was wir nicht wahrnehmen sollen. Die Komplexität selbst kann dafür sorgen, uns in manchem Nu mit einem Bewusstsein zu konfrontieren, das der Augenblick des Verfahrens den vorgegebenen Denkbehinderungen abtrotzt. Die Plötzlichkeit liefert nicht nur entscheidende Kriterien der ästhetischen Erfahrung, sondern auch die Voraussetzung einer Standleitung zur Präsenz. Die Herausbildung von neuen Eigenschaften oder Strukturen eines Systems aufgrund des Zusammenspiels seiner Elemente lassen sich nach der nüchternen und fantasielosen Philosophie des Geistes nicht auf isolierte Eigenschaften der Elemente zurückführen, aber wundersamerweise erklärt sie das im Tank vor sich hin rechnende Bewusstsein als emergente Eigenschaft des Gehirns. Tatsächlich gibt es unter der Wahrnehmungsschwelle ein gespenstisches Leben, das manches über die gesellschaftlich entstandenen Verarbeitungskapazitäten des Wegstreichens, des Auswählens und Zusammenfassens verrät. Es gibt kein isoliertes Sinnesdatum, wie es keinen vereinzelten Gedanken gibt, sondern es handelt sich immer um Netze, die mit anderen Netzen verknüpft sind, um mehr oder weniger dichte, wolkige Gebilde – Emergenz ist das Resultat rekursiver Schleifen und alternativer Verknüpfungen. Außerhalb des Lichtkegels des Bewusstseins finden vor- und unbewusste Prozesse statt, die strukturiert sind wie die Sprache und in ihren Grundlagen auf topologische und mengentheoretische Gesetzmäßigkeiten zurückzuführen sind. Bereits als expressives System ist die Sprache erst einmal Aufschub und Umweg, schon in diesen Anfängen bringt sie der Präsenz einen Riss bei, der nicht mehr zu schließen ist und den Abstand zur Materialität der Welt und zu den Dingen hinter der Verarbeitungsqualität der Armatur unserer Sinne weiter vergrößert. Aber zugleich ist sie ein Medium der Bedingungen und Möglichkeiten unserer Erfahrung mit den feinsten Unterscheidungen, in das unsere Geschichte mit all ihren Variationen, Schattierungen und Aromen eingegangen ist. Die Vergangenheit mag vergangen sein, aber sie ist jenseits der Zeugnisse und Dokumente nicht nichts, weil ihre Folgen unsere Gegenwart und sogar unsere Erwartungen an die Zukunft prägen. Das Gedächtnis kann irren, ja sogar täuschende Erinnerungen produzieren, die lediglich auf fehlerhaften Identifikationen und Verleugnungen beruhen. Erinnertes und Gewesenes müssen nicht miteinander  übereinstimmen, doch die Kräfte des Gewesenen haben in den verschiedensten Medien und Materialien Spuren hinterlassen, die in the long run selbst gegenüber bewussten Fälschungen der Geschichte den längeren Atem beweisen. Auch wenn diese für uns nie erreichbar ist, können wir von der virtuellen Präsenz eines tatsächlichen Verlaufs ausgehen, die verschiedenste Interpretationen anzielen oder umkreisen – eine Logik der Forschung grundiert bereits einfachste Versuche, sich in der Welt zurechtzufinden. Je besser wir mit der Sprache umgehen, je selbstverständlicher die immateriellen Bedeutungen werden, je weniger wird uns noch bewusst oder erfahrbar, was die Materialität der Sprache und damit ihre Verhaftetheit in der Welt ausmacht. Das uns vertrauteste, die Bedienungsanleitung der Waffensysteme unserer Sinne, ist uns nicht bewusst, die Bedingungen der Möglichkeit unseres Bewusstseins können wir erst im Nachhinein rekonstruieren – aber die Gesetzmäßigkeiten der Entfremdung von aller Unmittelbarkeit taugen dazu, einer potenzierten Entfremdung von der Entfremdung zuzuarbeiten. Auf einmal landen wir für Augenblicke im Jetzt der Wahrnehmung, die bereits Wahrheit transportiert. Der Ich-Hier-Jetzt-Index kann in extremen Situationen zur Unmittelbarkeit der Präsenz führen. Wir brauchen nicht an Aphrodite – deren erste Erscheinungsform älter war, als die Götter des Olymp – zu glauben, genau so wenig wie die Griechen, das hat Bruno Snell überzeugend gezeigt. Es ist völlig ausreichend, zu spüren wie sie wirkt, wie es nicht möglich ist, ihren Einfluss in Abrede zu stellen. Die Schönheit hat auf der hormonellen Ebene eine Wirkungsgewalt, die der einer stringenten Logik auf der Ebene der Argumentation noch überlegen sein kann – die Schönheit einer/s Anderen außerhalb unseres Gehirns vermittelt die Teilhabe an einer Harmonie! Die uns wirklich betreffenden Wahrheiten sind eben nicht auf eine Funktion von Sätzen zu reduzieren!

Sozialer Tod, Initiation und Wiedergeburtsmetaphern kennzeichnen einen Raum, in dem wir die Losgelöstheit von sozialen Bindungen und Begrenzungen des kulturellen Kontextes erfahren; in manchen Fällen wird eine Neuformatierung des psychischen Geschehens möglich. Praktisch ist der soziale Tod das Resultat eines Ausgrenzungsverfahrens, das menschlichen Ausschuss produziert, weil es an den Initiationsregeln fehlt. Die Restbestände der menschheitsgeschichtlichen Routinen einer Selbstimmunisierung haben spezifische gesellschaftliche Nischen geprägt oder tauchen ad hoc als glückliche Funde Einzelner auf. Es gibt die nichtalltäglichen Erfahrungen des Glücks, des Rausches, der Ekstase, des Einsseins mit der Natur oder dem Anderen, die ein neues Verhältnis zum eigenen Leben und zur Welt eröffnen. Sie liefern eine einmalige Erfahrung von Nähe und Ganzheit: Eine maximal unwahrscheinliche Begegnung, in der die unmittelbare Präsenz eines Gegenübers in einem Nu in ihrer Einmaligkeit erfahren wird. Im Verhältnis zu unseren täglichen Verpflichtungen, in denen die Gegenwart des Anderen einer kategorialen Abwesenheit untersteht, landen wir in einer Robinsonade des Hier und Jetzt – einer Insel in der Zeit, in der die Zeit zwischen Erwartung und Erinnerung stillsteht. Und das ist alles nicht neu, es soll nur nicht bewusst werden, weil es unser Funktionieren als Rädchen in einem Räderwerk stören würde. Die von Descartes herkommende Reduzierung lebendiger Vorgänge auf maschinelle Prozesse mag die Grundlage des wirtschaftlichen Wachstums der letzten Jahrhunderte sein. Aber sie hat auch die nötige Technik und entsprechende Freiräume geschaffen, in denen wir an lebenswichtigen Repertoireerweiterungen arbeiten können. So, wie in den magisch ausgerichteten Gesellschaften mit ihren Initiationsriten bereits bewusste Eingriffe in die vitale Zuständigkeit des Menschen vorgenommen worden sind, haben diese Aufgabe heute Blockbuster übernommen. Mit ihren Zitatzusammenhängen verabreichen sie eine homöopathische Dosierung der letalen Zwänge, sorgen damit für die regelmäßig notwendige Immunisierung gegen den Sog des Nichts. Während die nüchternen Alltagszwänge mit ihrer Zweckrationalität ständig dafür sorgen, die großen Fragen des Lebens und die damit einhergehenden Fraglichkeiten zu verdrängen, entstehen kleinere und unverbindliche Ableger in den Asylen der Kunst oder Unterhaltung – dort können sie in einer brutalen Glaubensintensität oder der Kraft einer überzeugenden Präsenz zu neuem Leben erwachen. Kitsch und Pulp-fiction transportieren theologische Fragestellungen weiter, die aufgrund ihrer für den menschlichen Verstand unlösbaren Seinsmächtigkeit aus den gegenwärtigen Diskursen ausgegrenzt worden sind. Technische Erfindungen sind selten Zufälle, sie sind viel eher der fortschreitenden Entwicklung des Materials zu verdanken. Aber sie sind immer auch symbolische Zusammenhänge, mit denen ungelöste Fragen wieder neu angegangen werden. Die Ausdifferenzierung und Wirkungsmächtigkeit eines Mediums folgt den Gesetzmäßigkeiten, die den inneren Bedürfnissen des unermüdlichen Sinnsuchers, der der Mensch nun einmal ist, gehorchen. Nachdem keine Metaphysik mehr die Sinnstiftung für unser Leben garantieren kann, ist es die Technik, die zu einer neuen und unerkannten Metaphysik geworden ist, die einen Wirkungsmechanismus unserer Welt zur Verfügung stellt und die symbolischen Zusammenhänge in einer fast unmittelbaren Form vergegenwärtigt. Computer verwirklichen ein digitales Alphabet, das in der Lage ist, das Reale durch digitale Signalverarbeitung in seiner materiellen Zufallsstreuung zu manipulieren. Sie bearbeiten Bilder, Worte und Klänge in der identischen Codierung, was die Schrift als bisher umfassendste Technik der Objektivierung nicht kann und machen das Individuelle speicherbar, damit aber wieder abruf- und bearbeitbar. Das wäre gegen den Kittler von ‚Grammophon, Film, Typewriter‘ einzuwenden: Es geht nur nebenbei darum, Sinnesdaten in Bits und Bytes zu verwandeln, viel eher darum, flüchtige Augenblicke eines menschlichen Lebens festzuhalten, die Inkommensurabilität des Lebendigen mit Sinn zu laden, über Speichermedien an diesem Sinn zu arbeiten.

Doch der evolutionäre Sprung, eine zeitlich beschränkte, kategorial einzigartige Version eines unwiederholbaren Lebens mit der Lust am Widerstehen zu laden, ergibt sich, ähnlich wie bei früheren Sprüngen, erst unter Schmerzen. Sie waren das Resultat einer Verzweiflung, die uns von allem Trost verabschiedet, in einer Haltung des Jetzt-kommt-es-auch-nicht-mehr-darauf-an, am Computer zurückgelassen hat. Doch gerade weil die Maschine etwas kann, was unser sprachliches Vermögen der Objektivierung nicht mehr einholt, beginnt das Lernvermögen einen mit der Mensch-Maschine-Synergie einen Status der interesselosen Distanziertheit zu erobern. Es setzt als wesentliche Voraussetzung die Fähigkeit frei, den Zufall für uns arbeiten zu lassen und die Vielzahl der Welten wahrzunehmen, in denen wir uns bewegen. Die Selbstbezogenheit eines mit seinem Nabel das Zentrum der Welt beobachtenden Subjekts fällt weg – dafür lernen wir zu unterscheiden, ob standardisierte Surrogate weiterhin unsere Kraft und Aufmerksamkeit beanspruchen dürfen, oder ob wir in der Lage sind, uns den Ansprüchen einer unnachgiebigen, rücksichtslosen Liebe zu widmen. Das ist kein harmloses Spiel: Es ist immer ein Duell, ein Messen der Fähigkeiten, ein Auskitzeln und Wissenwollen, mit wem wir es wirklich zu tun haben. Aber ohne diesen Todeslauf sind wir nicht in der Lage, die Verlogenheit einer Friede-Freude-Eierkuchen-Mentalität aufzusprengen, familiäre Abhängigkeiten hinter uns zu lassen, die in einer nicht-diskutierbaren Konkurrenz zum Partner stehen. Die Fähigkeit, auf jemanden einzugehen, sich ohne Netz und doppelten Boden seinem Urteil auszusetzen, setzt voraus, dass der Ich bereits einen Prozess durchlaufen hat, in dem er sich von dem entfremdenden Selbstbild, das ihm innerhalb der familialen Homöostase aufgedrückt wurde, verabschieden konnte. Durch diesen Lernprozess entstehen Inseln in der Zeit, Eklektizismen des Erkennens prägen die Gabe, zu verstehen, ohne den Partner nach unseren Vorstellungen zu modellieren oder zu manipulieren. Wer sich als Resultat der Beziehungsarbeit selbst genug ist, hat es nicht mehr nötig, sich unter den entfremdenden Vorgaben eines Selbstbildes ständig mit anderen zu vergleichen – das ist ein Wechselspiel: Erst wenn uns eine vorbehaltlose Aufmerksamkeit für Augenblicke von der konfliktuellen Mimetik befreit, beginnen wir uns selbst genug zu sein; erst nachdem wir uns völlig im anderen verloren haben, sind wir ohne Vorbehalte oder insgeheime Strategien offen für eine/n Partner/in. Angepasstere Variationen beweisen vielleicht, warum für ein verstümmeltes Ich die einzigen Lüste noch die sind, die sich aus der Zerstörung und Unterwerfung der/s anderen abziehen lassen. Oder sie empfehlen die kurzfristig harmlose aber längst nicht ungefährliche Form, derzufolge es nachgemachte Menschen schaffen, durch inhaltsleere Konventionen nebeneinander her zu leben, ohne sich erst auf die Chancen und Risiken einer unter die Haut gehenden Beziehung einzulassen.

Fraglich erscheint mir, warum Gumbrecht seine Präsenzerfahrung immer in einem Kontext des Lesers, Betrachters oder Konsumenten zum Tragen kommen lässt – sie wird bei ihm zu einem Lebenssinnsurrogat. Wenn ich gewisse Erfahrungen in-the-zone gemacht habe, bin ich um mein Leben gerannt oder habe um einen großen Einsatz gespielt. Im Augenblick verfügte ich über eine blitzschnelle Auffassungsgabe, die körperliche Reaktionsfähigkeit war enorm beschleunigt – und zugleich stand ich als interessierter Beobachter neben mir, schaute zu, wir der Musik wieder einmal jemanden ins Leere laufen ließ, kommentierte das Geschehen im inneren Monolog, vermittelt Einsichten und Tricks der Präsenz. Das konnte gelingen, weil ich nicht mit mir allein und der Abwesenheit ausgeliefert war. Das Erlebnis der Präsenz war im actus purus zu erfahren, weil die innige Verschmelzung meines Körpers mit einem anderen Körper die Intensitäten eines gemeinsamen Jetzt und damit Kräfte freisetzte, die mir als Einzelnem ohne Eigentum nie gegeben worden wären. Diese Gesetzmäßigkeit macht nachvollziehbar, warum Abwesenheitsdressuren der wesentliche Mechanismus zur Herstellung von Subalternität und Untertanenmentalität sind. In den aktiven Fähigkeiten, an einer Präsenz teilzuhaben, scheint ein wichtiger Unterschied zur Lebenssinnersatzproduktion zu liegen, der nicht aus den Augen verloren werden sollte. Die Präsenz, die der Sportkonsument vermittelt bekommt, ist ein Surrogat und die der Kriegsteilnehmer, die begeistert in den Tod marschieren, eine Perversion – aber beide verweisen auf ein Echtheitszertifikat, ohne das sie wirkungslos wären.

Noch die feinste Sublimation geistiger Produkte ist auf materiale Trägerelemente angewiesen, die die Formen vorgeben, in denen Informationen transportiert und im günstigsten Fall in Kommunikation transformiert werden. Es ist die Materialität der Zeichensysteme, die jeweilige Eigenart des Signifikanten, mit der wir mehr über die transportierten Bedeutungen oder Signifikate erfahren, als durch die kodifizierten Konventionen – auch hier gibt es nichts dahinter, die reinen Bedeutungen sind immer nur ein Epiphänomen. Was liegt also näher als die These, mit dem aus den esoterischen Traditionslinien entwendeten Symbolbegriff stehe eine Konzeption zur Verfügung, mit der wir dank der Relationsmetaphysik mitten in der Materialhaftigkeit der Welt landen. Das Zeichen mag in der Analyse Lacans selbst ein Motor der Abwesenheitsdressur sein, der Begriff ein Mord an der Sache – wenn aber der Tod zugleich jenen Aspekt der Lebendigkeit ausmacht, dem ihre Besonderheit, Unabhängigkeit, Individualität zu verdanken ist, sollte die Verleugnung als Angstbewältigung nicht das letzte Wort haben. Wenn für Lacan Feld der Sprache und mathematische Topologie des Subjekts einen Symbolbegriff ergeben, der im strikten Gegensatz zum analogischen Denken und in Ablehnung der Reduktion der Zeichenbezüge auf einfache Signale konzipiert worden war, so stehen damit Handeln und Erkennen in einer umfassenden Wechselbeziehung. Er nähert sich im erkenntnistheoretischen Sinne einer trirelationalen, pragmatischen Zeichenkonstitution, wie sie von Peirce entworfen wurde, um dann doch auf de Saussures Dichotomien zurückzugreifen. Mit dieser Verkürzung gewinnen die Zeichen in der Sprache ihren Wert nur aus dem wechselseitigen Verhältnis, sie resultieren aus der Abwesenheit der Sache, prägen ein prekäres Verhältnis zur Präsenz. „Ich denke, wo ich nicht bin, also bin ich, wo ich nicht denke.“ Diese semiologische Reduktion gibt sich mit einem verkürzten Wirklichkeitsbezug zufrieden, verpasst die Einsicht, dass Sprache, Sache und Handeln tatsächlich nur im Kontext verschiedener Thematisierungen der Zeichenhaftigkeit zu verstehen sind. Nach Kampers Interpretation führt das Schicksal des Subjekts zwischen der Kunst des Möglichen als Anpassung und der Anstrengung, das Unmögliche zu begehren, auf die Notwendigkeit des Symbolischen, die der Unmöglichkeit des Realen entspricht. Die Selbstbehauptung, das Reale als das unbestreitbar Wirkliche anzunehmen, landet im zwingenden Verhängnis eines Imaginären, während es als unmöglich Erfahrbares den kulturellen Umweg über das Symbolische zu nehmen hat, um diskontinuierliche Brüche und Sprünge zu Routinen einer klugen Lebenspraktik zu verwenden.

Die semiologischen Theorien liefern keine zwingenden Argumente gegen den Aufenthalt in konstruktiven Höhlen oder künstlichen Welten. Tatsächlich haben wir nur zu akzeptieren, dass die Materialität der Welt nicht weniger aus triadischen Trichotomien zusammengesetzt ist, als die Spiritualisierungen der Materie. Zeichen als Zeichen dieser Welt sind graduell in ihrer Materialität verwurzelt. Die Eigendynamik des Alphabets als Schriftsystem, das nicht mehr auf die Verkörperung der Vokale durch Stimmton und Präsenz angewiesen war, erschwerte es in zunehmenden Maß, das Schriftsystem selbst beim Vergessen seiner körperlichen Wurzeln zu ertappen – schließlich setzte erst die Ausblendung der Materialität unser Kommunikationsmittel die immaterielle Wucherung von Bedeutungen frei. Die Verdrängung der Körperlichkeit der Zeichenphänomene markiert den Beginn der abendländischen Philosophie, an dem Platon noch über die Ambivalenz klagen konnte, die Schrift bewirke die Minderung des lebensdienlichen Wissens, weil die Objektivierung es erübrige, sich dieses zu merken. Während er kritisierte, sie lege die Gedächtniskunst lahm, wird zugleich deutlich, wie die Schrift dank der Speicherung und Erweiterung des Wissens tatsächlich die abendländischen Episteme fundamentierte, ihm also mit der auf Dauer gesetzten Archivierung eine relative Unsterblichkeit garantierte.

Komplementär dazu liefert die Fabrikation von Präsenz den Standindex von Geltung und Selbigkeit – nur wenn wir das Hier und Jetzt mit Geistesgegenwart laden, sind wir überhaupt in der Lage, uns auf die Wirklichkeit einzulassen. Je mehr die Archive gewachsen sind, die Vorkämpfer des Wissens entfernteste materielle und logische Provinzen erobert haben, die Zugriffsweisen beschleunigt wurden, desto mehr wurden uns Zugriffsformen auf die Wirklichkeit zur Verfügung gestellt. Mittlerweile setzt das Zeitalter der Digitalisierung die Fähigkeit zu Selbstverantwortung und Eigenarbeit in einem früher unbekannten Maß voraus. Denn nur unter dieser Voraussetzung werden in den entscheidenden Situationen die richtigen Entscheidungen gefällt, für die kein Chef und keine Hierarchie bürgen können, weil sie zu weit weg vom Schuss sind. Die vorausgesetzte  Informalisierung funktioniert allerdings nur, wenn das notwendige Wissen und die entsprechenden Formen des Lernens verinnerlicht worden sind – Strammsteher und Mitläufer werden auf diesen gesellschaftlichen Level  zu Ballast. Erst unter ähnlichen Voraussetzungen ist der User in der Lage, sich auf Werte zu beziehen, die sich der kreativen Eigenarbeit verdanken. Wir müssen für uns die verbindlichen Bedeutungen geschaffen haben, mit denen es dann möglich wird, relativ sicher in den Weltzusammenhängen der Information zu navigieren. Im besten Fall profitieren wir also von den wirtschaftlichen Forderungen eines Zeitalters, das für seine Zukunft auf Präsenz und Geistesgegenwart angewiesen ist. Unterhalb der Verführungsmacht der Bilder gibt es einen bilderlosen Fundus der Geistesgegenwart, aus dem alle kreative Eigenarbeit gespeist wird. Impulse und metonymische Verweisungen setzen menschliche Möglichkeiten frei: Zur Lippe hat mit den Techniken des Sinnenbewusstseins verschüttete Wege zu einem Fühlen, Handeln und Denken in kreisförmigen Bewegungen gezeigt; Macho hat anhand von 'Todesmetaphern' vorgeführt, was Kreativität als Umkehrung eines verdrängten Opferkultes leistet; Sloterdijk hat die Aufdeckung der Leibhaftigkeit des Denkens vorgeführt; Kamper rehabilitierte die Einbildungskraft. Das zugrunde liegende Schema ist nicht auf Interpolationen beschränkt, mit denen wir unsere geschichtliche Erfahrung herstellen. Gerade in den medialen Zusammenhängen gibt es eine Zeiterfahrung, die von der Differentialrechnung imprägniert worden ist. Unsere Gegenwart ist kein alleiniges Resultat der Vergangenheit, sondern sie hängt an einem teleologischen Index, der aus der Zukunft auf uns zu kommt. Wenn wir die nötigen Informationen in die digitalen Prozesse einer Turing-Maschine einspeisen, wird die Eigenzeit in beide Richtungen durchlässig.

Das Symbol, das genau das ist, was es repräsentiert, vermittelt ein unmittelbares Einswerden von Wissen und erkanntem Gegenstand. Im Rahmen positivistischer Forderungen an die Wissenschaft ist dieser Symbolbegriff nicht einzulösen, dagegen entlässt ihn die für ein Verhältnis der Geschlechter nötige Beziehungsarbeit in die Wirklichkeit. Die Erfahrung des Symbols verfügt über eine gedoppelte Perspektive, offenbart eine Aktivität und Passivität verschmelzende, androgyne Wahrheit. Noch für den jungen Nietzsche kennzeichnet die Schönheit das Weltbild der griechischen Tragik, weil sie das Leben mit der Verzweiflung versöhnt – dabei ist nicht allein an das Scheinen der Idee (Hegel) oder an die Brücke zur Ewigkeit (Plotin) gedacht. Wir verdanken diese Augenblicke nach Nietzsche der Gnade jener göttlichen Gewalten, die sich in einer Wahrnehmbarkeit materialisieren. Durchaus vergleichbar ist die Erfahrung des Ich in der Katastrophe auf genau jenen Quellpunkt der Macht bezogen, an dem die traumatische Belastung zu einer extremen Aktivierung des limbischen Systems führt, vor allem der Amygdala, die eine wesentlich enerviertere Aufmerksamkeit und sensiblere Reaktionsformen als im normalen Alltag bewirkt.  Die dem sensorischen Bombardement und der Reizüberflutung verdankte Selbstlosigkeit eines Ich begegnet der Konstitution eines Gottes: Gott ist ein Peptid! Doch diese aus einer Kette von Aminosäuren bestehenden Proteine sind auf Botenstoffe angewiesen, biogene Amine wie das Dopamin wirken als Neurotransmitter im Nervensystem. Alles erscheint dann höchst bedeutsam, je nach biographischen Voraussetzungen mit dem Ergebnis von Euphorie oder psychotischen Schüben, extrem gesteigerter Libido oder Zwangshandlungen, der Verwandlung der Umgebung in eine Welt voller Symbole, die in einer Hochstimmung beglückende kreative Schübe freisetzen oder eine überzogenen Religiosität, die sich durch Opferverhalten und Selbstkasteiung zu stabilisieren versucht. Nichts davon ist auf meinem Mist gewachsen, doch besonders alt ist die Einsicht, dass es jene Schönheit ist, die den Vollzug und die Verheißung nicht nur verspricht, sondern befördert: Der Neurotransmitter Dopamin kurbelt nicht nur das sexuelle Begehren an und das Verlangen nach einem Andauern und Steigern der Lust, sondern verstärkt die Ausschüttung des Neuropeptids Oxytocin, das zusammen mit dem verwandten Vasopressin den Abbau von Anspannung und Belastung befördert,  indem sie das Stresshormon Kortisol beseitigen. Entscheidend ist an diesen Wirkungsgewalten, dass ein guter, auf gemeinsame Orgasmen abgestimmter Sex die Aktivierung der Amygdala angesichts angsteinflößender Signalsysteme und Erfahrungen unterdrücken kann, dass er die Einfühlungsgabe in die Gemütslage des/der Partner/in erhöht, Vertrauen und Verbundenheit bewirkt. Die sexuelle Verkörperung des Symbols ist in der Lage, uns für Augenblicke der Unendlichkeit einer unfassbaren Totalität mit den göttlichen Strömen kurzzuschließen. Der Realismus eines Symbols, das keine toten Erinnerungen mit archetypischen Bedeutsamkeiten füllt, keine allegorischen Verweise für den Begriff bereitstellt, liefert die konkrete Sprache für die Erfahrung einer Vereinigung, dessen mühsamer und ausgedünnter Abklatsch dann in den Abstraktionsformen des  Allgemeinen vermittelt wird. Während Ricœur an hermeneutischen Unterscheidungen von Metapher, Metonymie und Symbol laboriert, konstatiert er, dass Symbole in einem vorlinguistischen Boden verwurzelt sind; sie sind langlebiger als die Metapher, weil in ihnen dauerhafte Gegebenheiten des Lebens, des Gefühls und des Universums heimisch sind. Symbole des Heiligen – das nach Eco per definitionem unaussprechlich ist und deshalb immer wieder zur Sprache gebracht wird, das zu den unsichtbarsten Dingen überhaupt gehört und deshalb das Bedürfnis freisetzt, es zu sehen – sind an eine Ganzheitserfahrung des Kosmos gebunden, während Metaphern freie Erfindungen innerhalb eines Diskurses sind, das Gleiten der Metonymie entlang von Bedeutungsverschiebungen aber an den Ganzheitserfahrungen partizipiert.. In der psychoanalytischen Interpretation entsteht das Symbol in der Traumarbeit an der Gabelung von Trieb und Diskurs, also an der Grenze zwischen Bios und Logos, während die Metapher ins gereinigte Reich des Logos gehört. Obwohl die Metapher semantische Synthesen des Symbols repräsentieren kann, geht das Symbol eben nicht ganz in Metaphern auf; es transportiert neben den sprachlichen auch nichtsprachliche Aspekte einer ursprünglichen Einheit, deren implizite Semantik erst durch die Metapher zur Sprache zu bringen ist. In unsere Zusammenhänge übertragen strebt das Symbol nach keiner idealen Sphäre, die uns für die prosaische Unwirtlichkeit unserer Welt entschädigen soll oder die Flucht in die Abseitigkeiten des schönen Scheins anbietet, sondern ganz realistisch beschreibt das Symbol die lebendige Offenbarung des Unergründlichen. Es ist in der Lage, uns die Augen zu öffnen für das, was in Wahrheit ist – für die Erfahrung, wie das Unergründliche in den gemeinsamen Orgasmen vom Unergründlichen erfasst werden kann. Die unergründliche Gabe des Menschen ist die Liebe – aus diesem Grund wird gerade in verschiedensten Texten, die sich der Affirmierung der Institution Kirche widmen, an jene Stelle der Heiligen Schrift verwiesen: „Was bleibt sind Glaube, Hoffnung und Liebe. Doch am höchsten steht die Liebe“. Das ist der auf einen Felsen gebaute Betrug, der die Liebe in jener Verleugnung beschwört, die ägyptisch inspiriert, das Leben durch Versteinerungen vor dem Verlöschen zu retten vorgibt, sich aber tatsächlich einer Angst vor aller Lebendigkeit verdankt. Wenn Nietzsche das kulturelle Gedächtnis auf den Schmerz einer gewaltsamen Einschreibung zurückführt, so bietet die komplementäre, körperliche Beziehungsarbeit einen stimmigen Ausweg an: Jeder gemeinsame Orgasmus befreit von diesem Schmerz gestauter Bindungsenergien, macht zugleich in der Erfahrung des Paars die der Präsenz als Intensität erfahrbar, in den Kontakten eines Haut-Ichs genießbar. Wenn das Gut-dass-es-dich-gibt stärker wird, als der kleinliche Egoismus des Selbsterhaltungstriebs, setzt das Kraftwerk der Liebe Energien frei, die mit dem Vermögen der Präsenz noch ganz andere Merkfähigkeiten bewirken. Göttliche Energien resultieren aus der Intensität der unmittelbaren Erfahrung. Wenn wir dem Schaukeln des Augenblicks hingegeben sind, uns selbstvergessen im Behagen des Hier und Jetzt bewegen, geht die Zeit verloren, für Augenblicke haben wir mit Huxley das Paradies wiedergewonnen. Es ist erstaunlich wie dessen buddhistische Einflüsse einer Relationsmetaphysik nahekommen, in der der Zeitverlauf die Innenseite der Wirklichkeit nach außen zu drehen in der Lage ist, wenn das Maß der Dauer paradoxerweise zur unendlich stetigen Vertiefung des Augenblicks wird. Tatsächlich bringt erst die Verleugnung unangenehmer Wahrheiten jene Fixierung an die Vergangenheit mit sich: Wer die ganze Zeit nur vorgeben muss, wie selbstbestimmt und stolz und befriedigt und erfolgreich das Leben bewältigt wird, untersteht dauernden Gesetzmäßigkeiten der Abwesenheitsdressur. Dann ist für die mit einer/m Partner/in geteilte Gegenwart wenig Kapazität frei, der Wiederholungszwang reproduziert in Gegenwart und Zukunft nur immer vergangenheitsverhaftete Fixierungen in der Form von Surrogaten. Dagegen resultiert die Präsenz aus selbstverständlichen Routinen, die in jene Zeit vor dem konsistenten Ich zurückreichen, obwohl sie den körperlichen Reaktionsformen, dem Flow beim Aufgehen in einer eingeübten Tätigkeit, zu verdanken sind. Wenn wir „in the zone“ in der Lage sind, nicht zurück zu schauen und nichts zu erwarten, ergibt sich eine Kapazität des Lassen-Könnens, eine unangestrengt schwebende, nicht gerichtete Aufmerksamkeit und damit die Fähigkeit, an keinem Augenblick zu haften, keine objektivierende, mortifizierende Vergegenwärtigung im Hier und Jetzt nötig zu haben. Eben das lehrt uns jeder zu einer gemeinsamen Entgrenzung ausufernde Orgasmus. Das sympathetische Fluktuieren des Signifikantennetzes liefert eine Aktualisierung jenes uralten Menschheitswissens, das noch vor der Schrift Erzählungen zu verdanken war, ohne Abgrenzung der Generationen, niemals eindeutig und identisch, die sich jeweils den aktuellen Erfahrungsmustern anschmiegten.

Das mit der Heilsbotschaft Lacans konzipierte volle Sprechen ist vergleichbar der in diesen Zusammenhängen entstehenden symbolischen Rede: Für ihn gibt es nichts Eigenständiges an Wahrheit außerhalb unser sprachlichen Äußerungen. Einzig das hier und jetzt gesprochene Wort bezeugt in der talking cure der psychoanalytischen Situation die Wahrheit des Ereignisses, ist damit begründet mit der Gegenwart eines Sprechens, das ein Sprechen zu einem anderen ist. Benjamin ging von einem Zeitkern der Wahrheit aus, der sich als Schlüssel historischer Fraglichkeiten anbietet, denen ein kathartisches Zitat Gerechtigkeit und Versöhnung wiederfahren lässt. Durchaus vergleichbar bindet Lacan Wahrheit an das Hier und Jetzt einer gegenwärtigen, sprachlich strukturierten Situation. Der Zeitkern des Subjekts und seiner Geschichte erschließt sich einem Akt der Unterbrechung; das Lesen der Bilder des Imaginären ist ein aktiver, umgestaltender Prozess, der das Begreifen im rechten Augenblick stillstellt. Tatsächlich geht es auch bei den damit verbundenen sprachlichen Mitteilungen nicht um Informationen, sondern als volles Sprechen um die Annäherung an eine Enthüllung, eine Performation der entsprechenden Wahrheit in der Rede. Wenn Redende selbst sind, wovon sie sprechen, werden sie mit den Winken des Körpers in der Intensität des Augenblicks jenseits der dementierenden Veranstaltungen des Bewusstseins in einer spezifischen Medialität präsent. Wie die indexikalische Geste verweigert diese jegliche Erklärung, wird mit der Ablehnung subjektiver Selbstdarstellungen in ein Spannungsfeld versetzt, in dem das Bedürfnis sich auszudrücken durch das nach Authentizität gelöscht wird. Eine symbolische Handlung verkörpert, was uns umtreibt, der ganze Körper spricht, das Gesicht wird lesbar – das macht das Lesen hin und wieder sehr gefährlich. So wie die Musik selbst ist, worüber sie spricht, wird die Präsenz nicht bezeichnet, sondern gegenwärtig.

Die Fähigkeit, sich auf die Arbeit der Sinnensysteme einzulassen, sich von ihr tragen zu lassen, liegt erst einmal diesseits der Hermeneutik, wie auch die umfassenden Zeichenprozesse nicht einfach auf die Semantik reduziert werden können. Vom Ergebnis her haben wir allerdings den Sinn, stellt sich die Bedeutung ein, die nun rückwärts buchstabiert werden kann und in diesem Nachvollzug zu den Wahrheiten jenseits von Unredlichkeit, Lüge und Verleugnung führen. Was Aleida Assmann als „Mystik der Moderne“ bezeichnet, tauchte in der Sprachphilosophie und Kunsttheorie auf, um nach und nach die Relevanz für Sinnenbewusstsein, Geistesgegenwart und Präsenz zu erweisen. Thematisiert werden Ausdrucksphänomene und eine Form der Wahrnehmung, die auf die Sprache der Dinge ge­richtet ist. Die Konzeption der Sprache als ein immanentes und konventionelles Sys­tem untersteht der Rationalisierung, doch auf der Rückseite dieser Auffassung blieb eine unvermittelte Wirklichkeit als mystische Sphäre verborgenen Seins erahnbar. Tatsächlich aber gibt es noch ein Drittes, das diese starre und trennende Entgegensetzung aufhebt und vermittelt: Performation, alle Arten von Ausdrucksphänomenen. Die Dinge der Welt haben ein Gesicht, nicht nur die Menschen haben eine Physiognomie, sondern alles kann uns berühren und anschauen. Ein ursprüngliches Lesen, das noch vor der Sprache entstanden ist, weil unsere Körper ein Teil dieser Welt sind, ist in Aromen und Spuren zu erfahren.

Dabei sollte nicht übersehen werden, dass es der Ausdruckstheorie eines Bühler oder Klages um Bedeutungen geht, der Ausdruck ist eine semantische Kategorie – während Benjamin mit Ausdruck, Name und Idee Verweisungszusammenhänge innerhalb der Sprache kennzeichnet, die auf syntaktischen Beziehungen beruhen, auf ein Jetzt der Erkennbarkeit bezogen sind: Die Deixis arbeitet sich an der unsinnlichen Ähnlichkeit der Verweisungszusammenhänge ab. Ein Index ist in letzter Hinsicht, auch wenn er als Index eines Indexes eines Indexes ad infinitum wirkt, ein Verkehrszeichen in der materiellen Vorgegebenheit der Welt: Das Da-Da-Da krallt sich am Gegenstand fest. Der Leib verbürgt die Geistesgegenwart, der Standindex des Ich, Universalsignifikant und Index in einem, ist das Jetzt im Sinne eines ekstatischen Zeitverhältnisses, die Idee schließlich die Generalisierung dieser unsinnlichen Ähnlichkeiten. Gumbrecht beklagt den voll­ständigen Mangel an Begriffen, die es uns gestatten, mit der Materialität der Kommunikationsmittel umzugehen, um die Formel »Produktion von Prä­senz« mit Hilfe der entsprechenden Terminologie zu entfalten. Er betont, dass das Wort »Präsenz« in diesem Zusammenhang vor allen Dingen im Sinne einer Bezugnahme auf Räum­liches aufzufassen ist. Was uns präsent ist, befindet sich (ganz im Sinne der lateinischen Form prae-esse) vor uns, in Reichweite, für unseren Körper greifbar. In ähnlicher Weise verwendet er das Wort »Produktion« gemäß seiner etymologischen Bedeutung. Producere heißt buch­stäblich so viel wie vorführen oder nach vorn rücken und damit streicht die Formulierung »Produktion von Präsenz« heraus­, dass der von der Materialität der Kommunikation herrührende Effekt der Greifbarkeit und Berührbarkeit zugleich ein in ständiger Be­wegung befindlicher Effekt ist. Hervorgehoben wird also die Performativität einer Begegnung und damit das Ereignis, in dem Subjekt und Gegenstand für einen Moment zu einer Einheit zusammentreten. Schon Benjamin hat im Rahmen seiner materialistisch umgesetzten Erkenntnistheorie gezeigt, wie die Taktilität andere Erkenntnisformen aufschließt. Sie ist den Erfahrungen in der Zerstreuung gewachsen, weil hier die Trennung von Subjekt und Objekt in einem Kontinuum von Impulsen aufgehoben wird: Reiz und Reaktion erscheinen als unvermittelte Einheit. Die Produktion von Präsenz impliziert den Einfluss des von den Kommunikationsmitteln herkommenden Effekts der Greifbarkeit und Ergriffenheit durch im Raum stattfindende Bewegungen zunehmender oder abnehmender Nähe und Intensität. Jede Form von Kommunikation impli­ziert eine solche Produktion von Präsenz, berührt durch ihre materiel­len Elemente die Körper der kommunizierenden Personen in spezifischer und wechselnder Art und Weise – dieses Faktum ist von der abendländischen Theorie­bildung vielleicht schon dank seiner Trivialität ausgeklammert und schließlich aufgrund der Nähe zu den verschiedensten Ketzererfahrungen verges­sen worden. Wer tatsächlich mehr über die Erfahrungsformen der Präsenz wissen will, ist notwendig auf jene begriffliche Tradition angewiesen, die sich seit der aristo­telischen Philosophie mit Substanz und Raum befasst. In der Nikomachischen Ethik lautet die grundlegende Konzeption „energeia“, die wirkende Kraft, die sich in jeder Aktivität äußert. Jedes Streben ist eine mehr oder weniger genaue Ausrichtung auf die Vollkommenheit. In ihrer Bewegung ist sie eben noch unvollkommen, denn die vollkommene Aktivität ist eine ohne Veränderung oder Bewegung. Proportional entsprechen Bewegung und Zeit einander, deshalb ist Vollkommenheit eine Aktivität jenseits der Zeit, ein Nicht-Tun. Die Lust beruht für Aristoteles auf einer unbehinderten Aktivität der leiblichen Sinne, die keine Veränderung nötig hat, denn den Sinnen fehlt nichts, das ergänzt werden müsste, um sie zu vervollständigen. Ein lustvolles Ganzes wird zu keiner Zeit vollkommener, nur weil die Lust länger andauerte, deshalb findet sich die Glückseligkeit jenseits der Rastlosigkeit. Zum Maßstab einer vollkommenen Aktivität wird damit eine den Lebenssinn tragende Lust. Die unentwegten Versuche, Vermögen zu bilden, Macht auszuüben, sind Ersatzleistungen für den Mangel an Erfüllung, also eine dauernde Resonanz der Befriedigungsunfähigkeit. Wenn überhaupt etwas Wert hat, dann nicht, weil es zu beweisen oder zu erobern ist. Wenn es einen Gradmesser gibt, mit dem dieser Wert eingeschätzt oder geschätzt werden kann, dann stellt ihn die dem Körper eigene Säftelehre bereit. Die Energeia liefert in gewissen Augenblicken ein verkleinertes Modell der für den Menschen unerreichbaren Wahrheit – auch wenn es nur ein Modell ist, so prägt es doch eine Methode, sinnvoll mit der zur Verfügung stehenden Zeit umzugehen. Aus Angstbewältigung ein System von Verführungen und Ersatzbefriedigungen zu akzeptieren, gehört sicher nicht dazu.

Wobei mit Gumbrecht nicht extra betont werden muss, warum die Wiederentdeckung von Präsenzeffekten und das Interesse an der Materialität der Kommunikation, die Produktion von Prä­senz also keineswegs die Dimension der Interpretation und der Sinnproduktion abschafft. Der Bezug auf ein Diesseits der Hermeneutik steht quer zur Tendenz, die Materialität des Signifikanten in einer Sinnkultur zu vernachlässigen. Obwohl die triadische Zeichenkonzeption eines Peirce den Materialcharakter eines Zeichens, seinen Weltbezug und den semantischen Rahmen, gleich gewichtet, hören Materialität und Weltverhaftetheit des Zeichens in den über Jahrhunderte geprägten Gewohnheitsmustern auf, Gegenstand der Aufmerksamkeit zu sein, sobald der zugrundeliegende Sinn identifiziert ist. Der Beschleunigung unserer Zeitverhältnisse verdanken wir das immer schnellere Vorbeihuschen der konventionalisierten Einheiten des Sinns, je weniger wir uns um die Eigenheit des Zeichens kümmern – aber auch die umgekehrte Erklärung stimmt: Je weniger wir auf die Materialität der Zeichen achten, je schneller geht die Zeit vorbei. Deshalb wird der Weltzugang im Laufe der letzten zweitausend Jahre immer ausgedünnter. Der Motor unserer Weltflüchtigkeit wird von jener Separatwelt der Bedeutungen befeuert, die den Verführungen und Intoxinierungen perverser Ideologien ausgesetzt ist.

Gumbrecht bezieht eine sehr viel weniger vertraute Form des Zeichens ein, die mit Hilfe des typologischen Gegensatzes zwischen Sinnkultur und Prä­senzkultur besser vorzustellen und verständlich zu machen ist. Sie ähnelt der aristotelischen Zeichendefinition, wonach ein Zeichen die Verknüpfung einer Raum verlangen­den Substanz mit einer Form ist, die es der Substanz ermög­licht, wahrgenommen zu werden. Dieser Zeichenbegriff unterliegt noch nicht der Konzeption einer intelligiblen Sphäre, sondern ist ein Teil der Welt, in der sich die Menschen bewegen. Für ihn existieren die beiden Seiten dessen, was im Zeichen zusammengebracht wird, nicht im Sinne der Unter­scheidung zwischen dem rein Geistigen und dem rein Materiel­len. Das passt in den Rahmen seiner Unterscheidung von Leib und Seele, wobei sich die Seele aus zwei Teilen zusammen setze, deren einer als Geist vernunftbegabt sei, der andere zwar nicht an sich, aber immerhin fähig, auf die Vernunft zu hören: Der erste äußere sich im Überlegen und Erkennen, der andere Teil zeige sich im Begehren und Streben. Der Körper ist seinem Werden nach früher als die Seele und stellt als erstes Forderungen. Er unterliegt einer Formung, muss umsorgt, um der daraus folgenden Differenzierungen der Seele willen, konditioniert werden. Es ist nur stimmig, wenn es unter diesen Voraussetzungen beim Zeichenbegriff keine Seite gibt, die verschwinden wird, sobald der Sinn gegeben ist. Die Reichweite des aristotelischen Zeichenbegriffs beschreibt eine Welt der Prä­senzkultur, in der die Menschen in ein Verhältnis zur sie umgebenden Kosmologie treten, in­dem sie als Körper in die Rhythmen dieser Kos­mologie eingeschrieben sind. Der Wunsch, diese Rhythmen aus dem Gleis zu bringen oder zu verändern, gilt in einer Präsenzkultur als Zeichen menschlichen Wankelmuts, un­beabsichtigte Veränderungen als eine Form von Verfehlung und Sünde. In einer Sinnkultur hinge­gen halten die Menschen die Verbesserung und Verschönerung der Welt tendenziell für ihre wichtigste Aufgabe, die Vergrößerung und Beschleunigung, die Steigerung um der Steigerung willen, werden zu Surrogaten des verabsolutierten Sinns. Dem Handlungsbegriff der Sinnkultur kommt in einer Präsenzkultur der Begriff »Ma­gie« nahe, also die Praxis des Präsentmachens abwesender Dinge oder die der Entfernung präsenter Dinge. In diesen Zusammenhängen kann die Seele bereits als Funktion begriffen werden, nicht als Substanz, sondern als relationales Geschehen der Wechselwirkung, die in den Prozessen der Anverwandlung oder der Überschreitung zuhause ist. Diese Magie setzt keinen Besitzanspruch, keine Verdinglichung des Geschehens voraus, sie verlässt sich nie darauf, auf einem von Menschen produzierten Wissen zu beruhen, sondern sie erfordert, sich auf ein Geschehen einzulassen, weil Geist und Natur als notwendige Einheit erfahren werden. Die magische Praktik scheint einer Partitur zu folgen, um entsprechend der Rhyth­men gewähren, mittels der mimetischen Anverwandlung geschehen zu lassen. Sie macht also dank der subliminalen Partizipation präsent, was zu den unver­änderlichen Bewegungen einer Kosmologie gehört, als deren Bestandteil sich Menschen in einer Präsenzkultur selbst empfinden. Kamper weist darauf hin, dass mit dem Mimesisbegriff bereits die Technik der Vorahmung auf den Nenner gebracht wurde, also das Vermögen, mittels körperlicher Gesten eine Wirkung zu erzielen. Aus diesem Grund sind magische Praktiken, die einer sehr tiefen Handlungs- und Ausdrucksebene des Menschen angehören, ständig an der Erzeugung von Wirklichkeit beteiligt.

Wie in verschiedenen Zusammenhängen angedeutet, hatte Benjamins Relationsmetaphysik mit der Thematisierung der Sprachmagie Erfahrungen zugänglich gemacht, die unterhalb der Schwelle des diskursiven Denkens im Bereich einer präsentativen und performativen Symbolik ihren Ort haben: Der vielfältigen Ausarbeitungen unterstellte Symbolbegriff ist immer an einer Organisationsform von Präsenz ausgerichtet: In den frühen Arbeiten ist es die Idee als totalisierter Verweisungszusammenhang, zur Zeit des Trauerspielbuchs die sprachliche Vergegenwärtigung der Sache selbst, während der materialistischen Fundierung des Passagenwerks die Konzeption einer durch den Körper geleisteten Geistesgegenwart. Mit der Technik der darstellenden Konstellation entfernt sich die Organisation von Erfahrung von den Sphären von Repräsentation und Norm, sie nähert sich über die performative Präsenz dem Jetzt der Erkennbarkeit an. Eine Kritik der Repräsentation als Perversion setzt bereits am Sündenfall der Sprache an, deren Verweisungszusammenhänge zugunsten kodifizierter Bedeutungen aufgegeben werden; sie reicht bis zur Kritik der Repräsentation des politischen Systems einer formalen und parlamentarischen Demokratie, deren Rechtsbegriff sich zugunsten der Mehrheit von dem der Gerechtigkeit verabschiedet hat. Es ist ein wesentlicher Unterschied, ob man von Gerechtigkeit als einem System der Rechtsprechung oder als einer rechtsprechenden Macht ausgeht. Gegen diesen Widerspruch in den Fundamenten des Rechts ist auf andere Wahrnehmungsweisen zurückzugreifen. Psychoanalytische Schlussformen oder die unter dem Einfluss des Surrealismus modifizierten Wahrnehmungstechniken hebeln den Reizschutz des Bewusstseins aus, ermöglichen also von neuem kleine Schockimpulse, erweitern damit das Erfahrungsspektrum durch taktile und visuelle Tiefenschichten des Unbewussten. In diesen Rahmen fügt sich selbst seine Beobachtung ein, dass Manie und Sucht in einer undurchschaubaren Wirklichkeit das Leben durch Ritual oder Droge erleichtern, weil sie eine Pragmatik befördern, die die notwendige Komplexitätsreduktion bewerkstelligt.

Für das von Cassirer thematisierte mythische Denken ist der Körper das Koordinationszentrum der Welt; für Gumbrecht wird eben dieser in einer Präsenzkultur der wichtigste Gegenstand des Selbstbezugs. Schon aus diesem Grund muss der Raum, als jene Dimension, die sich im Umkreis der Körper konstituiert, der eigentliche Bereich sein, in dem das Verhältnis zwischen verschiedenen Menschen und das Verhältnis zwischen den Menschen und den Dingen dieser Welt ursprünglich austariert werden. Dagegen sorgt die Unüberschaubarkeit einer komplexen Welt mit ihren selbstlaufenden Funktionen und unerkennbaren Strukturen für eine Domestizierung durch den Sinn, sie werden um ihre Komplexität reduziert – auch wenn wir dabei Gefahr laufen, uns um die Möglichkeiten authentischen Erfahrens zu betrügen. Wenn also die Materialität des Signifikanten in einer Sinnkultur auf­hört, Gegenstand der Aufmerksamkeit zu sein, sobald der von ihm transportierte Sinn identifiziert ist, so deutet sich schon hier die Möglichkeit an, einen kleinen Grenzverkehr zu kultivieren. Denn wenn der Raum die maßgebliche Dimension ist, durch die in einer Präsenzkultur das Verhältnis zwischen Menschen, d.h. zwischen menschlichen Körpern konstituiert wird, wird nachvollziehbar, wie die Präsenz sich durch Momente der Intensität entfaltet. Primäre Wahrnehmung ohne die Filtersysteme des Sinns wird zu einer einmaligen Operation mit Ereignischarakter, weil sie noch nicht durch eine vorgegebene Differenzierung in eine Schablone gepresst und damit wiederholbar geworden ist. Wir erfahren uns im flow besonders deutlich, wenn wir einen hohen Grad des Funktionierens eines unserer allgemeinen kognitiven, emotionalen und physischen Ver­mögen spüren. Der Unterschied, den diese Momente ausmachen, beruht auf etwas Quantitativem – und passt gut zu Gumbrechts Argumentation, den quantitativen Begriff »Intensität« mit dem in dem Wort »Momente« enthaltenen Bedeutungselement zeitlicher Frag­mentierung zu verbinden. Es gibt jenseits der Intoxinierung keine zuverlässige, keine verbürgte Möglich­keit, Momente der Intensität hervorzurufen, sondern sie ereignet sich aus einer Unverfügbarkeit heraus. Es ist sinnlos, an ihr festzuhalten oder ihre Dauer zu verlängern, denn die Plötzlichkeit als spontaner Einbruch einer anderen Seinsordnung und die Selbstentgrenzung, die Überwindung der persönlichen Gewohnheitsmuster in einem ozeanischen Gefühl, unterstehen keinem Wollen, sondern erwarten ein Gewährenlassen. Vielleicht sehnen wir uns eben deshalb nach solchen Momenten der Intensität, weil sie keine erbaulichen Inhalte oder kategorischen Effekte zu bieten haben! Sie nehmen uns mit, ersparen die Frage nach dem Sinn, die vollendete innere Leere liefert die Armatur für die Entfremdung von der Entfremdung – als Folge der Distanz zum ver­einfachenden Blick der Gewohnheit. Solche Augenblicke der Intensität prägen eine sinnliche Evidenz; sie springen aus dem Gleis der Zeit, dehnen sich zur Ewigkeit in einem Raum, der dank der unendlichen  und stetigen Vertiefung des Augenblicks alles zugleich beherbergen kann. Ihr Merkmal ist die Unverfügbarkeit, entsprechend jener Zeitlosigkeit kann man sie nicht bewusst und zielorientiert beeinflussen. Die Kunst besteht darin, sich bereitzuhalten für die Harmonien einer kosmischen Teilhabe, für die unmittelbare Erfah­rung des Mitklingens, des Gewahrwerdens eines anderen, immer wieder ungewohnten Ausdrucksgeschehens. In diesen Augenbli­cken steht die Kürze der Empfindung in einem gewaltigen Missver­hältnis zur Umfassendheit des universalen Einblicks.

Im Anfang unserer Welt finden wir die Distanzleistung gegenüber der Überwältigung durch affektive Impulse – ein Motor der Kultur ist die symbolische Verlängerung und Pufferung des Reflexbogens. Bilder und Symbole entstehen als performative Akte, mit denen das Ich seine Erregung ausdrückt und zugleich objektiviert. Das Gedächtnis speichert zum einen die phobischen Reflexe, zum anderen die sprachlichen und bildhaften Ersatzproduktionen, die als Kompromiss- und Abwehrfiguren fungieren. Sie werden mit Warburgs Konzeption symbolvermittelter Ordnungen zu Energiekonserven, transformieren gewaltige Affekte, die später in der Kunst die Augen aufschlagen, ohne den Betrachter zu verletzen; sie werden zu Speichern von Lebenskraft, die in bloßer Unmittelbarkeit das Ich überwältigen würde. Die aus diesem Entwicklungsgang entstandenen Techniken der Autoimmunisierung balancieren die Abstände aus. So muss es nicht verwundern, wenn in Zeiten, in denen die Imperative dauernder fehlerhafter Identifikationen durch Sensation und Massenunterhaltung auf uns einprasseln, Allergien und Autoimmunerkrankungen zunehmen. Für Warburg sind die Ursprünge der Religion in diesen Zusammenhängen zu typisieren. Dem phobischen Reflex entspricht mit Totem und Fetisch die Bildform, welche die magisch-animistischen Kulte kennzeichnet. Sie stehen also am Anfang der rituellen Fernhaltung und Vergegenständlichung des Erregungsobjekts im Bild. Es handelt sich bei dieser Bildtheorie um einen Versuch, auf einer ästhetisch-symbolischen Achse jene Verarbeitungsmuster der Immunisierung zu verorten, die nach und nach zu Zeichensystemen geworden sind, mit denen wir unsere Welt strukturieren, um in ihr und über sie zu kommunizieren. Warburg konzipiert einen Mittelraum zwischen Affektfluten der Angst, des überwältigenden Glücks, der Besessenheit einerseits, der affektneutralisierten Abstraktion einer apathischen Vernunft andererseits. Zwischen den Extremen Magie und Mathematik werden Bedingungen der Möglichkeit von Besonnenheit ausgefaltet, zwischen Fetisch und abstraktem Zeichen öffnet sich ein Raum des Symbolischen, der die Schwingungsbreite einer Kultur, einer Epoche, einer Person ausmacht.

Allerdings können Lebenslust und unsublimierte Kraft auch jenseits der Asyle von Kunst und Wissenschaft durch das Kraftwerk der Liebe an Quellen der Schöpfung teilhaben. Für das Interesse an den daran beteiligten Rhythmen ist an Thales oder Kroton zu erinnern; jede Harmonie dient der Bildung seelischer Bereiche, in denen Triebe und Affekte zu Hause sind. So wie mit Freud wieder deutlich wurde, wie vorpersonell Triebe sind, wie Affekte von außen ins Innere aufgenommen werden, erscheint es ein frommer Wunsch, von einem Privatbesitz der Innerlichkeit auszugehen. Für Platon war der Mensch in der Triebsphäre kein Individuum, sondern ein Schnittpunkt anonymer Einflüsse. Ein wenig vor den Sublimationsanstrengungen der platonischen Philosophie finden wir einen geschichtlichen Ursprung der Lehre von den Trieben in den dämonischen Mächten der alten Religion, vor denen der Mensch sich zu schützen versucht und denen er immer wieder ausgeliefert ist. In diesem Zusammenhang bekommt die Musik eine universelle Bedeutung, die in allen magischen Kulturen zu finden ist. Sie hat die dämonischen Gewalten, aus denen die Götter der Hochreligion nach und nach gebildet wurden, zu beschwören, zu bannen, anzurufen oder abzuwehren. Nach Picht verdankt der Mensch der Musik in diesem Sinne eine heilende Macht durch die Sicherung eines humanen Bereichs, der ihn vor der Übermacht anonymer Gewalten bewahrt. Für ihn haben die Griechen in einem enormen Prozess der Vergeistigung dafür gesorgt, Urgewalten ihres dämonischen Wesens zu entkleiden, um daraus Seelenvermögen zu machen. Die Musik als Rhythmik sorgt in der Verbindung mit Gymnastik für eine Wohlgestimmtheit von Leib und Seele. In der Gestaltung von Zeit ist sie unmittelbar mit der Vernunft verbunden, denn Zeit ist das Andere der Ewigkeit und zugleich in der sinnlichen Welt ihr Stellvertreter im Sinne des ‚war‘, ‚ist‘ und ‚wird sein‘. Jener Bereich, den wir in der Tradition der Mystik als Innerlichkeit erleben, aus dem die Selbstversicherung des bürgerlichen Ichs hervorgegangen ist, ist nichts anderes als das gebannte Pandämonium der alten magischen Religionen. Wenn das aber erst einmal erkannt ist – das Freudsche Unternehmen hat wesentlich dazu beigetragen –, wird klar, dass es keinen großen Unterschied macht, ob der Mensch die Gefahren, die ihn bedrohen, als innere oder als äußere Gewalten erfährt: Es ist die gleiche Erfahrung der Überwältigung. Eine unüberschreitbare Grenze trennt die Sprache als Medium einer gewollten und bestimmten Mitteilung von der Musik als dem Ausdruck des Schwebenden, Fließenden, das nie genau zu umschreiben ist. Gerade weil die Musik einen Bezug zur Zeit hat, gestaltete Zeit ist, impliziert sie mit Blumenberg einen Ansatz, der sich gegen den Platonismus wenden lässt: Die reine Idee hat keinen irgendwie gearteten Bezug zur Zeit, sie wird geschaut, während die Musik ihn nicht nur zufällig, sondern in der Unmittelbarkeit des Wahrgenommenen notwendig hat. Das Sehen ist ein Distanzsinn, das Hören einer der Nähe und Partizipation – die Metapher des sich der Musik widmenden Sokrates verweist auf jene Eigenarbeit, aus der das Philosophieren entstanden ist. Vielleicht deshalb spricht sie unseren Sinn für Ganzheiten präzise an, weil sie das Geheimnis des Lebens auf der Ebene der Formen nachspielt, ohne es platt auf einen Nenner zu bringen. Damit huldigt sie dem Geheimnis im Schweigen, ohne der Verführung nachzugeben, es durch eindeutige Begriffe auszulutschen. Harmonien, die uns bewegen, die mühsam erworbene Gewohnheitsmuster aushebeln, dienen der Ersparung von Erfahrungen. Sie schließen uns kurz mit einem kosmischen Geschehen, das unsere Fassungskraft übersteigt, dem wir nur gerecht werden, wenn wir uns sprachlos behutsam dem Geheimnis öffnen. Echten sinnlichen Genüssen ist bereits die Bedrohung der personalen Autonomie beigemengt – sie bringen die Haltestricke des Ich ins Gleiten, tricksen die Sicherungssysteme des sei-du-selbst aus, und jedes Suchtverhalten beweist, was damit alles durcheinander geraten kann.

Dagegen ist für Blumenberg jeder Distanzgewinn, den der Mensch erreichen kann, eine Leistung seiner Begrifflichkeit. Das erklärt den Verlust der Zugänge zur Welt der Prä­senzkultur, legt aber zugleich die Kompensation der entstandenen Mängel in den ästhetischen Nischen nahe. Schon deshalb konstatiert er, je brutaler die Geschichte mit dem Menschen verfahre, je nachgiebiger stehe dieser ihr mit der Kunst gegenüber. Schließlich meine er die Geschichte in der Spätphase einer langen Entwicklung zu machen. Dabei treiben die freigesetzten Kräfte der Beschleunigung mittlerweile sinnlos über die gesetzten Beschränkungen hinaus ins Unbekannte; nichts wäre mehr zu fürchten, wenn es nicht längst aus dem Blick geraten wäre. Je zweifelsfreier die Unaufhaltsamkeit in der Theorie erscheint, je mehr verlegt sich die Praxis auf ästhe­tische Ausweichmanöver. Sie arbeitet an der Verschönerung des Nebensächlichen, an einer Expansion des Unterhaltungswerts. Wenn schließlich das Angebot ästhetischer Genüsse mit dem Gewinn an Freizeit durch Fortschritt nicht mehr mithalten kann, wird auf die Ästhetik zugunsten von Krieg und Selbstzerstörung zu verzichten sein, bevor das Leben wirklich schön geworden ist. Aus diesem Grund ist es nur sinnvoll, auf die ursprünglichen Formen der Distanzleistung vor den Zwängen der Begrifflichkeit zurück zu kommen. Schon die distanzschaffende Form mortifiziert, der Ausdruck leitet die Erregung ab. Sie setzen Denkvorgänge in Bewegung, ohne den Kontakt zum Dargestellten zu verlieren, ahmen nach, ohne dem Zwang zur Nachahmung zu verfallen. Gumbrechts ‚Lob des Sports‘ zeigt gerade anhand der rhetorischen Figuren des Lobs – die nach Kittler in einer Anrufung der Götter wurzeln, einer performativen und nicht-fiktionalen Form von Literatur –, dass nichts an der Sinnproduktion, an der Sinnidentifikation auszusetzen wäre. Tatsächlich wird sie erst fraglich, wenn sie als metaphy­sisches Paradigma die Vorherrschaft sinnbezogener Fragen gegen ekstatische Erfahrungen durchsetzt. Damit ­führt sie zur Preisgabe von Phänomenen und Fragen, die es gestatten, in einem Augenblick jenseits der linearen Zeit auf die »Materialität der Kommunikation« einzugehen, um im Jetzt und Hier anzukommen. So ist es mit Hörischs ‚Brot und Wein‘ nur stimmig, wenn nach dem Ende einer ungebrochenen Ästhetik des Lobes, des Rühmens und der Affirmation ausgerech­net die Werbung zum funktionalen Äquivalent einer vormonetä­ren Ästhetik der Affirmation, der dionysi­schen Dankbarkeit wird. Die hohe literarische Rede, die mit dem Rühmen zu tun hatte, war besessen von der Darstellung eines Jetzt der Präsenz. Die vakante Position des affirmativen Sprechens und Dichtens wird durch die Werbung besetzt, die über den Umweg der Unterhaltungsindustrie Identifikationslinien stiftet. Sie kann das leider nur, indem sie einen Double-bind transportiert: Noch das Lob und die Verklä­rung werden, wenn Geld der schlechthin geltende Code ist, erst dank der Beschwörung und Unterstreichung des Mangels möglich. Werbung schafft systematisch Man­gelerfahrungen; in vieler Hinsicht hat sie die Bedürfnisse zu kreieren, von denen sie zu erlösen verspricht.

Böhmes Fetischinterpretation schließt einen weiteren Zugang zur Präsenz auf, indem er Aspekte dieser Materialität der Kommunikation aus der Perspektive ‚Fetischismus und Kultur‘ auf einen Nenner bringt. Wir müssen fähig sein, Essen, Mode und Bilder zu Ereignissen werden zu lassen, die uns widerfahren, uns mitnehmen, ja auch über­wältigen: Wenn dies nicht gelingt, wickeln wir das Leben freudlos ab, ge­tröstet allenfalls durch soziale Erfolge und anschwellende Bankkonten. Zugleich müssen wir fähig sein, all die magische Bezauberung räumlich und zeitlich einzugrenzen, zu reflektie­ren und okkasionell zu handhaben; anderenfalls konfundieren das Reale, das Symbolische und das Imaginäre, wir verlieren uns im Irrgarten der Lüste und Süchte. Im Verhältnis zu den politischen Idolatrien geht es nicht anders zu. Tatsächlich ist es illusorisch, diese Paradoxie zu der einen oder der anderen Seite hin aufzulösen: Entweder man erstarrt in zwanghaften Rationalisierungen einer Pseudo-Aufklärung, oder man versinkt in den Pathologien der Sucht, die in der Macht ebenso wirkt wie in der Mode, im Bann der Bilder oder in den Tabuisierungen des Es­sens oder der Sexualität. Fetisch und Totem bezeichnen anfängliche Kultur-Objekte auf der Grenze zwischen der vernichtenden Präsenz des Objekts und dem phobischen Reflex. Sie entsprechen den «Augenblicksgöttern» Useners, die durch magische Identifikation entstehen. Die Dinge haben überall Le­ben, die augenblickliche Empfindung legt die unmittelbare Nähe einer Gottheit nahe, nur die lebendige Kraft ist dabei auf die Seite der magischen Dinge gezogen, ohne dass der Mensch Spuren der seinen eigenen Energien verdankten Beseelung wahrneh­men könnte. Der Fetisch ist gegenüber dem Angstobjekt eine umrissgebende Lokalisierung der Objekte von Kraft in einem diffus überwältigenden Feld von Reizen – doch um den Preis der Ich-Losigkeit. Angstbewältigung und Machtausübung stehen in einem direkten Verhältnis, je weniger sich der Mensch gegenüber der umgebenden Wirklichkeit sicher sein kann, je ausgeprägter melden sich Herrschaftsbedürfnis und Kontrollzwang. Mimetisch-sympathetische Magie funktioniert aufgrund von Ähnlichkeitsbeziehungen, die auf Übertragung beruhende, kontagiöse Magie dagegen als Ansteckungsprinzip: pars-pro-toto. Beide Formen charakterisieren keineswegs nur archaische Kulturen. Im Europa der Renaissance begründen sie die Wissenschaften, der Fetischismus ist von Beginn an ein synkretistisches Konzept. Die Magie probt verschiedenste Versuchsanordnungen, die Welt zu kontrollieren, noch der massenhafte Konsum und das multimediale Recycling der großen Fragestellungen der Menschheit simulieren den Erfolg dieser Autosuggestion. Fetische sind Kraftwirkungen und Kultobjekte – sie zeigen eine performative Struktur, bringen die in Dingen eingeschlossenen Mächte zur Entfaltung und bannen das Subjekt, heben die Distanz auf, führen mimetisch zur Verschmelzung von Ich und Ding. Der Warenfetischismus wird zur Antriebskraft, bei der die Bereitschaft zu zahlen nicht von der Rationalität begrenzt wird, nicht zahlen zu können, sondern vom Begehren, mit der Verheißung der Ware zu verschmelzen – also für eine Bedeutung zahlen zu wollen. Während der Code Zahlen/Nicht-Zahlen das ökonomische System des Erwerbs reguliert, wird die Dyna­mik des Erwerbs von der Aura der Ware mit dem Motor angetrieben, den der Code Sein/Nicht-Sein speist: Es geht wirklich um das Sein! Lust, Glück, Partizipation, Schönheit, Sinn sind jene Qualitäten, welche der Fe­tisch Ware als Suggestionen inkorporiert, obwohl sie das Jenseits der Ware sind. Der seltsame Doppelstatus der Ware hält als Fetisch, gleichzeitig Ding und Symbol, das ökonomische System auf Touren, ihre theologischen Mucken vereinen Immanenz und Transzendenz. Diese transzendental-ökonomische Bestimmung macht noch heute den geheimen Antrieb der Überflussgesellschaft aus.

Die Präsenz liefert den Fundus, Peptide sind der Motor, während die Metapher versucht, das Göttliche in der Welt dingfest zu machen. Folgerichtig überträgt für Lacan die Metonymie, das Gleiten entlang der Signifikantenkette, die Kräfte des energetischen und hormonellen Geschehens auf die körperliche Wahrnehmung. Damit empfiehlt sich  ein Polytheismus der Augenblicksgötter als Grundlage einer umfassenden Hermeneutik jeglicher Eigenarbeit. In Mattenklotts ‚Blindgänger‘ wird gezeigt, wie das Heilige zur sentimentalischen Transformation des Heiligen in einem System von Zeichen und Bedeutungen wurde. Was Otto anhand der Erfahrung des Numinosen beschrieben hat, ist demnach lediglich die Spiritualisierung einer Abstraktionsleistung, die von der realen Person, die etwas Unerhörtes, die Regeln unseres Weltverständnisses sprengendes bewirkt hat, absehen lässt. Sie erspart uns Schauder und Angst, die mit der Tatsache verbunden sind, dass der/die Heilige zugleich ein/e Verfluchte/r ist, also der Kategorie des Opfers untersteht. Das Vermögen, auf das Unerhörte mit einer Stellvertretung zu reagieren, statt vor dem Tremendum zu verstummen, löst eine Maske vom individuellen Heiligen ab und ermöglicht zugleich die Präsenz von etwas Unsichtbaren mitten im Leben, wie das Ertragen der Abwesenheit der wesentlichen Vollzüge. Seit Anbeginn resultieren Medien aus der Funktion, das Erotische als grundlegende Antriebsenergie des Menschen aus der ineinander verschlungenen körperlichen Präsenz zu lösen, in Zeichensysteme und Vorstellungen zu überführen. Das war immer mit einem Verlust an sinnlicher Intensität verbunden – schon Reich bestätigt die Regel, dass faszinierende Bilder die Intensität der Orgasmen beeinträchtigen, selbst die vor dem inneren Auge lenken noch von der unmittelbaren Präsenz ab; dagegen stimmen Hautkontakt und Taktilität auf die Rhythmen ein, bis eine gemeinsame Schwingung irgendwelche Vorstellungen und Bildwelten in der Ekstase ausblendet. Tatsächlich wird die Abwesenheitsdressur immer durchgreifender, je mehr Wahrnehmungsweisen und Gedächtnisleistungen durch Medien übernommen werden – und dabei ist mit dieser Feststellung bereits alles genannt, um Entwicklungen in der entgegengesetzten Richtung anzustoßen.

Aus einer ganz anderen Richtung stößt der konservative Skeptiker Spaemann auf einen vergleichbaren Wirkungszusammenhang. Seine Erörterung der sekundären Tugenden am Beispiel der Disziplin führt ihn auf die berühmt-berüchtigte Lehre Platons, dass Tugend Wissen sei. Dieses Ineinssetzen haben Fetisch und Symbol gemein. Es handelt sich um ein Wissen, das nicht als bloß kognitiver oder intellektueller Zustand wirksam wird, sondern als jenes unmittelbare Einswerden mit der erkannten Sache von Grund auf, die jeden Zweifel unmöglich macht. Die ursprüngliche Symbolerfahrung des körperlichen Erkennens transportiert eine mystische Evidenz: Das Wahre einzusehen heißt, eins mit ihm zu werden, ihm ohne Abstriche oder Überlegungen zuzustimmen. Das Gute wirklich zu verstehen heißt, es immer wiederneu verwirklichen. Was mit dem Beginn der Verschriftlichung der Philosophie eine in der Vergangenheit des Mythos verklingende Weisheit ist, wird schließlich zum Versprechen innerhalb einer durch den Fetisch stabilisierten multimedialen Welt. Wenn Hörisch in ‚Kopf oder Zahl‘ vorführt, warum dem Fetischisten das Desiderat des Symbols nicht genug ist, geht er über Böhmes Affirmation des Fetischismus hinaus. Neben der einfachsten Lösung des actus purus, die vor lauter Abwesenheitsdressur nur noch Wenige zu einer Erfüllung führt, gibt es unendlich vielfältige Anstrengungen, den Bruch, den qualitativen Unterschied zwischen Bedeutetem und Bedeutendem zu kitten, zu einer semantischen, aber eben doch nie realisierten Einheit zu­sammenzufügen. Wenn diese Form des sprachlichen Symbols die ontosemiologische Einheit von Bedeutendem und Bedeutetem darstellt, damit aber lediglich von der Seite der Zeichen her die Einheit zu leisten verspricht, so gibt sich der Fetisch als die Einheit von der Seite des Seienden her aus. Die Logik des Seins und die des Sinns werden in einer systematischen Form identifiziert – mag es paradox sein, sich einem Kategorienfehler verdanken, so ist doch festzustellen, dass die fehlerhafte Identifikation wirkt. Der Fetisch wird damit zu einem Supersymbol, er ist die Sache selbst, die er bedeutet – die Phantasmagorie der Ware wird zum Surrogat jener sexuellen Vereinigung, der alles Glücksversprechen zu verdanken ist. Ein materielles Ding, das über die Magie verfügt, Übernatürliches zu bewirken. Ein bedeutendes Ding, das an der bedeuteten Sphäre nicht nur teilhat, sondern diese zu gestalten und zu verzaubern vermag. Marx‘ Charakterisierung des Warenfetischismus präsentiert ein sinnlich-übersinnliches Ding; keine Repräsentation, keine Stellvertretung, sondern ein Ding, das paradox genug das vermeintlich Unbedingte zu bedin­gen vermag. Hier zeigt sich eine Parallele zu Lacans Subversion des Subjekts: Ein Signifikant repräsentiere ein Subjekt für einen Signifikanten. Die Gesetzmäßigkeiten der Warenwelt entsprechen also den Spiegelungen der Selbstidentifikation! Ich verlasse mich darauf, dass Du dich darauf verlässt, dass ich mich auf dein Verlassen verlasse – wenn wir am falschen Ort oder in der Ungunst der Stunde ein wenig Pech haben, erfahren beide, wie allein und verlassen wir in der Welt sind. Das ist keine theologische Spitzfindigkeit, erst Recht keine metaphysi­sche Mucke, sondern das Fundament unserer Wirklichkeit. Nicht umsonst kommt der Fetisch in sexueller und religiöser Doppelgestalt daher. Der Waren- und Geldfetisch komplettiert dieses Double zur Heiligen Dreifaltigkeit von Potenz, Glaube und Geist: Sexualität und Bedeutsamkeit bedingen einander. Doch nur eine erregende Schönheit verbürgt den Wahrheitswert jener Intensitäten, die schon immer mit dem Namen der Götter belehnt worden sind. Sie nehmen uns auf ihren Schwingen mit, wenn wir in der Lage sind, die nötige Erregung/Begeisterung freizusetzen. Als Foucault fragte, wie es zur Übertragung der Religiosität auf den Sex kommen konnte, war er im Zentrum eines Wirkungszusammenhangs angekommen, der nur invers buchstabiert werden muss: Die Amalgamierung der Erregungen Angst und Sexualität staute nach Reich biomagnetische Energien, bis sie nicht mehr auszuhalten waren. In den Riten und Bedeutsamkeiten von Fetischen und Wiederholungszwängen mussten Körperspannungen abgeleitet werden, um in religiösen Institutionen zu münden, die subjektfremde Ursprünge der Macht setzten. Mit Foucault wird die Gewalt ins Fundament institutioneller Ordnung gefügt; Diskurse haben sich als Praktiken gebildet, die systematisch die Gegenstände konstituieren, von denen sie zu sprechen ermöglichen. Sie sind nicht auf Sprache zu reduzieren, denn sie benutzen die Sprache für mehr als nur zur Bezeichnung der Sachen. Dieses Mehr wird von Benjamins Symbolbegriff umkreist, wenn er von einer Sprache der Schöpfung inspiriert einer verloren gegangenen Ordnung des Seienden nachspürt, von der wir nur Trümmer wahrnehmen, die sich immer schneller von ihrem Ursprung entfernen.

Am Anfang der rituellen Fernhaltung und Vergegenständlichung von Erregungsobjekten stehen nach Warburg Fetisch und Totem. In der Nische der Kunst wird diese Entwicklungslinie aufgehoben und gepflegt, noch die Ableger in den verschiedensten Bildwelten transportieren ihre Spuren. Diese Bildtheorie typisiert Verarbeitungsmuster auf einer ästhetisch-symbolischen Achse, die den Wirkungsmechanismen von Religionen zugrunde liegt. Die Unterscheidung, Religion stelle eine Gehorsamsbeziehung dar, Magie ziele dagegen auf die aktive Beeinflussung der Dinge und Verläufe, verliert damit jegliche Stringenz. Der Vorwurf der Manipulation diente oft zur Abwertung jeglicher Magie, doch die Hochreligionen versuchen nicht weniger, das Schicksal, die Zukunft oder das Jenseits zu beeinflussen. So ist es nach den asketischen Imperativen der Selbstbestrafung mittlerweile angebracht, auf das in Fetischen transportierte emanzipatorische Potential zurückzugreifen. Strategien der Entfremdung von der Materialität unserer Welterfahrung durch Figuren der Entäußerung und Verdinglichung mögen Forderungen nach Authentizität bedingen, doch als Strategie der Verjüngung sorgt diese Kritik für die Modernisierung der Entfremdung. Wenn wir erst einmal akzeptieren, warum sich unterhalb der Distanzleistungen des Geistes eine Entfremdung von den Resultaten der Entfremdung abspielt, zeigt sich mit Böhme eine komplementäre Entwicklungslinie: Ihr Ziel ist nicht, uns aus den Verdinglichungen zurückzurufen, sondern gerade solche Verdinglichungen zu suchen, in denen die Dinge, in die wir entäußert sind, uns unser Selbst gestärkt, stabil und leuchtend zurückgeben. Wird auf der einen Linie der Geist fetischisiert, so auf der anderen die Dinge des Draußen. Beides gehört zum Imaginären der Moderne. Die Dinge, die wir heilig halten, sollen uns davor schützen, selbst zu Dingen zweiter Ordnung zu werden, deren Schicksal nichts als ihre Brauchbarkeit und Äußerlichkeit ist. Doch weil die heiligen Dinge jene wesentliche Struktur und unteilbare Würde zeigen, nach der wir uns sehnen, beinhalten sie als Produkte der Imagination bereits eine Bedienungsanleitung für authentische Erfahrungen jenseits der vielfältigen Als-obs des Imaginären.

 

Die Diagnose vom Tod Gottes war nicht weniger als das Resultat eines Kategorienfehlers; was nie gelebt hat, wird auch keinem Tod begegnen. Karl Barth hat darauf bestanden, dass nur die Interpretation der Schrift als Offenbarung die Trinität begründet, wie umgekehrt die Trinität den autoritativen Charakter der Schrift. Der Begründungszirkel des christlichen Dogmas benötigte die Trinität als das Vermittelnde zwischen der Offenbarung Gottes als Sohn, Vater, Geist in einer Einheit Gottes, die nur nach der Schrift dargestellt wird. Von den ursprünglichen Intensitäten der Augenblicksgötter, die dem körperlichen Sensorium zu verdanken waren, bleibt mit der institutionellen Abwesenheitsdressur lediglich das hermeneutische Ergebnis einer Offenbarung durch die heilige Schrift. Türcke hat in ‚Vermittlung als Gott‘ dargestellt, wie die Absolutheit der Dreieinigkeit auf einem um das Nichts kreisenden Relationssystems beruht, weil die Differenzierung der göttlichen Protagonisten ausschließlich eine der Relation ist. Der Vater wird durch seine Beziehung zu Sohn und Geist zum Vater; der Sohn wird durch die zu Vater und Geist zum Sohn; der Geist wird durch die zu Vater und Sohn zum Geist. Die spezifische Differenz der Dreieinigkeit beruht nicht nur auf den wechselseitigen Relationen, sondern sie ist nichts als Relationssein, nichts als – wie in einer triadischen Zeichenkonzeption – drei aufeinander gerichtete Relationen: Was den Machtansprüchen von Klerikern billig war, sollte zum Nutzen der Selbstdichtungen des Menschen umzufunktionieren sein. Es gibt tatsächlich nichts, woran die einzelne Relation haftet, sie richtet sich nur an Relationen, die sich wieder an Relationen richten. Das immerwährende Subsistieren der Tautologie Gottes in sich erweist sich als ewige Relation von Nichts zu Nichts. Wie nebenbei wird damit ein realistisches Bild der Struktur eines Menschen gezeichnet, der nach dem Bilde Gottes geschaffen wurde, damit  aber zu einem unerbittlichen Sinnsucher, der verdammt sein könnte, vor keiner Selbstzerstörung halt zu machen, wenn er nicht mit einem sinnesfreudigen Körper ausgestattet worden wäre. Das Bedürfnis der Sinnstiftung hat sich, nachdem die unseren Sehnsüchten und Ängsten entsprungenen Augenblicksgötter längst aus den Antiquitätenläden der Religion verdrängt wurden und als Idole der Unterhaltung und des Marketings wiedergekehrt sind, in der Entwicklung der modernen Medien eine eigene Bahn gegraben. Nun wird als Erlösung angepriesen, was das Begehren steigert, ein Dauerkonsum, der das Suchtverhalten durch die Befriedigungsunfähigkeit verstärkt, damit aber die theologische Verworfenheit des Begehrens erneut ins Recht versetzt. Geld ist geil, alles Mögliche wird positiv als geil tituliert, weil die ursprüngliche Erfahrung, unter dem Sog der Hormone nicht mehr über den eigenen Willen zu verfügen, der Verdrängung durch dauerndes Zerreden, der Verleugnung mittels omnipräsenter Multimedia untersteht. Die mittlerweile immer fraglicher gewordene Problematik des Menschen lautet, ob es die authentische Erfahrung einer unmittelbaren und vollen Gegenwart gibt oder ob es sich dabei nicht nur um eine angstbesetzte Konstruktion handelt – wobei eben die Dauerbeschäftigung mit den Kompensationen einer unerfüllten Sexualität jene fundamentale Lebenslüge erst schafft, die um die Verleugnung der enormen Leere der Befriedigungsunfähigkeit kreist. Wir streben nach Daseinsfülle als Sinn, nach Wahrhaftigkeit unserer Zeichensysteme, doch die Angst vor dem Versagen, vor der Vergeblichkeit aller Anstrengungen, leitet das Begehren um in absurde Ersatzleistungen. Semiotische Betrachtungs- wie metaphysische Begründungsweisen können sicher nicht miteinander verschmelzen. Aber sie werden in einer trirelationalen Zeichenkonzeption jenseits der semiologischen Verkürzung durch die Verweisungsstruktur, sei es der Handlung, der Mantik oder der Performation, derart auf einander bezogen und verklammert, dass die mit Sinn aufgeladenen Spuren des Wunsches nach Präsenz, ebenfalls teils sinn- und teils präsenzorientiert sind: Wenn das Leben gelingen soll, geht das eine nicht ohne das andere. Bevor der Mensch zum Nachlassverwalter und Schadensbereiniger des einen Gottes degeneriert, sollte als wesentliche Aufgabe anzuerkennen sein, die Augenblicksgötter immer wieder einmal beim Training von Kräften der Selbsterlösung ins Hier und Jetzt der Präsenz zu überführen. Das Glück als Glücken des Unvorhergesehenen hat vor allem eine orgiastische Potenz; der Koitus ist die praktische Grundlage der transzendierenden Kapazität des Glücks. Seine Rhythmen pflanzen die biomagnetische Stringenz bis in die feinsten erkenntnistheoretischen und ästhetischen Verästelungen unseres Weltwissens fort.

Es sind die Sinne, die die Unmittelbarkeit der Präsenz verbürgen, gerade dann, wenn sie zu schweifen beginnen, also nicht nur in Dienst genommen, einem fremden Zweck unterstehen. Begegnen sie aus einer ganz natürlichen Funktionslust heraus reflexartigen Reaktionsformen des körperlichen Geschehens, springen Antriebe an, mit denen sich Gesetzmäßigkeiten einer leibhaften Aufklärung offenbaren. Es sind die unterschwelligen Wahrnehmungen, die „freien“ Assoziationen, die unwillkürlichen Erinnerungen, dank denen wir Wahrheiten begegnen, die jenseits dessen angesiedelt sind, was wir wissen sollen, was uns bewusst werden darf. Wir benötigen mehr Informationen, als das Bewusstsein liefern kann, gerade weil es eine halbe Sekunde von jener Fülle der Daten entfernt ist, der wir alle Erkenntnisse verdanken, wenn wir sie im Nachhinein und unter der Folter unseres Begriffsapparats aus der Welt ableiten. Das Bewusstsein kann über die verschiedensten Rekonstruktionen den Weg zu den Sinnesdaten freilegen, oft genug trainieren wir die Sinne in vom Ernst des Lebens suspendierten Nischen sogar, um uns ihren Gesetzmäßigkeiten zu überlassen und dann zu Ergebnissen kommen, die in unserem Begriffsapparat noch nicht vorgesehen waren. So stumpfsinnig dies für den Außenstehenden wirken mag, tatsächlich setzt die Disziplin unentwegter Übungen das Feld der Improvisationen frei, damit aber die Offenheit der Welt, das Glück des Unvorhergesehenen. Der Körper kann nicht lügen, dafür ist seine Bandbreite zu groß, Lüge und Verleugnung sind sprachlich kodierte Oberflächenphänomene. Die Missachtung der entscheidenden Wahrheiten resultiert immer aus dem verkrampften Klammern an überkommene Beruhigungsmittel, seien es Identifikationslinien des Selbstwertgefühls oder eingepaukte Stillhalteparolen. Das Ziel sollte also sein, erkennen zu lernen, was wir nicht wissen und in die Zukunft des Gewesen-sein-Werdens vorzugreifen. Die Aufmerksamkeit überstreicht nur einen bedingten, recht kleinen Ausschnitt der Präsenz, deshalb übernehmen den ganzen Rest andere Instanzen, auf die wir uns erst einmal einlassen, die wir kommen lassen müssen. Dank der subliminalen Wahrnehmungen, der nicht bewussten psychischen Aktivitäten kann die Verbundenheit des Menschen mit der Welt viel enger sein, als es die Theoretiker des „Ich-denke“ wahrhaben konnten. Dann bleiben wir nicht mehr an die hinterhältige Delegation des Sei-du-selbst gebunden, sind nicht mehr zu linken oder zu verführen. Statt dessen stellt sich eine tänzerische oder am Kampfsport ausgerichtete Disziplin des Körpers ein, in weichen und runden Bewegungen anwesend zu werden, die Imperative einer fehlerhaften Identifikation und der daraus resultierenden widerstehenden Wirklichkeit zu umspielen, zu unterlaufen oder durch geschickte Eingriffe im Gewebe des Lebendigen aufzutrennen, ihre Haltepunkte durchs Verflüssigen zu beseitigen. Auf dem Weg dorthin wird eine um ihrer selbst bis zur wohligen Selbstvergessenheit gepflegte Tätigkeit gelangen, mag es eine konzentrierte Arbeit sein oder ein kreatives Eingehen auf die Gesetzmäßigkeiten eines Materials. Jede Tätigkeit, während der wir lernen, diese Regelmäßigkeiten zu empfinden, führt uns über die engen Begrenzungen hinweg – ein Kribbeln am Rücken, ein Ziehen in den Augenwinkeln, eine Verschiebung des Wahrnehmungsfelds kündigen an, dass wir ein Quäntchen Zeit oder einen minimalen Raum neben uns getreten sind… Aber das ist längst nicht alles. Es braucht außerdem befriedigende Körpererfahrungen, über einen langen Spannungsbogen aufgebaute, einander durchdringende Orgasmen, die das Begehren für eine gewisse Zeit löschen. Das hilft vor allem in Ausweglosigkeiten – wenn die Körper zum Klingen und Jubeln zu bringen sind, stellen sich ganz andere Wege ein. Von einer fundamentalen Bejahung ausgehend, öffnen sich Türen, die unter normalen Bedingungen nicht da sein dürften: Es gibt ein Glück des Unvorhergesehenen, das an den Fersen des lustvoll erfüllten Augenblicks haftet. Jene Kategorie des Findens verbündet sich im Nu mit der Gunst der Stunde, mit der Heilsamkeit des rechten Augenblicks. Schon im Rahmen verschiedener Körper- und Ekstasetechniken finden sich verschiedenste Tricks, das Denken stillzustellen oder besser, dafür zu sorgen, dass die von außen angekitzelte Hysterie nicht in einer Katastrophe der Selbstzerstörung mündet. Die Löschung des inneren Monologs ist erst ein Anfang, von da an dürfen die gebundenen und pervertierten Kräfte des körperlichen Geschehens in einer behutsamen Weise zu entfesseln sein, damit die materielle, in der Welt verhafteten Fühlfäden des Selbst eine positive Verstärkung erfahren. Wer die ganze Zeit mit Negationen beschäftig ist, kann nicht erwarten, dass ihm das Glück über den Weg läuft. Doch die größte Gefahr ergibt sich immer, wenn frisch gewonnene Freiheiten so wenig vertragen werden, dass stolze Überheblichkeit und narzisstische Selbstgefälligkeit an ihrer Abschaffung arbeiten.

Ein Jetzt der Erfahrbarkeit ist nicht nur eine Reminiszenz an die Traumzeit oder lediglich unter den Imperativen halluzinogener Drogen zu realisieren, sondern es wird gegenwärtig, wenn wir erfolgreich mit der Materialität der Kommunikationsmittel umgehen. Je genauer wir ein Wort ansehen, je fremder schaut es zurück – der Grad der Entfremdung steigert die Möglichkeiten des Lernvermögens. Das Bonmot von Karl Kraus legt nahe, die Verfremdung auf die konventionalisierten Bedeutungsträger zurück zu biegen, die oft genug das Leben durch Gewohnheiten erleichtern, um uns um seinen Gehalt zu betrügen. Tatsächlich leistet der Leib eine Vergegenwärtigung des Geistes, die Herstellung von Prä­senz findet immer im Umfeld des Körpers statt. Die Präsenz untersteht der räumlichen Verfügbarkeit und wird gegenwärtig, wenn wir wie selbstverständlich Teil eines Ensembles sind, wenn uns ein Gegenstand ergreift und wir uns entsprechend der taktilen, olfaktorischen, akustischen oder visuellen Impulse in einem gemeinsamen Raum orientieren. Der von der Materialität der Kommunikation herrührende Effekt der Greifbarkeit und Berührbarkeit befindet sich in einer ständigen Virulenz. Nicht nur das magnetische Feld der Seele gehorcht je nach Medium verschiedenen Ausdehnungen, auch die Körper sind raumlösliche Phänomene und verwirklichen sich in einem Repertoire von Präsenz – schon in den Anfängen der griechischen Philosophie findet sich der Ansatz, nicht der Körper sei das Zuhause der Seele, sondern die Seele beherberge den Körper. Dagegen ist der unausgesetzte Entzug von Präsenz eins mit der Arbeit am Begriff, mit dem gegen das Schwinden ankämpfenden Vollzug der Verleihung von Bedeutsamkeiten an ein thetisches Konstrukt. Diese Dialektik von Entzug und Vollzug konstituiert die lineare Zeit, während die Zeit der symbolischen Ordnung der Performativität einer Begegnung untersteht und sich aus einer Reziprozität ergibt. Die symbolische Ordnung der Zeit wird durch das Ereignis hervorgerufen, in dem Subjekt und Gegenstand für einen Moment zu einer Einheit zusammentreten. Der Körper ist das Koordinationszentrum der Welt; für die von Gumbrecht dargestellte Präsenzkultur ist er der wichtigste Gegenstand des Selbstbezugs. Schon aus diesem Grund prägt der Raum, damit jene Dimension, die sich im Umkreis der Körper konstituiert, den symbolischen Bezug, in dem das Verhältnis zwischen Menschen und das Verhältnis zwischen den Menschen und den Dingen dieser Welt durch topologische Bezüge ausgehandelt werden: Sie berühren sich, sie überlappen sich, sie arbeiten auf eine Identität hin oder sie haben nichts miteinander zu tun.

 

Die Gesetzmäßigkeiten der sozialen Evolution menschlicher Verhaltensweisen werden stimmig beschreibbar, wenn wir den Reputationsbegriff der Spieltheorie mit einer Ökonomie der Aufmerksamkeit verbinden. Kurzfristig mag eine Lüge Erfolg versprechen, blenden, tricksen und Gewalt anwenden ein Gegenüber ausspielen oder plattmachen. Auf die Dauer aber zählt eine relative Rechtschaffenheit, solange wir es nicht mit Psychotikern an der Macht zu tun haben. Wenn wir uns auf ein Spiel einlassen, dessen Einsatz unsere Zuverlässigkeit ist, setzen wir auf das Vertrauen des anderen auf unser Vertrauen. Aus diesem Grund misstrauen wir allem strategischen Verhalten, obwohl genau die Motivation der Reputation die Strategie in eine Ebene zweiter Ordnung erhebt. Im Laufe der Zeiten sind – von der Kathedrale, die die Materialität mit einem Drive Richtung Himmel versieht, führt ein kurzer Weg zum Bankpalast, in dem eine umfassende Entmaterialisierung praktiziert wird – die traditionellen Werte der Reziprozität, der Frömmigkeit, des Maßes und der Stabilität durch abstrakte und individualistische Bezüge verdrängt worden, deren einziger Bezug im Endeffekt das Geld geworden ist. Der Gott der modernen Zeit wurde damit zu einem neuen, flüssigen Medium für Reputationsspiele, die unsere Sicherheiten auf eine abstraktere Ebene transportieren.

Wenn Geld als Resultat eines Systems von Verleugnungen die Schematik des abstrakten Denkens bereitstellt, ist dieses Denken nicht nur hinsichtlich seiner Gegenstände, sondern auch hin­sichtlich seiner internen Verfassung das Resultat geschichtlicher Tricksereien, Lügen und Erpressungen. Ein fundierendes Afortiori der Sprechergemeinschaft transportiert nicht nur diese Deformationen der menschlichen Kapazität, sondern auch die Verzweiflung, den Widerstand, die Ausweichversuche, die Hoffnung auf eine Besserung – die Menschheit weiß offensichtlich nicht wirklich, wo sie hin will, sie weiß aber mit Bestimmtheit, wovon sie weg will! Alles Historische geht, gegen die Argumentation der Institutionsapologeten, nicht etwa von den Akten und Archiven, sondern von den leiblichen Vollzügen aus, ist fundiert in den biomagnetischen Besetzungen der Materialität des vergangenen Geschehens. Mit Sohn-Re­thels Ansatz sind die entscheidenden Paradigmenwechsel des Denkens analog zu den Paradigmenwechseln der Tausch­sphäre verlaufen. Aus dem theologisch fundierten Streben nach einer Erlösung der Seele wird die von allen Kräften gespeiste Gier nach dem Erlösen von materiellen Einschränkungen. Wenn es darum geht, die Vernunft über sich selbst aufzuklären und damit zu zeigen, dass sie eben dort, wo sie am vernünftigsten zu sein scheint, nicht bei sich selbst ist, wird deutlich, warum Marx die Logik als das Geld des Geistes gekennzeichnet hat, warum Geld die bare Münze des Apriori, also der Geist der Logik ist. Das generalisierte Tauschmedium funktioniert nach wie vor aufgrund der ursprünglichen Gesetzmäßigkeiten des symbolischen Tausches: Achtung und Vertrauen. Die Stabilität des Werts, die Reziprozität der Bezüge und der Bezug auf das rechte Maß entsprechen der Bedeutsamkeit des verhandelnden Gegenübers, der Aufmerksamkeit, die wir ihm reservieren. Sie können vergessen, übersehen oder mit Füßen getreten werden, wenn Abstraktion und Generalisierung die Ablösung von den realen Vollzügen durchgesetzt haben, aber sie verschwinden nicht aus der Welt. Ihre Stimme ist leise, aber unerbittlich, sie verjüngen sich mit jeder großen Liebe von neuem, denn jene erfüllte Lücke des Ge-lücks verwirklicht sich, wenn wir uns ohne Vorbehalt und Berechnung verschenken, ohne Rest mit der Wirklichkeit des Gegenübers verschmelzen, nicht mehr an unser Begehren denken, sondern nur an eine begnadete gemeinsame Zeit. Dieser Prozess setzt göttliche Funken frei. Die archaischen Wurzeln des symbolischen Tauschs beruhen auf einem reziproken Geben und Teilen, sind keine Instrumentalisierung einer Mittel-Zweck-Relation. Schenken dagegen untersteht als kleiner Ableger der Opfergaben für die Götter den Gesetzmäßigkeiten von Prestige und Macht, ist damit bereits ein Um-Zu-Schlüssel des Sakralen. Der Austausch von Geschenken wird durch eine Nötigung zur Gegenseitigkeit bestimmt, ist damit nicht unbedingt ein Akt der Solidarität, sondern häufig einer der Verpflichtung. Wenn es beim Opfer noch der Versuch ist, die Götter zu beschwichtigen, zum helfenden Eingreifen zu bewegen, ist es der Natur gegenüber ein Vorahmen ihrer Freigebigkeit, während es beim Potlatch eine nötigende Machtausübung ist, mit der in Einzelfällen der Ruin des Gegenübers bewirkt wird.

Wenn maximal unwahrscheinliche Voraussetzungen eine Liebe befördern, die die herrschenden Stillhalteabkommen nicht zur Kenntnis nimmt, das Verhältnis von Simulation und konfliktueller Mimetik aufsprengt, die Akkumulation von Resten überflüssig macht, damit zugleich aufdeckt, auf welche kleinlichen Berechnungen das ganze Theater beruht, verwundert das Konkurrenzverhältnis der geisteswissenschaftlichen Institutionen nicht. Ein funktionierendes Verhältnis der Geschlechter stellt den Modus vivendi von Simulantinnen und Nichtskönnern infrage, die sich mit Verhältnissen des Verzichts und der Ersatzbefriedigung arrangiert haben. Die Ansprüche und Imperative der Institution sind bei Kittler oder Hörisch überzeugend dokumentiert. Ihre eigentliche Funktion beruht auf Aufschub, Umleitung und Entschärfung der verborgenen Kräfte des Menschlichen – diese Energien fließen in die entsprechenden Körperschaften, garantieren den Bestand einer Institution, die die Werke und Entdeckungen ihrer Mitglieder als kulturelle Besitztümer vergesellschaften. Weil jedes große Kunstwerk zur Energiekonserve werden, jede gelungene mathematische Formel die Sprengkraft einer Granate transportieren kann, werden Wissenschaften und schöne Künste schon deshalb in der Nachfolge theologischer Ansprüche gepflegt, denn so sind sie am besten zu entladen und zu kontrollieren. Erst einmal muss ein Begehren nach diesen Themen erzeugt werden, schließlich hat ein Bewerbungsapparat jene herauszufiltern, die dank Antrieb und Begabung in die Lage kommen könnten, ein System von Behinderungen zu durchschauen. Als gezeichnete Beauftragte der Stillstellung bereiten Geisteswissenschaftler für jene Wenigen, die die stillschweigenden Voraussetzungen der Alma Mater übergehen, ihrem Imperativ nicht gehorchen, ein gefährliches Minenfeld auf. Wer dem Imperativ Folge-mir-nach-und-werde-mir-ähnlich nicht gehorcht, wird mit der unbarmherzigen Gesetzmäßigkeit bekannt gemacht, dass unter der Regie einer Institution auf die Qualitäten des Menschlichen geschissen ist. Ihre Delegierten sind nicht nur Spezialisten für geistiges Krisenmanagement, sondern vor allem Löschkommandos beim Auftreten von Eventualitäten der menschlichen Inkommensurabilität.

Für eine überzeugende Grundlegung der philosophischen Anthropologie hat Fellmanns ‚Das Paar‘ gezeigt, auf welche Weise Eros der Funktion untersteht, ein Verhältnis der Geschlechter herzustellen. Dagegen variiert der Bezug der Macht auf das Verhältnis der Geschlechter nur die Wahrheitswerte des Verzichts und der Surrogate. Wenn die Akkumulation von Macht vom Verzicht auf eine entgrenzende Lustpolitik abhängt, bietet sich die Frage nach den Grundlagen der Gesetzmäßigkeiten des Paares an. Wie Max Bense gern unterstrich, müssen wir nur immer wieder bis drei zählen können. Für die Semiotik ist die ursprüngliche Einheit die Triade! Eros steht in der Funktion der Drittheit einer Vermittlung zwischen den Geschlechtern. Wie Fellmann geduldig und für den akademischen Diskurs überzeugend zeigen konnte, ist die Wirklichkeit der erotischen Liebe reicher als fremdbestimmte Sinngebungen, und sie entzieht sich dem zweckrationalen Handeln. Sie braucht keine Rechtfertigung, kein fremdes Ziel, weil sie ihr eigener Beweis ist. Noch dazu ist die Lust die einzige Sprache, die beide Geschlechter unmittelbar verstehen, weil sie die Erfahrung vermittelt, dass jeder Subjekt und Objekt zugleich ist. Eros erscheint als der einzige Weg, die narzisstische Einkapselung des Menschen zu überwinden, es braucht den Schutzschild des Dritten gegen die verinnerlichten Besitzansprüche der Mütter, die dafür sorgen möchten, dass keiner/m der Zugriff auf ihren Ableger gelingt. Schon in realer Nachgeburt und imaginärem Doppelgänger ist, wie Sloterdijks umfangreiche Abschweifungen in den ‚Sphären‘ erweisen, diese Instanz präfiguriert. Gegen das klassisches Identitätskonzept der Monomanie ist mit Harmonien zu operieren, also mit dreiklängigen Relationssystemen, die jenseits des imaginären Einen und der Eins wirksam sind. Erst durch eine/n Partner/in werden wir in die Lage versetzt, wirklich ins Leben zu treten. Was plausibel klingt und nach Dux universell über alle Völker und Zeiten als Liebe angestrebt wurde, war die Koppelung der Lebendigkeit beider Geschlechter in einer aneinander gesteigerten Selbsterfahrung wie der Erfahrung ihrer Welt. Im christlichen Wirkungsbereich wurde genau dieses Bedürfnis einst von alten Männern mit dem Taschenspielertrick der heiligen Dreieinigkeit adaptiert, um die kulturschwule Triade aus Vater, Sohn und Geist gegen die Ansprüche der Mütter wie gegen die Überzeugungskraft der körperlichen Liebe aufzurichten – mit dem Erfolg, dass sich die mütterliche Macht in den Machtansprüchen der Institutionen verewigte. Klerus und Pädagogen profitierten für die Einwilligung in den Betrug von der nötigen Prämie als Päderasten.

Mit Lévinas ist die Andersheit konstitutiv für eine Begegnung im emphatischen Sinne, mit der ein/e Andere/r die umfassende Erfahrung einer Persönlichkeit bietet, deren Komplexität in keiner Lebenszeit auch nur annähernd auszuloten ist. Diese irreduzible Undurchschaubarkeit begründet nicht nur Würde und Unantastbarkeit der Person, sondern offenbart eine reziproke Unergründlichkeit der eigenen psychischen Systeme – also eine Anleitung in Demut. Noch dazu beinhaltet die damit vorausgesetzte Offenheit von Lernvermögen und Interesse die Chance, sich in keiner abgestumpften Langeweile zu verlieren. Diese Voraussetzungen verhelfen unter dem Oberbegriff ‚Das Paar’ im Bett während einer gelegentlichen profanen Erleuchtung bis zum biblischen Erkennen jenseits der gesellschaftlichen Anpassungszwänge vorzudringen. Die Entfesselung göttlicher Energien ist ursprünglich identisch mit der Erotik, Franz von Baader hat mit der Analogie von Erkenntnis-und Zeugungstrieb bereits unterstrichen, dass Liebe und Religion ein und dieselbe Wurzel haben – die Tempelprostitution war noch immer ein Nachklang jenes uralten Wissens, das mit den monotheistischen Tabus verdrängt und verleugnet werden musste. Manchmal stellen sich unmittelbare Gewissheiten ein, in einem Stadium des wohligen Dahinfließens beginnen Kräftepfeile sogar die Mikropolitik der Macht einer Intrige aufzuzeigen. In früheren Publikationen sind einige biographisch fundierte Modifikationen indexikalischer Symbole für schwule, bisexuelle und lesbische Beziehungen zu finden – in Abschweifungen und Reminiszenzen wurden die im ‚Altpapier‘ wurzelnden Ansätze über die ‚Galerie der Geistesblitze‘ verteilt. Diese unschätzbare Gabe der erotischen Symbolisierung von Gesetzmäßigkeiten, deren Erkennen gesellschaftlich dem Tabu untersteht, impliziert bereits einen Störfaktor des Machtanspruchs von Institutionen; sie legen die vampirischen Grundlagen der Macht bloß. Für die von ihnen Abhängigen findet eine perverse Verkehrung statt: Sie usurpieren die primordiale Vermittlung, leiten die erotischen Kräfte ab, saugen sich am Motor der wachen Lebendigkeit fest – oft genug sorgen sie sogar für fein abgestimmte, an den persönlichen Schwachstellen ausgerichtete Behinderungen der Beziehungsarbeit. Die Liebe, das Bedürfnis ihrer Entfaltung, taugt nicht für Feiglinge – wer nicht an den narzisstischen Projektionen festhält, sondern die Beziehungsarbeit wirklich ernst nimmt, wird mehr oder weniger schnell von der Lebensgefährlichkeit eines solchen, dem kulturschwulen Imperativ widersprechenden Unternehmens überzeugt. Aus dem Grund befördern Fehlleistungen, Versprecher und unwillkürliche Einfälle, Restbestände aus den nächtlichen Traumwelten, unflätige Witze und böse Zynismen jenes Wissen, das die Freude an den lebendigen Vollzügen freisetzt. Die Voraussetzung eines gelingenden Verhältnisses der Geschlechter wurde systematisch zur Illusion erklärt, damit eine psychotische Entdifferenzierung die Täuschung im Tausch ermöglichte – Fleisch gegen Sex, damit begann der Marktmechanismus; Konventionen sorgen dann dafür, fehlerhafte Identifikationen herzustellen und auch auszuhalten. Dagegen fügt die Wirklichkeit des Eros beide Teile einer zerbrochenen Einheit stimmig zusammen, getauscht werden Gefühlsintensitäten. Die Symbolerfahrung ist eben kein thetisches Produkt des Geistes, sondern das Resultat einer Wirksamkeit in der Welt: Getauscht wird Fleisch gegen Fleisch, Hingabe gegen Hingabe. Der Wirklichkeitsanspruch der Institutionen drängt den symbolischen Tausch aus Gründen der Machtakkumulation in den Hintergrund, erklärt ihn durch ökonomische Tauschvorgänge, damit aber zur vernachlässigbaren Nebensache. Der die Vorstellungen von Erfüllung versprechende Fetisch ersetzt die momentane körperliche Erfüllung. Hörischs Interpretation der kryptischen Texte Sohn-Rethels unterstreicht unterm Vergrößerungsglas der Symboltheorie Benjamins nicht allein, warum Geld ein Apriori des abstrakten Denkens ist. Vor allem macht er deutlich, wie dieses Denken hinsichtlich seiner Gegenstände oder seiner internen Verfassung als Resultat eines Systems von Verleugnungen geprägt worden ist: Das System von Behinderungen setzt ein Denken voraus, das lediglich zuverlässig funktioniert, wenn sein körperliches Medium desexualisiert worden ist. Das durchgesetzte Tabu auf den körperlichen Vollzügen nobilitiert einen inhaltsleeren Schematismus, der von allem absieht, was den Qualitäten einer zwischenmenschlichen Erfahrung entsprechen könnte. Doch parallel zu dieser Depravierung garantieren die Kompensationsleistungen des Entzugs den Imperialismus eines verantwortungslosen Wirtschaftssystems, dessen Marketingprinzip zufolge Sex sells, für dessen Betriebswirte und Banker Geld als geil gilt.

Macht und Wert resultieren immer aus der Verknappung; eine Gesetzmäßigkeit, die uns ex negativo beigebracht wurde. Wenn uns auf einmal die Zeit fehlte, über die wir bisher so großzügig verfügten, wenn das wenige Geld mangelte, das wir bisher nicht ernstnehmen wollten, war der nötige Zugriff geschaffen. Nun bestimmten andere darüber, wie die Zeit zu investierten war, wie die Subsistenzmittel erarbeitet werden mussten – damit war Schluss mit einer Grundhaltung der Bedürfnislosigkeit, die Souveränität von Eigenarbeit und Eigenzeit vorerst erledigt. Der Ansatz, Bedingungen zu ermöglichen, dank denen eine relative Bedürfnislosigkeit gepflegt werden kann, bleibt sicher richtig. Allerdings waren unsere Gewohnheiten finanziell nicht dafür ausgestattet, einer von Professoren gesteuerten Intrige standzuhalten. Wir lehnten den verordneten Konsum und die Sozialisationsagentur Massenunterhaltung ab, hatten kein Auto und brauchten keinen Urlaub, arbeiteten nicht mehr als unbedingt nötig, hatten die monatlichen Fixkosten auf ein relatives Minimum gesenkt. Wir lagen niemandem auf der Tasche, brauchten keine Ämter, kosteten dem Staat kein Geld; selbst unsere Krankenversicherung konnte nicht klagen, denn wir hielten uns fit und mieden Ärzte wie eine Krankheit. Wir lebten sehr bescheiden, kamen mit ganz wenig aus, waren in vieler Hinsicht Selbstversorger. Meine Freundin sicherte dank eines Halbtagsjobs auf der Volkshochschule mit verlässlich am Monatsende eingehenden Überweisungen die Zahlung von Miete und Nebenkosten. Ich sorgte dafür, den Raum für kreative Eigenarbeit mit einem Minimum an Kosten aufzutun, dazu dienten eine Hausmeisterwohnung, Kurse auf verschiedenen Volkshochschulen und die Urlaubsvertretungen im Buchhandel. Erst im Nachhinein war zu sehen, wie in allen Bereichen die Einflusssphären immer präziser ineinander griffen. Was als bösartige Paranoiadressur gedacht war, sollte nicht sehr lange wirken, bis die Drohgebärde des sozialen Todes mich davon überzeugte, wie sehr das Eigen einer eigenen Identität auf einer Illusion beruhte. Vor allem kapierte ich unter diesem Druck, warum die in die eigene Geschichte eingeschriebene Differenz die eigentliche Wahrheit ist. Wir sind nicht mit unserer Geschichte identisch, sondern immer schon mehr, oft weit voraus. Dank dem Glück des Unvorhergesehen sind wir regelmäßig in verschiedene Geschichten verstrickt, können uns diese Gesetzmäßigkeit zu Nutze machen, wenn sie den Zwang zum identisch Einen löchern, das Repertoire vieler Welten befördern.

Wer sich richtig, also ohne falsche Rücksichtnahme oder verlogene Kompromisse, in Eigenarbeit investiert, braucht vieles nicht und damit fallen unnütze Kosten weg. Mit den Routinen, unsere Eigenzeit zu kultivieren, waren wir unangreifbar – solange nicht der depperte Ehrgeiz dazu kam, eigene Texte in einem regulären Verlag unterzubringen oder in der Verwaltungsetage einer Volkshochschule Karriere zu machen. Ohne diesen von außen angekitzelten Ehrgeiz hätten wir die besten Voraussetzungen mitgebracht, unsere Beziehungsarbeit auf Dauer in Kreativität zu transformieren, Gesetzmäßigkeiten einer wirklichen Lustpolitik auszuformulieren, Techniken aufzubereiten, die die Geschichte nicht nur in Bewegung halten, sondern wesentliche Heilmittel gegen die Perversionen der Stillstellung bereitstellen. Der Ehrgeiz war ein kategorialer Fehler, aber zu unserem Glück brauchten nicht nur die braven Erfüllungsgehilfen der Intriganten ihre narzisstischen Strategien als Surrogat fürs ungelebte Leben. Die Verantwortlichen tüftelten Gemeinheiten aus, die nach dem modelliert wurden, was ihnen selbst als Beamtensprösslinge am meisten weh getan hätte – das erklärt den Mangel an Trefferquote und ihre Gefährdung durch Querschläge. Dagegen konnte bei meiner Sozialisation durch einen Hilfsarbeiter die Programmierung einer gekränkten Eitelkeit oder die von langer Hand vorbereitete Frustration nicht viel ausrichten – ich musste nur auf ein gesellschaftliches Feld ausweichen, auf dem die Krüppelzüchter nichts zu sagen hatten.

Lange Zeit waren wir mehrere Stunden am Tag mit den Hunden unterwegs, morgens eine große Runde und abends noch eine kleine – Bewegung ist die Gegenwart der Zukunft. Wir konnten Einfälle und Gedanken ergehen, manchmal kamen uns Geistesblitze aus der Zukunft entgegen, von denen wir nach dem Spaziergang ein paar Stichworte notierten, um dann später an ihrer Deutung zu kauen. Wenn wir genug gelaufen waren, saß ich Stunden an der Maschine, ohne von irgendeiner Zensur oder Bremsung an der Produktion gehindert zu werden. Nachdem meine Freundin unter dem Einfluss der Intrige gekündigt hatte, wurden wir mehr und mehr ausgebremst. Ich war nur noch damit beschäftigt, das bisschen Geld zustande zu bringen, mit dem wir uns von einem Monat zum nächsten hangelten. Dieser Mangel an Horizont, das verordnete Nichtstun bei irgendwelchen Jobs, die damit verbundene Unverantwortlichkeit, sind dafür verantwortlich, den Menschen die Eigenzeit zu stehlen. Die faktische Abwesenheit realer Chancen kostet enorme Kraft, sie frisst jegliche Eigeninitiative. Manchmal in klaren Augenblicken versucht sich eine ernüchternde Feststellung Gehör zu verschaffen: Ich muss aus den immer schwereren Aufgaben, die man mir gestellt hatte, Energien bezogen haben. Ich war wohl noch auf fiese Gemeinheiten oder böse Fallen meiner Gegner angewiesen, um daraus Leistungen zu keltern. Wieder einmal stellte sich die Frage, was überhaupt so eigen und unvergleichlich war – was habe ich wirklich selbst hingebracht, was ist nur zustande gekommen, weil fremde Einflüsse mit mir gespielt haben? Doch es gab weder Gründe, ein Unrechtssystem zu füttern, noch irgendeine Notwendigkeit, die Schuld vorangegangener Generation abzuarbeiten. Bei meinem Herkommen begann die Zeitrechnung mit mir, es gab keine verbindliche Tradition, vor allem keine Abhängigkeit, die mit legitimen Forderungen verbunden war. Die Vergangenheit wollte ich immer nur hinter mir zurücklassen. Für den nominellen Sohn eines ehemaligen Heimkinds, das seinen Vater nie gekannt hatte, der logischerweise in der Folge mein Vater nicht sein durfte, lag das Koordinatensystem der Deixis, das Ich-Hier-Jetzt, dem Aufbau der relevanten Wirklichkeit zugrunde. Keine Tradition, kein Erbe, aber auch kein schlechtes Gewissen wegen der Verbrechen der Vorfahren, keine falschen Rücksichtnahmen auf vorausgegangene Lebenslügen oder Verstrickungen. Die Vergangenheit der Erben sorgt häufig genug dafür, dass sie nicht bis zum Jetzt vorgelassen werden, während eine noch offene Zukunft bewirken kann, erst richtig im Jetzt anzukommen. Bis dahin war ich durch die kreative Eigenarbeit gewohnt, über Wochen fast schwerelos durch die Welt zu segeln. Gelegentlich brachte ich dieses Heliumgefühl auf einen Nenner: Ich war schnell, schneller als die anderen, hatte den Blick für die entscheidenden Details und eine enorme Auffassungsgabe; die Sachen, die ich anpackte, fielen sehr leicht, gelangen wie von allein. Doch mit der in der Staatskanzlei endenden Intrige kam ich auf einem sehr harten Boden an. Welche Kraft es kostet, schon bei den einfachsten Dingen alles für sich selbst zu entdecken, können diese Leute nicht nachvollziehen – und deshalb noch weniger, welche Kraft die Eigenarbeit auf die Dauer gibt: Wir waren in der Lage, auf einem anderen Feld noch einmal neu zu beginnen, recht schnell Erfolge einzusacken. Gerade weil die Statthalter der Machtventilation auf Konformisten angewiesen sind, scheint jemand, der nirgends mitläuft und auf kein Vitamin B reduziert werden kann, für sie eine Gefahr darzustellen; ihnen fallen zur Angstbewältigung absurdeste Planspiele ein. Niemand scheint für Simulanten der Selbstheit derart bedrohlich, wie jemand, der sich auf das zu verlassen gelernt hat, was selbst entdeckt und kapiert wurde.

Ich habe mir einmal vorgenommen, die Angstbewältigung der kulturschwulen Bildungsgemeinschaft anhand der Gesetzmäßigkeiten des Paars als armselige Humorlosigkeit zu demaskieren. Doch ebendiese Kritik verstrickt eine/n immer mehr in ein System von Behinderungen, das von den Inhalten nicht mehr übrig lässt, als die Illusion, sich für sie quälen zu lassen, um wenigstens den Schein von Konsequenz zu wahren. Mittlerweile wurde genügend Material gesammelt, um zu dokumentieren, warum eine Selbstverwirklichung nur zu zweit mit der richtigen Lustpolitik gelingen kann, ansonsten wäre es beim Konzept einer ästhetischen Selbstzerstörung geblieben. Wenn wir uns an all den aufgestachelten Neidern und subalternen Krüppeln abgearbeitet hätten, wäre dem Kraftwerk der Liebe der Brennstoff ausgegangen. Und weil es nur Delegierte waren, wäre nicht zu vermeiden gewesen, uns selbst ins Unrecht zu setzen. Es gibt nur eine Strategie, die in einer Welt ausgebremster und nachgemachter Menschen wirklich weiter hilft: Eine selbstlose und überbordende Lustpolitik, die zu einer Form der Lebenskunst ausgearbeitet wird, bei der die Lust unmittelbar Leistungen und unerwartete Selbstentfaltungen motiviert. Wenn wir zu einer bewussten Bewegung zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit fähig sind, erschließen sich neue Spielräume der Entdeckung und des gemeinsamen Interesses, ohne mit der Entscheidung für die Verwirklichung der Liebe eines Lebens zugleich den Spielraum an Möglichkeiten und Freiheiten einzuschränken.

Damit sind wir nicht nur bei den Auswirkungen der Zeitkonzeption, sondern auch beim ursprünglichen Geheimnis der auf den ersten Blick so ziellosen Verausgabung. Mittlerweile hilft uns kein Sehnen nach der Rückkehr zum Mythos der ewigen Wiederkehr des Gleichen mehr, sondern viel eher eine behutsame Spiralbewegung, die dank dem, was wir in die Kreisläufe einspeisen, zu einem Ergebnis führt, das nicht zu planen oder vorauszuberechnen ist. Aus diesem Grund ist in den diversesten Zusammenhängen immer wieder das Glück des Unvorhergesehenen zu lokalisieren. Die abstrakte Zeitkonzeption mag eine paranoide Konstruktion sein, die relationale Raumzeit ist dies nicht –  das führt selbst theoretische Physiker auf den Weg des philosophischen Staunens, manchen sogar in die Theologie. Tatsächlich gibt es in den psychischen Systemen nichts umsonst, jedes agonale Fehlinvestment, jedes anmaßende Geprotze ist mit ganz kleiner Münze abzuzahlen, obwohl die Betroffenen schon aus reinem Selbstschutz nicht kapieren, warum sie in schmerzenden Situationen der Selbstwiderlegung landen. Ich musste die richtigen Sachen richtig tun, noch dazu mit so viel Lust an der Sache, mit so viel Freude an den sich spielerisch entwickelnden Techniken und Fertigkeiten, dass damit die Negation entweder absorbiert oder zurückgespiegelt wurde. Ein Spiel der Geistesgegenwart, das immer wieder in die Erfahrung des Hier und Jetzt mündete: Dass etwas passte oder flutschte, dass es funkte oder schnackelte – Steiners ‚Handwerk‘ liefert jenseits der konservativen Optik einige Bedienungsanleitungen über die im Körper gespeicherten Wissensweisen. Verständlicherweise ist diese Form der Eigenarbeit in vielen gesellschaftlichen Zusammenhängen unerwünscht: Vor allem, wenn die Autoritäten, Chefs, Führungspersönlichkeiten auf einem Stuhl sitzen, den sie nicht ihrem Wissen oder Können verdanken, sondern familiären oder politischen Einflusssphären. Als Beispiel taugt die Erfahrung als Packer und Bote im Buchhandel. Meine körperliche Gewohnheitsbildung verknüpfte mit der Zeit viele Vorgänge immer sicherer, verlängerte damit gewisse Abläufe schematisch in die Zukunft. Daraus ergab sich eine Form des Einfühlungsvermögens, dank der ich andere, die in meiner Nähe irgendetwas erledigten, damit überraschte, ihnen die nötigen Werkzeuge oder Handreichungen zu präsentieren, bevor sie selbst überhaupt soweit waren, daran zu denken. Ich kam ihnen für ihr Empfinden aus der Zukunft entgegen. Als eine Debihla den Auftrag verfolgte, mich zu psychotisieren, sorgte sie Schritt für Schritt dafür, alle mechanischen Geräte durch elektrische Maschinen zu ersetzten, um die in meinen Muskelinnervationen gespeicherten Wissensweisen auszuschalten. Beispiele sind im ‚Schamanen im Bücherregal‘ oder in ‚Literagonie‘ zu finden. Außerdem schuf sie Situationen, in denen sie zielgerichtet ignorierte, wenn ich ihr ein Werkzeug hinhielt oder eine Maschine bereitstellte, weil ich vorhersah, was sie brauchte oder machen wollte – sie versuchte meine Verfügung über das Körpergedächtnis zu irritieren. An ein paar Versuchspersonen habe ich mitbekommen, wie erfolgreich sie Mitarbeiterinnen manipulierte, mich anzumachen, wie zielgerecht sie die Damen dann aufgrund ihres Mangels an Resonanz in eine Krankheit oder eine Kündigung führte. Es war davon auszugehen, dass sie solche Techniken an der Seite eines Harpprecht in Bonn bewusst ausgeübt hatte.

Trotz der Umsätze, die wir nun in Bewegung setzten, blieb der Ansatz überzeugend, Bedingungen zu ermöglichen, dank denen eine relative Bedürfnislosigkeit gepflegt werden kann. Wir lehnten den verordneten Konsum und die Sozialisationsagentur Massenunterhaltung ab, arbeiteten nicht mehr, als unbedingt notwendig war, hatten die monatlichen Fixkosten auf ein relatives Minimum gesenkt. Während der Arbeit am ‚Altpapier‘  schien das die beste Voraussetzung, eine bereits geplante Grundlegung des Verhältnisses von Kultur und Vergessen auszuformulieren. Was lassen sich in so einem Fall jene Drehpunktpersonen einfallen, die auf abhängige Schüler angewiesen sind? Sie sorgen dafür, Bedürfnisse anzukurbeln, um mit Hilfe einer Ausgeliefertheit das Begehren zu pervertieren! Wer im Kulturbetrieb nur unter Schmerzen und Verzicht in einer Machtposition angekommen ist, wird diese mit Zähnen und Klauen zu verteidigen bereit sein. Was konnte diese Leute mehr am ‚Altpapier‘ stören, als die rückhaltlose und unzensierte Selbstbeschreibung eines untreuen Schülers, der aufgrund einer guten Beobachtungsgabe und seiner Krämpfe bei der Entwindung ihre alles andere als souveränen Praktiken publik machte! Überhaupt, wenn dabei das komplette Fundament der kulturschwulen Vereinigung ausgehebelt wurde, die so lebenswichtigen Formalitäten lächerlich schienen.

Auf das Raunen der Intrige zu hören, hätte den Hohn einer verschwendeten Lebenszeit gespeist – also tauchten bestimmte Botschaften erst in den folgenden, anderen Geld- und Informationsströmen gehorchenden Jahren auf. Wenn wir dank der erotischen Entgrenzungen fast alles zu streichen vermochten, was ins aktuelle Ich-Hier-Jetzt an Ballast und Einflüsterungen hereinragen sollte, blieb für viele Stunden des Tages eine produktive Leere, bei der immer erst einmal abzuwarten war, welche dem Tabu unterstehende Ungeheuer ihr zu verdanken waren. Einfälle zum sozialen Tod, zum Ablauf der Zeit, zu den Begleitumständen ihrer Beschleunigung oder Intensivierung, zu Wiederholung, Initiation und Wiedergeburt, beginnen einen zu suchen. Damit entstand ein relativ einfacher Funktionszusammenhang, in dessen verborgenem Zentrum eine Rückkopplungsschleife Kraft sammelte, uns verordnete Stumpfheit oder sadistisches Desinteresse ersparte. Aber es fiel hin und wieder auf, wie leicht es sich urteilt, wie offensichtlich die Gesetzmäßigkeiten scheinen, wenn es um andere geht, noch dazu, wenn sie uninteressant sind, einen nichts mit ihnen verbindet. Die Zeit scheint dann als Richter zu fungieren, als blinde, auf Dauer unerbittliche Form des symbolischen Tauschs. Nur wenn es um einen selbst geht, entziehen sich diese Gesetzmäßigkeiten oder werden aus Angst und Trägheit verdrängt, stehen gerade dann nicht zur Verfügung, wenn sie am dringendsten gebraucht werden. Vermutlich gehorcht das umgekehrte Verhältnis den nämlichen psychischen Besetzungen. Die Zeit ist immer eine Konstruktion, doch nicht wir sind die Konstrukteure, sondern lediglich Protagonisten, die sich in dauernden Veränderungen unterstehenden Kontexten bewegen. An irgendwelchen Überzeugungen festzuhalten, hätte nur zu Selbstbestrafungen geführt, also erst mal weg damit. Irgendwann später erst stellte sich die Frage, wie wir an lange verschütteten Quellen wieder anknüpfen konnten. Es gab einmal eine Zeit, als die Musik mich getragen hat, als mir chemische Ekstasen einen Antriebsüberschuss verpassten, der noch auf der Uni für den Drive sorgte, mich für einige Proselytenmacher interessant machte. Nach der Promotion war einige Jahre nicht nachvollziehbar, warum meine Erinnerungen an die musikalische Induktion weitgehend verloren gegangen sind – dabei gehorchte das Ausblenden der Musik dem Tabu auf dem Namen Musik. Seit der Arbeit am Benjamin hörte ich keine Musik mehr; vor allem der Antrieb galt als obszön. Mein double bind aufgrund der akademischen Ausbremsung wurde erst gesprengt, als ich mit Werbung Umsätze in Bewegung setzte.

Ab einem gewissen Alter gab es einfache erotische Tricks, mit denen die Nähe zum Material, das Aufgehen in einer Situation, die Begeisterung für ein Thema oder einen Gegenstand dafür sorgen konnten, den Abstand zu standardisierten Dressurleistungen zu vergrößern, ohne sich in einer Weltlosigkeit zu verlieren. Die durch die Verführung durch einen Päderasten angestoßene pornographische Selbstimmunisierung hatte einst für eine positive Besetzung des bedruckten Papiers gesorgt, damit aber bereits eine Gegenbesetzung des anderen Ufers bewirkt. Der Wille zum Wissen resultierte am Anfang aus dem Begehren zu schauen und zwar das Geheimnis des Lebendigen. Das Antidot gegen katastrophische Impulse begann an jenem im Altpapier geschilderten Punkt fruchtbar zu werden, an dem die griechischen Mythen Götter zwitschern und vögeln ließen, ich also an einer Zaubermöse gesunden durfte. Zehn Jahre später wurde der Bewusstseinsstrom bereits von ein paar tausend Büchern gespeist, das freigesetzte Lernverhalten hatte einen effektiven Durchlauferhitzer zustande gebracht. Wenn ich die Aufeinanderfolge von Brüchen, von Zusammenstößen, die mich oft genug aus der gewohnten Welt hinaus katapultierten, zusammenfassen und verallgemeinern möchte, komme ich auf Lacans Insistenz des Buchstabens im Unbewussten, auf die schamanistische Reise eines kleinen ‚r‘ von den Brüchen zu den Büchern: Miller, Burgess, Durrell, Greene, Huxley usw. transportierten anachronistische Energiekonserven mit den notwendigen Anregungen aus den Sechzigern und frühen Siebzigern – erst in diesem energetischen Feld tauchten dann Pink Floyd, Genesis, Doors, Velvet Underground, Led Zeppelin, van der Graf Generator, King Crimson usw. wieder auf. Die Präsenz ist immer wieder in jenen Augenblicken zu erfahren, die sich der Intensität körperlicher Wahrnehmungen verdanken. Paradoxerweise treten wir dabei für einen Nu aus der Zeit heraus, um eine momentane Unendlichkeit zu erfahren. Selbst unter hohem Stress, der Erfahrung extremer Ausgelaugtheit, stellen sich solche Augenblicke als Lichtblitze auf den Wellenkämmen beim Rudern mit Bänkern am Tittisee ein – früher war es der grasfrische Dunst einer gemähten Wiese nach einem ersten Date oder die staubige Nässe eines Sommergewitters zwischen Verführung und Pornoschönheiten – Jahrzehnte später die Rhythmen von Disko und Drogenstrich nach Mitternacht im Lärmpegel der Symphonien einer Stuttgarter Fußgängerzone …

 

 

 

Lustpolitik, Macht und Gewalt

 

Blumenbergs Projekt einer Metaphorologie ist in diesen Zusammenhängen zu radikalisieren, wenn gegen die kodifizierte Bedeutung die Verweisung entlang der Signifikantenkette bevorzugt wird, die Metapher damit als Spezialfall in der Metonymie aufgehoben ist. Damit ist ganz im Sinne Benjamins zu zeigen, warum zwischen Metapher und Metaphysik eine enge Wahlverwandtschaft herrscht, denn beide las­sen sich auf riskante Überschreitungen und Grenzver­letzungen ein: Die Metapher verabschiedet sich von kodifizierten Bedeu­tungen und die