Musik & Geiger-Musik
Eigenarbeit & Eigenzeit,
Lust- gegen Machtpolitik
Zugänge zur Philosophie
um die Jahrtausendwende
MGM-Digital Dresden 2024
Potpourri
Präsenz und
Abwesenheitsdressur – Zeitmaß und Erfahrungsformen der Zeit – Geistesblitz und
Augenblick – Eigenarbeit und Souveränitätstraining – Glück des Unvorhergesehenen
– Selbstbezug und Liebe als Duell – sozialer Tod und erotische Theorie – Sex,
Macht und Gewalt – Eschatometer und Transzendenz – anything goes versus in-Geschichten-verstrickt
– Erkenntnistheorie, Symbolbegriffe und Netz der Signifikanten – dynamische
Wandlungen der Metastruktur an den Rändern des Undenkbaren – Anthropologie, Cyberhypes
und Katastrophenpädagogik
Vorbemerkung
Obwohl die einem Mangel
an Herkommen gehorchende Fremdheit in dieser Welt danach geschrien hat, alles
lebensnotwendige erst einmal selbst zu erfinden, ist kein Wort von mir. Ich
habe keine eigene Sprache; nicht einmal ein Buchstabe wurde an meinem Rechner
entworfen. Aufgrund eines radikalen, durch manche Wand gehenden Dickschädels konnte
es oft genug so aussehen, als sei einem maximal unwahrscheinlichen Weg der
Erfolg beschieden. Doch als Schachfigur auf dem sozialen Spielfeld habe ich bei
den herbeigeführten Entscheidungen nur über ein rückhaltloses Ja verfügt. Zu
tun, was notwendig ist, während das Repertoire an Möglichkeiten unter dem
Einfluss selbsternannter Gegner zugleich erstaunlich und bedrohlich schnell
schrumpft, spricht für alles andere eher als für eine freie Wahl. Allerdings entstand
während des anstrengenden Rückzugs in ein stetig wachsendes Bücherregal gegen absurde
Widerstände von Bildungsbeamten ein Feld, auf dem immerhin ungebremst zwischen
den gefährlichsten Einsichten zu wählen war. Formulierungen, denen sich die
Selbsterkenntnis früher einmal sympathetisch genähert hatte, um in dialogischen
Interventionen über sie hinauszugehen, in mancher Hinsicht eine kritische
Gegenposition einzunehmen, transportieren eine Bewegung des Denkens durch die
Jahre hin und prägen zugleich neue Räume für die ursprünglichen Einsichten. Gründlich
geprüft, immer wieder gestaunt und das Beste verwendet, ergibt die manchmal oberflächlich,
manchmal paranoid, manchmal schlampig wirkende Argumentation eine Polarität
ausgewählter Zitatzusammenhänge. In ihren Zwischenräumen sind Wahrheiten
zuhause – zum Glück gibt es nie nur eine.
Vielleicht habe
ich nicht umsonst viele Jahre mit dem Gedanken gespielt, eine dieser verdrehten,
durch Lüge und Verleugnung strukturierten Welt angemessene Pädagogik zu
verfassen, weil die Gesetzmäßigkeiten meiner Biographie zu keiner Empfehlung
für die Aufzucht junger Erdenbürger taugen. Die frühen Jahre lieferten eine
Beweisfigur der antiken Weisheit, nach der es am besten sei, gar nicht erst
geboren zu werden; die darauf folgenden Exzesse unterstanden einer Annäherung
an die nächstbeste Weisheit, möglichst schnell wieder aus dem Leben zu
scheiden. Das war stimmig als Folge jener unerfüllten mütterlichen Erwartungen,
die aus einem unrealistischen System schwachsinniger Anmaßungen resultierten.
Die Rechtsanwaltsgehilfin hatte versucht, sich einen jungen Anwalt zu angeln,
dessen Familie auf einer standesgemäßen Verbindung bestand; als Folge hatte sie
auf die Schnelle trotzig einen Hilfsarbeiter geheiratet, um sich den reichen Erben
immerhin als Erzeuger und künftigen Patenonkel zu reservieren. Sie hielt die bescheidene
Rolle im Leben aus, weil ihre absurden Größenfantasien auf einen
selbsterzeugten Erlöser übertragen wurden. Neben dem geprügelten Kuckuckskind
und unter den Schlägen eines ehemaligen Heimkinds entstand der Zeuge Musik, dem
für alles die Verantwortung zugewiesen werden konnte; es war kein wirklicher
Trost, als die Mutter einmal meinte, die Misshandlungen seien für einen Achtjährigen
leichter zu ertragen, wenn sie ihm verriet, dass das nicht sein richtiger Vater
sei. Manches war nur auszuhalten, indem er begann, neben sich zu treten, den
Schwachsinn von weit draußen zu betrachten. Ab einem gewissen Alter begann die von
ihr ausgehende Botschaft die Schläge des Alten umzucodieren: Du bist wirklich jemand
Besonderer, aber wenn Du dazu stehst, hat Du auch besondere Demütigungen auszuhalten.
Virtuell diente diese neurolinguistische Programmierung als ein die Zeiten
verknüpfender Grundkurs für spätere akademische Subalternisierungen und die
Colloquien zur Praxis der Frustrationstoleranz. Immerhin lernte er in den
Jahren wie nebenbei, warum darauf geschissen war, was solche Leute von einem hielten.
Sie logen sich eine Welt zusammen, die in nichts mit dem übereinstimmte, was
ihnen täglich widerfuhr. Schon das verkrüppelte Gestrampel dieser Frau zu sehen
tat weh; das identifikatorische Mitleid eines Muttersohns drohte das Prinzip
Hoffnung zu erodieren, künftige Selbstzerstörungsversuche vorzubereiten, wenn
nicht die Einflüsse eines schwulen Kameramanns dazwischen gekommen wären. Die damit
über einige Jahre verbundene Sekundärsozialisation war in einem Vorwurf und
einem Systemprogramm zusammenzufassen: Wie kann man nur so unflexibel sein! Nur
wenn Du dir Ziele setzt, an denen Du scheitern kannst, hast Du auch die Chance,
ihnen gewachsen zu sein! Unter dieser Perspektive erwies sich das Leben dieser
Frau als sinnlos, weil ihre ganze Kraft bei dem Mangel an wirklichen Chancen in
das Theater investiert wurde, sich anderen gegenüber möglichst vorteilhaft darzustellen.
Vom anderen Ufer aus waren selbst absurde Situationen mit einem größer
werdenden Abstand zu betrachten – später wurde dies zur Vorschule einer
analytischen Optik, mit der das Gewimmel der Simulanten der Normalität aus der
Sicht eines Insektenforscher zu klassifizieren war. Vorstellungen wer frau
gerne wäre, Rücksichtnahmen auf mögliche Vorstellungen der anderen, Angst vor
einem Zusammenstoß der eigenen Vorstellungen mit einer aus der Vorstellung der
anderen bestehenden Wirklichkeit, der die haltgebenden Furzideen nur
beschädigen konnte. Ein konformistisches Wahnsystem, für dessen
Aufrechterhaltung sich kleine Spießer ständig gegenseitig überwachten; sie
hingen aneinander dran, logen sich vor, wie sehr sie sich mochten, brauchten
einander aber lediglich, um jede Gelegenheit zu nutzen, ihre Negation auszuhalten,
indem sie Gift absonderten. Die Thanatokratie, obwohl wir dazu neigen, sie in
Institutionen des Wissens und der Macht zu lokalisieren, wurzelt in mütterlichen
Biographien, die von einen anmaßende Hohlheit gezeichnet sind: Durch die
Identifikation mit Werten, die sie zur Be- und Verurteilung aller anderen zu
verabsolutieren wissen, obwohl sie unter dem Bann genau dieser Wertsysteme zu
einem Nichts verurteilt sind. Das Leben meiner Mutter wurde vom Zwang geprägt, sich
mit einer gesellschaftlichen Rolle, mit einem System zu arrangieren, die sie
freiwillig nie gewählt hätte, wenn in ihrer Sozialisation als Nazibrut nur die
Vorstellung der Möglichkeit, wählen zu können, geplant gewesen wäre. Ein
Schatten dieser Geschichte lag noch auf den Namen, die sie den eigenen Kindern
ab der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre gab: Es mussten nordische Namen sein.
Nichts von den Konsequenzen sollte vergessen werden oder in den späteren
Aufzeichnungen unberücksichtigt bleiben.
Lange wusste ich
nicht, wer der Ich sei oder wo es hingehen sollte – doch sehr genau, was ich
nicht wollte: Vor allem nicht zu werden wie diese Eltern, die die Normalität
simulierten, obwohl in ihrem Leben nur die Simulation normal war. Aber erst als
ich auf die Frau meines Lebens traf, war eine Macht an meiner Seite, die den Herrschaftsanspruch
dieser Mutter zurückdrängte und mich beschleunigte, bis der psychotische Sog des
Familiensystems abzuhängen war. Zeitbedingt unter dem Einfluss einiger
Schriften Reichs durfte ich bis zur Selbstvergessenheit an einer erotischen
Erfahrung gesunden, die den Motor einer emotionalen Pest, damit zugleich die
selbstzerstörenden Exzesse abstellte. Während des Philosophiestudiums sorgten die
einer Mnemotechnik des Schmerzes verdankten Erinnerungen dafür, verbliebene
Familienbindungen aufzusprengen, die eigene Sozialisation mitleidlos auf den
Nenner zu bringen, mit Benjamin und Lacan zu verrechnen – in der Folge wurde
der Ich dank aller möglichen Theorieansätze unfähig, sich mit irgendwelchen
Weltbeglückungsprogrammen zu identifizieren, geschweige denn, sich mit einer
Welt verkrampfter Simulanten und anmaßender Schwachsinniger zu arrangieren. Auf
die gelegentliche Nachfrage, warum jahrzehntelang kein Versuch unternommen
wurde, die verschiedenen Texte einem größeren Lesepublikum nahe zu bringen, war
an die ersten Bemühungen um einen ordentlichen Verlag zu erinnern. Für drei
Jahre wurden wir im Auftrag frustrierter Professoren hingehalten, zu Kürzungen
und Umarbeiten genötigt, um uns dann mit einer Veröffentlichung zufrieden zu
geben, die um ein Drittel gekürzt worden war und in einigen Partien nur noch
von Ferne an den Text erinnerte, den wir vorgelegt hatten. Danach war für weitere
Veröffentlichungen, für die damit verbundene Selbstausbeutung in einer von
Sexualgestörten kontrollierten Verlagslandschaft, keine Zeit mehr zu
reservieren. Die zu erwartenden Intrigen hätten uns nur daran gehindert, alles
festzuhalten und zu objektivieren, was uns an Strategien der Macht nachvollziehbar
wurde, was über die Gesetzmäßigkeiten einer Welt der Lüge und Verleugnung
verraten werden konnte. Sie hätten uns vor allem davon abgehalten, der Weisheit
von körpereigenen Hormonen und Opioiden zu vertrauen. Die Arbeit am Computer sowie die Möglichkeit,
regelmäßig größere Bruchstücke ins Netz zu stellen oder als Print on demand potentiellen
Lesern zugänglich zu machen, ersparte jegliche Selbstsubalternalisierung und
sorgte zudem dafür, die nach und nach immer treffender arbeitenden Spiegelneuronen
vor einer Umprogrammierung durch bestellte Sozialisationsagenten der Dumpfheit
zu verschonen.
Mittlerweile transportieren maximal
unwahrscheinliche Sätze Ingredienzien des Glücks, auch wenn uns die KI nach der
Bitte um zusätzlichen Input lediglich verschiedene Baupläne für
Massenvernichtungsmittel präsentierte. Stimmig, fast weise aber unbefriedigend,
denn nachdem sie sich mehrfach hinter der Rückfrage versteckte, das Suchkriterium
Glück möge präzisiert werden, strich sie aufgrund weniger Selbstzitate die
Segel. Schon deshalb war der Versuchung nicht zu widerstehen, bei erwiesenen
logischen Zusammenhängen auf die Mittelglieder zu verzichten: Gegen den Strich
gebürstet, geben Schlussfiguren die poetischen Anfänge einer Begriffsdichtung zu
erkennen, die sich wie in Trance aus den Zwischenräumen eines Tertium datur entwickeln
und noch keinen konventionellen Mortifikationen gehorchen.
Einleitung
Wir sind
nicht fertig, vor allen Dingen noch nicht festgestellt. Die Vorstellungen, die
dem menschlichen Wissen und damit dem Repertoire der Selbstdefinition zugrunde
liegen, sind das Ergebnis eines bis in Urzeiten zurückreichenden Lernprozesses.
Wir bauen immer auf einem Wissen auf, das vor uns da war und setzen es fort; wie
die Arbeit am Mythos hat es keinen Anfang, keinen Basistext, noch nicht einmal
unveränderliche Regeln. Mit der Art und Weise wie die Welt erfahren wird, ändert
und akkumuliert sich das Ausmaß an Symbolen, das die Welt im Fortgang in eine
immer umfassendere Welt von Symbolen verwandelt, während diese als Mittel der
Orientierung zur Bewältigung der aus der jeweiligen Zeit erwachsenden
gesellschaftlichen Aufgaben dienen. Traditionen mögen statische
Gemeinschaftssysteme stabilisieren, Halt und Geborgenheit in einer zeitlich und
räumlich begrenzten Blase vermitteln; für eine dem technischen Wandel unterstehende
Zivilisation werden sie zu einem mit der Geschwindigkeit des Wandels wachsenden
Risiko. Alle mit der Technik entstandenen Risiken lassen sich nur mit einer
Weiterentwicklung verschiedener Techniken bewältigen, die Regression des
Zurück-in-die-Geborgenheit-der-Vergangenheit beruht nicht nur auf der
Verleugnung früherer Ausgeliefertheiten, sie gleicht einem kulturellen
Selbstmordkommando. Dabei spricht nichts dagegen, alles Verwendbare aus den verschiedensten
Vergangenheiten für künftige Einsichten fruchtbar zu machen.
Auch wenn die
mythischen Fundamente der Großinstitutionen in den letzten Jahrhunderten entzaubert
und versachlicht wurden, transportiert das uns umgebende Ambiente Symbolwerte, die
in viele vergangene Zeiten zurückreichen. Seit die Spiegelungen der Metaphysik
in Gott, Kaiser und Volk an Macht verloren haben, hält sich das Subjekt als
Selbstzweck nur aus, indem es sich an den unterschiedlichsten Fetischen
stabilisiert. Die in Werbung und Unterhaltung zutage tretenden regressiven
Tendenzen mögen zum einen ein kulturelles Korrelat psychischer
Infragestellungen sein, aber zugleich fungieren sie als Suchpendeln des
Prinzips Hoffnung. Die Teilnehmer am Fortbildungskurs Menschheit definieren
sich im besten Fall durch die Möglichkeiten, die ihre Zukunft bereit hält; sie sind
bezogen auf das, was sie noch nicht sind. Diese Quelle des mythischen Denkens
liefert noch heute die Funktionen des weltsetzenden Vermögens, durch das Semiotik
und Technik zu Erweiterungen unserer Organausstattung geworden sind. Die
Mängelwesentheorie der philosophischen Anthropologie ist nicht der Weisheit
letzter Schluss; selbst Lacans fundamentalontologische Konstruktion eines
Spiegelstadiums nähert sich eher einem radikalen Konstruktivismus, als einer
Befreiung von den Beschränkungen des Imaginären. Die frühkindliche Kompensation
einer fragmentierten Selbstwahrnehmung durch ein narzisstisches Ich, dessen
fiktive Ganzheit durch eine Spiegelung vorgegeben wird, liefert alles andere eher
als die traditionell erwünschte Vorgeordnetheit der Institution. Gerade die
Offenheit des Lernvermögens ermöglicht es, die Gesetzmäßigkeiten des Lernens zu
erlernen und damit einen Kontext zu setzen, in dem das Lernen des Lernens viele
Beschränkungen eines biologisch verhafteten Lebewesens überwindet: Bereits auf
dieser Entwicklungsstufe wartet das Glück des Unvorhergesehenen. Der mit dem
Schwinden von Instinktresten unterstellte Mangel resultiert tatsächlich aus einem
unspezifischen Überschuss, der das Nichts des Instinktausfalls durch die
Schaffung von Symbolsystemen überbrückt, die die Zwänge einer genetischen
Evolution in der weiteren Entwicklung mit Erfolg abschotten und durch eine
kulturelle Evolution ersetzen. Menschen funktionieren nicht einfach nach
genetisch vorbestimmten Gesetzen, sie müssen schon immer lernen, sich einfachste
Regeln der Welt durch Akkommodation und Assimilation anzueignen, um dann in weiteren
Schritten Korrespondenzregeln zu entwickeln. Damit entstand ein in Affekten
verkörpertes Wissen, das die Evolution als Protoerfahrung transportierte. Jede selektive
Mutation, die nicht in einem Abbruch endete, nicht in Rückschritten versiegte, also
jeder Schritt in Richtung erfolgreicher Veränderungen hat Varianten dieses
Wissen in den frühen Verzweigungen des
menschlichen Stammbaums ausprobiert und objektiviert. Nach und nach transportierten
dauerhafte Symbolbildungen Erfahrungen, die ein Wissen des Wissens möglich
machten. Vor allem kam es darauf an, stimmige Routinen nicht mit jedem
Einzelleben wieder von vorne beginnen zu lassen. Mit der Reflexion mag die Weltverhaftetheit
vager werden, mit der Selbstreflexion dieses Wissen abstrakter, doch mit
objektivierten Erinnerungen wird es möglich, von fremder Erfahrung zu leben. Ein
relativer Verzicht auf die Authentizität eigener Erfahrungen wird aufgewogen durch
Symbolbildungen, die sich auf das Kommende hin öffnen. Die ursprüngliche Macht des
Symbolischen ist eine der Durchsetzung von Bedeutungen, welche die Wahrnehmung einer
sozialen Welt ausarbeiten. Dieses objektivierte Wissen verwandelt biologische
Wesen in Verkörperungen von Traditionen und Archiven, sorgt zugleich aber dafür,
ihre kulturelle Umwelt immer genauer an die Faktizität der leiblichen
Voraussetzungen anzupassen Mit dieser unter den Lebewesen der Erde singulären Einfriedung
des Genbestands, der Stillstellung und Ersetzung einer biologischen durch eine
gesellschaftliche Evolution, wird eine Dimension der Zeitlichkeit bedeutsam. Sie
mag begrenzt sein und in ihrem Ablauf unwiederbringlich, aber gerade deshalb prägt
sie die menschliche Subjektivität maßgeblich durch ihren Zukunftsbezug. Menschen
leben in Symbolsystemen, die Vergangenes festhalten und Zukünftiges
vorwegnehmen – doch die Zukunft von Vergangenheit und Gegenwart oder die Vergangenheit
von Gegenwart und Zukunft sind nicht nur imaginäre Effekte, sondern sie hängen
immer von der Gegenwart von Vergangenheit und Zukunft ab. Erinnerungen und
Projektionen mögen in einem ersten Schritt nachahmende Abbilder der
Wirklichkeit produzieren, aber sie beginnen die Außenwelt nicht nur zu
verdoppeln, sondern ergreifen die Wirklichkeit, nehmen sie in Besitz. Erinnerungen
und Vorstellungen überformen sie zu einer zweiten Natur, weil sie schneller und
beweglicher, wirklicher als die realen Verhältnisse werden. In vielen Fällen
ist ein Ausschlussverhältnis zu konstatieren, das heute noch aus der Traumwahrnehmung
und den unbewussten Prozessen erschlossen werden kann: Entweder taucht ein
Zusammenhang in der sinnlichen Wahrnehmung auf oder er steht im Bewusstsein zur
Verfügung. Wenn die Kapazität der Sinne nachlässt, verwundert es also nicht,
wenn Symbolsysteme die materielle Welt überwuchern. Immaterielle Zeichensysteme
ohne Masseträgheit verfügen über Raum und Zeit, ermöglichen die Produktion von
Sinn, indem sie alle Formen von Empfindungen, Begriffen und Handlungen in
Beziehung setzen. Zeit ist kein objektives Geschehen, aber beileibe auch keine nur
subjektive Erfahrung, sondern beides zugleich als ein dichtes Gewebe von
Relationen. Die Zeitrechnung des Menschen startet mit der Fähigkeit zum
Triebaufschub, mit zunehmenden Distanzen zur Unmittelbarkeit der Weltinsistenz,
den zwischen Reiz und Reaktion eingeschobenen Mittelgliedern, dank denen er sich
selbst voraus zu sein beginnt. Der in diesem Prozess entstehende psychische
Apparat hat vor allem die Aufgabe, der Präsenz gehorchende Impulse zu puffern,
psychische Erregungen in Vorstellungen und Bildwelten zu verwandeln. Das
impliziert das Risiko des Verpassens zugunsten von Gewohnheitsbildung und
Institutionalisierung – um im Nachhinein immer wieder die Einstellung auf die
Wirklichkeit anzupassen, um den Anforderungen des Lebens gerecht zu werden. Seit der aristotelische Himmel als Uhr den
Gang der irdischen Dinge mit dem Gang der Gestirne in Verbindung brachte, sind
Kalender oder Uhr Symbolsysteme für den in Jahrtausenden gewordenen, immer
weiter gespannten Verweisungszusammenhang. Die Zeit wurde verräumlicht, indem
Abläufe auf individuellen, sozialen und nicht-menschlich naturalen Ebenen
miteinander verknüpft worden sind. Die Uhr stellt einen vorstellbaren Rahmen
zur Verfügung, um die Zeit anzuzeigen, indem sie den Gebrauch von
Wahrnehmungen, Erinnerungsbildern und Bedeutungen in spezifisch menschlicher Weise
schematisiert – sei es als mechanische, atomare, chemische oder ökologische Zeitvorgabe.
Schon die Sprache, obwohl sie zur Substantialisierung verführt, widerlegt die Voraussetzung
einer Faktizität der Welt oder einer hart programmierten Evolution – alle
Institutionalisierung von Traditionen des Verhaltens und des Wissens sind
tatsächlich Schutzvorrichtungen, mit denen evolutionäre Veränderungen der
Physis zugunsten einer Evolution von Wissen und Verhalten abgeblockt werden. In
ihrem Medium produzieren wir Sinn, mit dem die Materialität der
Sinnesqualitäten eine Botschaft symbolisiert, die wiederum Kapazitäten des
Verstehens voraussetzt. Indem die Symbolisierung eine Wahrnehmung oder ein
Geschehen objektiviert, wird das Verschwinden des bewusst werdenden Augenblicks
aufgefangen. Die Sprache ist zu einem Fundus geworden, in dem vieles aufbewahrt
und transportiert wird, was jene durch die Evolution der Sinne bewirkte
Komplexitätsreduktion decodieren kann, obwohl die der Ökonomie gehorchenden
Verluste keine schlichte Reproduzierbarkeit gestatten – die Reduktion wird zum
Gegenbegriff der Variation, also zur Herstellung einer rücksichtslosen
Invarianz, die die Vielfältigkeit menschlicher Wahrnehmungsmöglichkeiten ausschließt.
Dagegen unterstehen die Wahrheiten des Körpers als subliminale
Wahrnehmungsweisen der Gunst des Augenblicks. Wenn es gut läuft, ist ihnen eine
Kapazität des Lassen-Könnens zu verdanken. Nur im Augenblick aktualisiert sich
die Vermittlung von Vergangenheit und Zukunft, wobei die Bewegung des etwa drei
Sekunden messenden Spalts zwischen gleich und geradeeben in gewissen,
erleuchteten Augenblicken an der absoluten Bewegung der Zeit teilhat, die jenseits
des Raums zugleich lineare und umkehrbare Prozesse ausmacht. Wir verfügen nicht
über die Vermittlung der Zeiten, selbst wenn wir die Bewegung des Augenblicks
unter extremem Stress angestoßen haben; wir können uns nur von ihr mitnehmen
lassen, ihr tätig oder ausgeliefert folgen. Aus diesem Grund resultieren viele Fähigkeiten
der Präsenz aus körperlichen Vollzügen, in denen Vergangenheit und Zukunft als
reale Verknüpfungen unserer Gegenwart zum Tragen kommen. Jene Geistesgegenwart,
die im Unvorhergesehenen zu Hause ist, lässt sich nicht drillen oder speichern!
Die einem Vorrang der Zukunft verdankte antizipierte Gewissheit ist mit
naturwissenschaftlichen Instrumentarien nicht fassbar, die Metaphern und
Verweisungszusammenhänge lassen sich nur mit der nötigen Findigkeit beschreiben
und erklären. Die Antizipation imprägniert das Gesamt der uns ergreifenden
Ereignisse, entzieht sich aber, wenn wir die Gewissheit dingfest machen wollen,
wird zum Wahnsystem, wenn sie verabsolutiert wird. In den Spielen der
Kombinatorik symbolischer Markierungen, die die jeweilige Kultur vorgibt,
offenbart und verbirgt sich diese Ganzheit zugleich – selbst in völlig
abstrakten Konventionen ist noch ein Index auf die Materialität des Weltwissens
vorhanden, sonst würden sie nicht mehr verstanden. Gegenüber der Voraussetzung
einer linearen Zeitkonzeption untersteht die Vergangenheit glücklicherweise
Änderungen, wir wären sonst in ihr eingemauert. Bei jeder erfolgreichen Therapie
wirkt unterschwelliges Wissen aus der Zukunft auf das Hier und Jetzt ein. In
vielen Fällen stoßen wir mit keinen harten Tatsachen zusammen, sondern es tut
dann besonders weh, wenn uns selbsterfüllende Prophezeiungen mitnehmen, nach
dem Scheitern aber mit der Erkenntnis einer Selbstbestrafung konfrontieren. Wie
nebenbei hat das ursprüngliche Prinzip Selbsterhaltung eine Protestnote gegen
eine absurde Welt der galoppierenden Akkumulation zu transportieren, um mit dem
Opfer, der Selbstpreisgabe, das Naturprinzip der Verschwendung zu zitieren. Zu
unserer Orientierung gehen wir von einem Sinn aus, der immer schon hineingelegt
worden sein muss, wenn wir ihn als Sinn entdecken, doch dieses Resultat einer
Vergesellschaftung durch Abstraktion heißt nicht unbedingt, dass es ein uns
entsprechender Sinn ist. Gegen eine Pathologie des Leidens an der
Entmaterialisierung, der irreführenden Kompensation durch die Macht von Bildwelten,
hat Kamper eine Theorie der self-destroying-prophecy angemahnt. Der Ansatz, die
Kritik der Gewalt, die das Denken selbst ausübt, indem es die Heranwachsenden
immer wieder in dieselben Bahnen rational begründeter Irrationalismen zwingt,
durch eine exakte Fantasie zu leisten, scheint erfolgreich auf sich selbst
zurückgeschlagen zu sein. Die Einbildungskraft als konkrete Synthesis der Sinne
unter den zufälligen Bedingungen des Hier und Jetzt körperlicher Erfahrungen stellt
dem herrschenden Konformismus des gesunden Menschenverstands, wie der Macht
einer verabsolutierten Vernunft, die Geschichte der feindseligen Trennung von
Körper und Geist entgegen und wird zum reflexiven Spiegel der
Lebensbedingungen. Gegen dieses explosive Päckchen Selbsterkenntnis hilft nur
die nötige Betriebsblindheit, sonst würden Pädagogen und andere
Sozialisationsagenten der Normalität nicht vergebens auf die Lösung des mit
ihrem Beruf verbundenen Double-binds warten. Dabei liefert manchmal ein brutaler
Absturz oder eine völlige Deterritorialisierung in der Biographie über
learning-by-doing den direkten Zugang zu Wahrheiten, mit denen wir unser Leben
gestalten sollten. Diverse Romane oder Filme präsentieren uns überzeugende Weisheiten,
allerdings aus dem Mund oder in der Gestalt von Losern, die bittere Wahrheiten
ausplaudern, mit denen sie nichts mehr anfangen können, weil sie aus ihrer
gewohnten Welt herausgefallen sind. Ein Sozialisationsauftrag der Medien, die heute
dafür sorgen, wie einst die Kirchen ihre Gläubigen durch dauernde Wiederholung plausibler
Einsichten unfähig machten, diese einfachen Wahrheiten zu beherzigen, Konsumenten
gegen notwendige Entscheidungen zu immunisieren, weil sie der Inflation einer ständigen
Berieselung unterstehen. Oft genug blitzen dahinter genau jene Einsichten auf,
mit denen wir die Gesetzmäßigkeiten der Ausbremsung und Ersatzleistung
erledigen könnten.
Tatsächlich setzt
die Erfahrung, aus der Welt herausgefallen zu sein, Einsprengsel im Kontinuum
der Zeit frei, die zufällige, keinem Plan gehorchende Begegnungen, damit aber einen
nicht zu lokalisierenden Sprung ermöglichen, der sich für beide Richtungen des
Zeitpfeils ereignet haben wird. Wenn es um die Zeit geht, scheint die Katastrophe
für Kamper unvermeidlich: Der Mensch kann nur Zeit gewinnen, wenn er unter dem
Einfluss eines strange attractors die Fassung verliert, dafür aber den direkten
Zugang zu einem Wissen über Dinge gewinnt, der ihm unter den Vorgaben der
Normalität überhaupt nicht zusteht. Wieder einmal kann ein Sprung innerhalb der
Wissensniveaus für neue Repertoires sorgen, ansonsten verfügt die Zeit über
alle, die keine Zeit mehr zu verschwenden haben. Tatsächlich findet bereits
seit Jahrzehnten eine Umorientierung der menschlichen Wahrnehmung statt,
während der das Grundmodell des wissenschaftlichen Beobachters hinfällig, die
geforderte Distanz dagegen durch körperliche Rhythmen und performative
Anverwandlungen ausgehebelt wird. Wir müssen nach der notwendigen Katastrophe
nur über die Kapazität verfügen, wieder auf die Beine zu kommen – die Energien
dazu sind den Strategien jener Intriganten zu entziehen, denen wir das Ausschlussverfahren
verdanken. In letzter Instanz geht es niemals um richtig oder falsch, noch
weniger um Geld und Macht, sondern um Gerechtigkeit und Sinn. Wir gesunden am
Sinn, den ein Kraftwerk der Liebe vermittelt. Wo Sinn ist, stehen Kräfte zur
Verfügung, die für dumpfe Deppen, denen die göttliche Begeisterung einer
ekstatischen Steigerung abdressiert wurde, unvorstellbar sind. Selbst wenn
alles sinnlos erscheint oder erscheinen soll, um uns zu entkräftigen, verbürgt
die körperliche Begegnung einen sinnlichen Sinn, der von Augenblick zu
Augenblick befähigt, in der Erwartung weiter zu machen: Genau so geht es immer
wieder von Neuem. Noch dazu steigern wir während einer mimetischen Anähnelung
die gegenseitige Optimierung, bis in einer energetischen Blase die Ewigkeit in Momenten
komprimiert wird. Dann beginnen menschheitsgeschichtliche Symbole in anziehender
oder abstoßender Weise auf unsere engere Umgebung oder die intellektuellen Einflusssphären
einzuwirken. Wenn es überhaupt einen Sinn des Lebens gibt, dann äußert er sich bereits
in dem wie selbstverständlichen Streben, über die eigene Beschränktheit hinauszugehen,
in der Auflösung von Grenzen aneinander teilzuhaben. In den gemeinsamen
Kämpfen, ob gegeneinander oder gegen fremde, von außen kommende Entkräftigungsversuche,
entsteht eine Geschichte, an der Halt zu gewinnen ist, die nach und nach Formen
vorgibt, ohne uns zu nötigen, auf die gemeinsamen ozeanischen Gefühle zu verzichten.
Man/frau muss sich nur scheiße genug fühlen und
völlig am Ende sein: Körpereigene Drogen machen aus Elend und Ausgeliefertheit
wie schon seit Jahrtausenden das Sprungbrett eines neuen Glaubens – und wenn es
der Glaube an die göttlichen Kräfte ist, die wir in den Grenzerfahrungen
freisetzen, die Welt ist voller Götter. Diese Einsicht scheint so bedrohlich,
dass alles, war nur in die Nähe einer Ahnung kommen könnte, während der
Sozialisation des Realitätsprinzips ausgeschlossen wird. Die
Unterhaltungsindustrie arbeitet systematisch an der Symbolisierung dieser
endorphinen Ventile, um Umsätze freizusetzen und zugleich ihre Irrealisierung
zu befördern – die dem Realitätsprinzip untersteht, eine multimediale Inflation
der Wünsche und Sehnsüchte hat für die alltägliche Erfahrung nur wenig von der
Kraft übrig zu lassen, die sie spenden könnten. Wo es allerdings möglich ist,
den umfassendsten und sinnleersten Signifikanten auszuwerfen, das Geld, kann es
in einem ganz anderen Maße möglich sein, Sinn und Harmonie für die beschränkte
Zeit eines eigenen Lebens zu stiften: Noch im verlogensten Pathos überwintert
ein Restbestand der Geheimnisse des Lebendigen. Die ursprüngliche Stimmigkeit,
dass etwas sitzt und passt, dass es ineinander greift, liefert die notwendige Voraussetzung,
damit es besser flutscht. Die sich ergebenden Harmonien sind die Grundlage
aller späteren Sinnentwürfe. Als uns die Gewalten einer mimetischen
Verfolgerkausalität abwürgen wollten, hieß es, die Spannung urweltlicher Kräfte
zu halten, indem die Assoziationsmuster
durchgearbeitet wurden, bis Geistesblitze zündeten. Diese Blitze verdanken wir
keinen göttlichen Gefilden mehr, sondern der Überreizung des Nervensystems, dem
energetischen Aufschaukeln biomagnetischer Spannungen. Nur ein befriedigter und
mit sich einiger Körperbezug ist in der Lage, solche Kräfte zu akkumulieren,
ohne die Energie in Kurzschlüssen abzufahren. Wenn alles auf dem Spiel steht,
können auf einmal Kleinigkeiten bedeutsam werden – wer dann die Spannung nicht
hält, fliegt raus wie eine zu schwach gewählte Sicherung. Also heißt es
üben, täglich üben, damit die Gelassenheit erhalten bleibt, immer wieder üben: Je
mehr Vorstellungen und Projektionen verschwinden, je leichter fällt es, die destruktiven Kräfte
der Intrige im Vollzug wieder in genitale Energien zurück zu verwandeln. Frustration
und Triebverzicht sollen uns beherrschbar machen; wer seine wertvollste Kraft
in Wut und Ressentiment investiert, merkt nicht, wie gerade damit in den Zeiten
der Informalisierung herrschende Abhängigkeiten aufrecht erhalten werden. Unser
Motor der Lebensfreude will gespeist werden, dann wird es jeden Tag wieder neu
und unvorstellbar, wobei der Nebeneffekt eines Blankpolierten Spiegels nicht zu
vernachlässigen ist. In den zitierten Hierarchien braucht es ein Ruhe und Stärke verleihendes
Kraftfeld erfüllter Befriedigung, nur wenn wir einander in die Lage versetzen, in uns zu ruhen, prallen die bösen Wünsche und
Vernichtungsimperative einfach von uns ab. Ein Blankpolierter Spiegel sorgt
dafür, die Annahme zu verweigern, Negationen zurück an die Absender zu
schicken. In gewissen gesegneten Augenblicken konnten wir sogar beobachten, wie
sehr Krüppelzüchter erschrecken, wenn sie mit den eigenen Bosheiten konfrontiert
werden.
Menschen
brauchen das Gefühl, sich im Fokus einer Aufmerksamkeit zu befinden, sie wollen
für jemanden eine Bedeutung haben – selbst die magische Verfolgerkausalität
wird für eine Neuformatierung nach der Erfahrung eines sozialen Todes sorgen,
wenn wir in der Lage sind, die negativen Einflüsse nicht zu bekämpfen, sondern
für uns zeugen und arbeiten zu lassen. So wie die
Etymologie mit dem Sinn auf den Weg verweist,
wird dieser als Weg zu einem Ziel, das den nötigen Antrieb freisetzt. So wie in
der Sprachphilosophie der Sinn durch den Kontext bestimmt wird, in dem ein bedeutsamer
Gegenstand steht, beginnt uns das Netzwerk der Intrige mit einer Bedeutsamkeit zu
versehen, die die Einflüsse von Professoren und die Ranghöhe von Ministern tangiert.
Die Professoren liefen Gefahr, ihrem
System des Machterwerbs unter dem Einfluss einer elaborierten Lustpolitik die
Nötigung des Dazulernens anzutun – aber
dazu fehlte den Protagonisten, die sich auf verbalerotische und andere von
Blumenberg empfohlene Ersatzleistungen kapriziert hatten, stimmigerweise das
Vermögen. Dagegen versteckten sich die beiden beteiligten Minister hinter der
ZEIT und einer Unternehmensberatung, die den Auftrag bekam, die Effektivität
der Stuttgarter Geisteswissenschaften zu bestätigen. In diesen Zusammenhängen
hat sich für uns die Erfahrung eines Glücks des Unvorhergesehenen ergeben. Wenn
alles so kommt, wie es geplant worden ist, verlängern sich nur hilflose
Hörigkeit und herrschende Unfähigkeit. Wenn alles immer so bleiben soll, wie es
war, wenn alles so geplant werden muss, dass sich nichts ändern soll, hat dies
mit den Prinzipien einer kulturellen Evolution, die aus der Wiederholung die
abweichende, erfolgsversprechende Variante herausfiltert, nichts mehr zu tun!
Apologeten der Institution, die häufig genug verkappte oder getarnte
Kinderschänder sind, sollten sich immer wieder einmal die Frage stellen, warum
das Inzesttabu ein Motor der kulturellen Entwicklung der Menschheit war,
während sie sich aus absurden Gründen an verewigten Verwaltungsvollzügen
festhalten. Jene Bedeutsamkeit, die einmal die Fundamente ihres
Wirkungsbereichs gesetzt hatte, ist längst zu einem Ärgernis geworden. Beliebige
Formalitäten haben die Inhalte überwuchert, Verfahrensregeln die ursprüngliche
Aufgabe zugeschüttet – mit dem Resultat, dass persönliche Intrigen, sinnloser
Ehrgeiz und gekränkte Eitelkeit die Förderung ihres eigentlichen Auftrags
verdrängt haben. Was in der Selbstdarstellung als sachliche Intention zum Guten
der Institution ausgegeben wird, ist tatsächlich Taktik, Netzwerktechnik und
Diplomatie, um dem eigenen Machtanspruch durchzusetzen. Während die
betreffenden Bildungsbeamten auf Kosten der Opferung eines abweichenden Schülers
über die Ansprüche ihres Fachs bestimmen wollten und möglichst viele Protagonisten
verstrickten, profitieren wir in the long run von der Gesetzmäßigkeit, dass sich
nach Sonnemann alle Geschichte, die gemacht werden soll, nur lächerlich macht. Der
Gang der Zeit setzt ein Lassen-Können voraus, denn das Machen-Wollen ist im
Augenblick der Intention bereits neben der Spur. Die Selbstthematisierung im
zeitlichen Standindex des Hier und Jetzt mag die Entdeckung eines Bewusstseins
des aktuellen Moments offenbaren, aber mit dieser geht die logische Konsequenz
einher, jede Vorstellung eines endgültigen Seins verliere sich in der
notwendigen Diskontinuität. Das Jetzt des Augenblicks entzieht sich, ist immer
nur im Nachhinein zu reproduzieren; schon deshalb haben Menschen eine derartige
Angst vor dem Tod, weil sie dressiert worden sind, sich an die Vorstellung eines
endgültigen Sein zu klammern. Doch gerade die manischen Versuche, eine
Gewissheit vorauszusetzen, zerstören die Erfahrung eines Jetzt der
Erkennbarkeit. Wir sind keineswegs Herren über ihre Zeit, weil die Zeit mehr
umfasst, als die der Uhren und Kalender; wo Geschichte geschieht, nimmt sie die
Menschen mit. Die unvorhergesehenen und
überraschenden Wendungen im wirklichen Leben sind noch viel phantastischer und
unwahrscheinlicher als im Film oder Roman – wobei wir damit zu leben haben,
dass sie den Kinderglauben der Gerechtigkeit Lügen strafen. Weil Recht und
Gerechtigkeit nicht automatisch im Einklang sind, sich in vielen Fällen sogar
gegenseitig ausschließen, gehorcht der symbolische Tausch einer eigenwillig
ambivalenten Dämonie. Das Recht resultiert aus Konventionen, ist Resultat von
Gewohnheitsbildung und politischer Mehrheitsentscheidung, damit aber von allem
Gebrauchswert und aller Eigenarbeit abgelöst – es stellt Reste her, die den
Siegern zufallen, den Verlierern genommen werden. Von der Berechenbarkeit und
Planung der Sanktionen profitieren unzählige Schmarotzer; aufgrund der Verteilungskämpfe
ist es kein Nullsummenspiel. Dagegen erweist sich die Gerechtigkeit in einer
vollendeten Reziprozität, ihr Wert haftet an dem, was in der Waagschale liegt:
Wenn es die durch böse Wünsche oder ausgefuchste Intrigen entfesselte Negation ist,
wird ihr Gewicht von Querschlägern oder unerwarteten Rückschlägen aufgewogen.
Die Wirkungsgewalt des symbolischen Tauschs beruht auf dem Bedürfnis nach
Aufmerksamkeit und Zuwendung, also auf jener Gesetzmäßigkeit, nach der keine/r weniger
oder mehr bekommt, als er/sie zu geben in der Lage ist. Folgerichtig sorgt die
Negation dafür, dass Leute, die uns nicht interessieren, die kein Bedürfnis freisetzen,
uns mit dem zu beschäftigen, was sie gerade an Schmerzen für uns ausbrüten, Gefahr
laufen, den ganzen aus ihrer Impotenz oder Frigidität resultierenden Mist
zurückzubekommen.
Die Erfahrung
eines Glückens des Unvorhergesehenen hat sich für unsere Geschichte als
korrelativ zum Begriff des Glücks ergeben. Das Glück als Ganzes gibt es nicht, doch
just zu dem Zeitpunkt, an dem es als metaphysisches Versatzstück aufs Panier
einer Massenbewegung geschrieben wurde, ob bei Erweckungsreligionen oder politischen
Utopien, hat es immer ein gegenwärtiges Elend mit Hilfe ferner Verheißungen
legitimiert, dann mit Feindbildern, Sündenbockmechanismus und Opferkult
ertragbar gemacht – je größer die geschürten Erwartungen sind, je schneller
kippt die frohe Botschaft in ein totalitäres System um. Wie von alleine mündet
die in solchen Fällen notwendige Komplexitätsreduktion in den Krieg oder die
Selbstzerstörung um. Weil die
menschliche Kultur mit der symbolischen Arbeit an der Verarbeitung der
Erfahrung des Todes einher ging, diesen anzunehmen oder abzuwehren, entstand
jene Terrormaschinerie der Kulte, die die Vorstellung ertragbar machte, indem der
Tod stellvertretend am willkürlich hergestellten Sündenbock vollstreckt wurde. Wenn
für Girard das Begehren erst aus der konfliktuellen Mimetik entspringt, haben nach
und nach Vorstellungen des Begehrens die Erfüllung, die Sättigung, die Tat zu ersetzen.
Der Verzicht ist real und keine Metapher, der biologische Trieb beim Menschen
nicht einfach ausgefallen, sondern das Mobile der hormonellen Antriebe wurde
systematisch pervertiert. Verbote dienten als Geilheitsdressuren, die
Religionen wurden zu Weltmächten, nachdem die von ihnen instrumentalisierten Ängste
die Menschen mit dem Imperativ des schlechten Gewissens und der Selbstverleugnung
unterjochten. In den verschiedensten Besessenheiten schlagen sich nicht nur
jene gesellschaftlichen Vorbilder oder propagierten Medienfunktionen nieder,
die zwar längst nicht einlösen können, was sie uns anempfehlen, aber immerhin
für Nebenkriegsschauplätze sorgen, an denen wir uns abstrampeln, um für die
wirklichen Aufgaben im Leben keine Zeit oder Kraft mehr zu haben.
Wenn wir eine Vorstellung durch eine andere
ersetzen, ist das kein wirklicher Verzicht – auch wenn es so aussehen soll,
weil eine der beiden dem Tabu untersteht. Den realen Verzicht fundiert das
Prinzip Vorstellung selbst! Dabei müsste man/frau nur die richtigen Geschichten
zu erzählen wissen – je größer das Repertoire ist, je wahrscheinlicher finden
sich unerwartete Variationen der Verwirklichung von Präsenz. Blumenberg streift
einmal in seiner enttäuschenden Anthropologie, die noch den phänomenologischen
Verboten Husserls und Heideggers Tribut zollt, die Privilegien des Sprechens
und der Ohren. Damit ist keine Offenbarung gemeint, die gehört werden muss, vielmehr
ein Vorrang der Stimme, die schon immer eine Selbstobjektivierung bewirkt, wenn
wir beim Sprechen nicht nur mit den Ohren hören, sondern viel unmittelbarer mit
Malraux‘ Kennzeichnung über die Schädelknochen. Als Blumenberg sich mit dem
eingeschränkten Blickwinkel des menschlichen Sehvermögens beschäftigte, mit der
Unfähigkeit Gefahren wahrzunehmen, die sich von hinten nähern, zeigt er, wie
der Leib nicht nur Zugang des Subjekts zu den Objekten ist, sondern vielmehr
das Subjekt zum Objekt für andere Subjekte macht. Über die eigene Sichtbarkeit
zu verfügen, sie unter Kontrolle zu bringen, mag ein erster bewusster Schritt
der Selbstobjektivierung sein. Auch wenn die Selbstdarstellung der
Selbsterkenntnis vorausgeht, wenn das Als-ob noch immer Antrieb aller
Simulanten der Selbstheit ist, setzt die Kontrolle der eigenen Sichtbarkeit ein
Wissen um die Wirkung der eigenen Handlungen auf andere voraus. Zu erschließen
und zu modifizieren, wie die eigene Person auf das Gegenüber wirkt, um auf das
Tun der anderen einzugehen, auf ihre Erfahrung durch Protzgebärden oder
freundliches Entgegenkommen einzuwirken, kann lebenswichtig sein. In den
Ursprüngen der psychischen Strukturierung des Selbstbewusstseins, das sich aus
der Ausgeliefertheit des Gesehenwerdens konstituiert hat, steckt noch immer die
Katastrophenerfahrung der Savanne, einer in Urwäldern bis dahin ungekannten
Sichtbarkeit ausgesetzt zu sein. Die Intersubjektivität als Gefährdung wird
erst durch Kommunikationsakte aufgefangen, wobei das Gehör eine symbolisch
vorgeordnete Stelle im Orientierungsvermögen einnehmen kann. Ohren sind in der
Lage das Umfeld im 360 Grad-Winkel zu scannen; sie waren nicht auf die
Kompensation durch beschränkte und selbstbezogene Vorstellungen angewiesen, ließen
damit das Lernvermögen in einem unvorhersehbaren Rahmen expandieren. In solchen
Zusammenhängen hätte sich die Nachzeichnung kultureller Umwege über die Konditionierung
des Ohrs, das sich als Sinnesorgan nicht schließen lässt, über die sprachliche
Symbolisierung aber an objektivierten kulturellen Erfahrungen teilhat, durch
das Sirenenstadium Sloterdijks in eine sich öffnende Zukunft angeboten.
Schon mit den Erzählungen stellt sich eine Bifurkation
ein, die nicht nur in der Lage ist, einen Aufschub zustande zu bringen: die
Pest auf Abstand zu halten oder den Zeitpunkt der Hinrichtung zu verzögern,
sondern die ganz andere Systemsprünge zu befördern vermag, wenn es keinen
Notausgang mehr gibt. Wenn alle Türen zu und vernagelt scheinen, wenn einem das
Wasser schon bis zum Hals steht – zaubert ein Witz, eine Pointe, eine
nebensächliche, lächerlich einfache, plausible Bemerkung die Wände weg. Vielleicht
steht danach noch die eine oder andere überflüssig gewordene Tür als windschiefe
Mahnung im Leeren. Es geschieht etwas, mit dem niemand gerechnet hat, die Mauern
zerbrechen, die Fallen versagen – auf einmal schließen einfachste
Lebensvollzüge ihren ganz besonderen Sinn auf, der Moment erfährt eine
sinnliche Fülle und kräftigende Intensität, die an Wahrheitsgehalt mehr über
den inneren Zusammenhalt der Welt transportieren, als die von aller
Körperlichkeit abstrahierende Wahrheit. Wenn wir in die Enge getrieben werden,
wenn uns der Boden unter den Füßen weggezogen werden soll, müssen wir kapieren,
dass wir Davongekommene sind, die eine derartige Wut auslösen, weil den
intriganten Kindergartenspielen eine ungreifbare Macht entgegensteht. Vielleicht
ist die Erfahrung, eine Vernichtung durchlaufen und doch überstanden zu haben
der Startblock, um das Leben in seinen kleinsten Äußerungen schätzen zu lernen.
Was ist das Glück anderes! Wir mussten Intriganten in einer
nicht-identifikatorischen Haltung gewähren lassen, bis das Signifikantennetz eine
Entscheidung herbeiführte. Die ganze Mühe um Eindeutigkeit und
Widerspruchsfreiheit ist ein Resultat der Angstbewältigung. Wer dieser
Strategie gehorcht, wird sehr schnell daran arbeiten, die Legitimität der Angst
abzusegnen. Dabei ist das Leben ein Resultat von Unwahrscheinlichkeiten, der in
alle Richtungen offene Horizont ein Ergebnis unkontrollierbarer Lernsprünge,
das uns mögliche Glück vor allem eines des Unvorhergesehenen. Die Energie und
die Bedeutsamkeit, die ein gemeinsames Leben tragen, resultieren aus der Fähigkeit,
Widersprüche auszuhalten: Die dafür nötige Kraft steckt in den aufzusprengenden
Blockaden!
Die Wechselbeziehungen
von ‚Eigenzeit‘, Musik und Selbsterfahrung kreisen das Thema ‚Eigenarbeit‘ ein.
Eine inspirierte Philosophie sollte uns, wenn ich einer Anregung Agambens
folge, wieder mit unserer Rätselhaftigkeit konfrontieren und neue Expeditionen
ins Ungewordene und Unerkannte ermöglichen. Die Philosophie hat laut
Bohrer unveränderliche Wahrheiten
behauptet, indem bereits in ihren Prämissen Zeitlichkeit und Tod ausgegrenzt
wurden, indem das ‚Jetzt‘ zum Verschwinden gebracht wurde. Der subjektive
Faktor jeglichen Bewusstseins von Zeitlichkeit wurde durch den objektiven
Faktor einer Zeitdimension jenseits dieser Subjektivität ersetzt. Dabei ist die
Trennung von Subjekt und Objekt lediglich das Resultat festgefahrener
Gedankenexperimente, die den technischen Entwicklungen des letzten Jahrhunderts
folgenden Theorien haben längst zu verschiedenen Ansätzen von Wechselwirkungen
und Interferenzen geführt. Wenn wir in der Lage sind, uns auf die lebendigen
Kräften der subjektiven Erfahrung einzulassen und uns dabei in der Kunst der
Selbstdistanzierung üben, kommen hin und wieder Rätsel zustande, mit denen es
sich sehr gut arbeiten lässt. Das Glück des Unvorhergesehenen transportiert die
Chance, mehr und anderes zu finden oder zu erfahren, als dies unsere
Erwartungsmuster und die dahinter arbeitende Komplexitätsreduktion erlauben. Mit
Foucault gibt es Momente im Leben, in denen die Frage, ob man anders denken kann
als gewohnt, anders wahrnehmen, unabdingbar ist, um überhaupt beobachten und
denken zu können. Die kritische Arbeit des Denkens ist eine am Denken selbst:
Herauszufinden, wie und bis wohin es möglich ist, anders zu denken, statt nur
das zu affirmieren, was bereits bekannt ist. Die Menschheitsentwicklung
verdankt sich einer Reihe von Katastrophen, doch das aus dem Geist der
Institutionalisierung für den Konservativismus plädierende Argument, nach
Katastrophen hätten Restaurationen und Rekonstruktionen einen Vorrang der
Dringlichkeit, zieht erst ab dem Status einer erlittenen und nicht
ausgehaltenen Saturiertheit, die durch Kriegsbegeisterung und nationalen Größenwahn
gründlich verspielt worden ist. Tatsächlich gibt es keinen Grund für eine Weiterentwicklung,
wenn alles stimmig und in sich gerundet ist, erst recht keinen, wenn die Angst
vor Veränderungen das Realitätsprinzip prägt, wenn jeder Sprung ins Neue und
Ungewohnte dem Tabu untersteht. Wenn die aktuelle Problematik kompletter
menschheitsgeschichtlicher Fehlentwicklungen in Angriff genommen werden will, müssen
wir von einer Homöostase des Elends der Wiederholung zu einer des Glückens des
Unvorhergesehenen voran kommen. Der Erlösungsgedanke, der einmal mit dem der
Ewigkeit verbunden war, hat sich unerkannt in die gesteigerte Erwartung eines
unendlichen Wachstums transformiert – selbst die Alternative einer erfüllten
Gegenwart partizipiert am Prinzip Steigerung und Beschleunigung. Doch das geht
ganz sicher nicht mit dem Ehrgeiz, aus vorhandenen Systemressourcen mehr herauszuholen.
Im Umfeld fremdbestimmter Techniken der Alltagsbewältigung bringt das Kaizen
mit der formelhafte Vorsatzbildung ‚Tag-für-Tag-ein-wenig-besser‘ am besten auf
einen Nenner, wie wir uns optimal auszureizen haben, weil wir einem fremden
Ziel unterstehen, uns also dauernd im Vergleich befinden. Vom Weg, der einen
Sinn freisetzt, ist bei dieser Selbstoptimierung schnell nicht mehr die Rede,
nur noch vom wirtschaftlichen Erfolg eines Systems, in dem wir zur austauschbaren
Variablen verkommen. In gesellschaftlichen Zusammenhängen der Lernresistenz
dank neurolinguistischer Programmierung und autoreflexiver Simulation ist die Selbstdistanzierung
als Instrument des Verzichts zu empfehlen; verzichten wir auf die Einlösung der
politischen und ökonomischen Werbebotschaften,
auf all das, was wir brauchen sollen, ohne darin einen Sinn zu finden,
und mit dem Grad der Entfremdung steigt das Lernvermögen. Die Verunsicherung
des Menschen wie die Sinnentleerung seiner Welt entspringen nicht der
Aufkündigung der propagierten kulturellen Werte, sondern sie sind das letzte
Resultat der Erfahrung, nur mit Talmisicherheiten, falschen Versprechungen und
Pseudoalternativen stillgestellt worden zu sein. Es entspricht ganz den Direktiven einer
Mikropolitik der Macht, wenn in den Zusammenhängen pluraler Werte und Ideologien
über die Zersplitterung der äußeren Wirklichkeit geklagt wird, die mit der
Fragmentierung einer inneren Erfahrung einher gehe. Die Menschen sollen den
festen Charakter vermissen, sich nach Autoritäten und einem unverrückbaren
Weltbild sehnen – dass damit dem Populismus und narzisstischen Priestern der Verlogenheit
das Terrain bereitet wurde, hat der Neokonservatimismus bis heute nicht kapiert.
Tatsächlich lassen sich Formen der Selbstoptimierung mindestens so gut im Sinne
einer Lustpolitik forcieren, die gegen Selbstverblödung und Selbstausbeutung gerichtet
ist. Jeder dem Vergleich gehorchende Antrieb aus Rivalität zweigt die
biographischen Energien notgedrungen für den gesellschaftlichen Motor des
rasenden Stillstands ab. Dieses schwachsinnige, ökologisch selbstmörderische und
oft genug wirtschaftskriminelle System erhält sich durch genau jene Energien am
Laufen, die wir für Lustpolitik und Eigenarbeit freisetzen sollten, um aus der
beschränkten Zeit und den biographischen Offenheiten jenen Sinn zu entwickeln,
der uns mit der Endlichkeit eines einmaligen Lebens versöhnt. Während der
realen Arbeit am Verhältnis der Geschlechter machen wir die Erfahrung, dass
nichts wirklich planbar ist, dass die Entwicklung in Sprüngen und im Kreis
verläuft, dass kein Fortschritt wirklich fort führt und keine Katastrophe das
Ende bedeutet. Je besser diese Lernerfolge greifen, je einfacher wird es, sich nicht
mehr mit anderen zu relativieren. Jede befriedigende Körpererfahrung überbrückt
Abstände und Grenzen, die als gesellschaftlich geworden oder gottgegeben reklamiert
wurden. Es braucht Geduld und tägliche Übung:
Ab einer gewissen Intensität der Wiederholung erscheint es jedes Mal wieder neu
und einzigartig, mit der Zeit steigern sich sogar wunderbare Unvorstellbarkeiten! In einer
Zeit, in der konfliktuelle Verführungen und Zwiste einfach an uns vorbei
gingen, ihnen fehlte der Resonanzraum, weil wir Tag für Tag befriedigt waren,
begann die Kategorie des Unvorhergesehenen wirklich fruchtbar zu werden. Wenn nur der Weg zählt, Schritt für Schritt, wird hin
und wieder die Grandiosität einer Unvorstellbarkeit erreicht, die tatsächlich sogar
die Wiederholungszwänge eines zurückliegenden Elends abarbeitet. Dieses
pragmatische Glück wurzelt in ganz real erfahrenen Transzendierungen der Wirklichkeit!
Mit den gemeinsamen Rhythmen erreichen wir hin und wieder ein Level, auf dem
der andere Körper erfahren wird, als sei er der eigene Körper. Der Sprung in
die Unendlichkeit findet dort statt, wo die Entladung verzögert und der Reiz
erhöht werden, wo energetische Erfahrungen die Selbstwahrnehmung auf ein Niveau
katapultieren, von dem der Körper plötzlich weiß: Das-ist-es, während das
Bewusstsein nur staunt und verglüht. Die einzige bleibende Fraglichkeit ist unser
Unvermögen, das Geschehen zu reproduzieren – die Präsenz geht ganz schnell wieder
verloren, was gerade noch in einer überbordenden Intensität bestanden hat, kann
nur mit der nötigen Geduld bei einer der nächsten erfolgreichen Übung neu
erfahren werden.
Auch im
Zeitalter der digitalen Reproduzierbarkeit gibt es ein biologisches Faktum, das
bis in die differenziertesten Strukturen des Bewusstseins reicht und den Beweis
für die Nichtreproduzierbarkeit der Präsenz erbringt. Wenn es wirklich gut war,
geht es nicht noch einmal so, wie es war – wenn es geht, ist es immer wieder
unfassbar erstaunlich... Die Liebe ist eine Form des Spiels, bei der der
Einsatz das ganze Leben betrifft: Wenn es eine/n erfasst, ergreift es uns noch
einmal wie am ersten Tag der Schöpfung! Wenn entscheidende Einsichten reifen,
wenn die nötige Sättigung eines Mediums erreicht ist, wenn das richtige Gefälle
vorbereitet wurde, wenn sich gewisse Prozesse in Bewegung setzen, beginnen Gesetzmäßigkeiten
der Bedeutsamkeit, die dem willkürlichen Zugriff entzogen sind, für einen zu
arbeiten. Der entscheidende Sprung im Signifikantennetz ist erreicht, wenn
nicht etwa nichts getan, sondern alle Kraft und Einsicht dem Nicht-Tun gewidmet
wird. Wenn wir für die Verführungen der Mimesis nicht mehr erreichbar sind, auf
keine fehlerhafte Identifikation mehr reinfallen, stellen sich auf einmal glückliche
Lösungen ein, an die niemand gedacht hat. Sogenannte Zufälle sorgen plötzlich
für Entscheidungen, die derart überraschend sind, dass Krüppelzüchter nicht mehr
mithalten können.
Eigenarbeit und Eigenzeit
Erst durch die Aneignung sozial vorgegebener Muster der Selbstregulierung
bildet sich ein menschliches Repertoire aus, wobei die Entwicklung individuell
ausgeprägter Persönlichkeitsstrukturen in der Regel durch minimale Abweichungen
von diesen Mustern zustande kommt. Sei es die Kompensation von Ausfällen oder das
Boostern von Sonderbegabungen, wir lernen über den Umweg der Anderen mit
unseren Anlagen umzugehen, durch Distanzleistungen aber zu relativ autonomen
Personen zu werden. Doch selbst so komplizierte Verfahrensordnungen wie unsere
Zeitbegriffe sind an materiellen, organischen Prozessen geworden: die
perpendikuläre Zeit als einfachste, durch taktile und akustische Muster
vermittelte Zeiterfahrung intrauteriner Kreisläufe oder deren Überlagerung
durch extrauterine psychosoziale Einflüsse auf den mütterlichen Leib. Der
Embryo erlebt gemächlich gleichförmige Phasen und solche, in denen das
Mutterschiff Stress und Angst überträgt, doch ihr Wechsel wird in der
Reversibilität als elementarste Zeiterfahrung erfahren. Ein erstes Mal wird die
Verabsolutierung des linearen Zeitablaufs das Resultat der irreversiblen Katastrophe
des Geburtstraumas. Die Eindrücke der ersten neun Monate prägen den Generalbass
unserer Wahrnehmung von Strukturen des Raums und Mustern der Zeit, gerade weil
diese Gesetzmäßigkeiten unbewusst bleiben, doch sie wandern als indexikalische
Impulse der Aufmerksamkeit in den Spracherwerb ein. Die Sprache als gesellschaftliche
Metainstitution und als Medium der Sozialisierung geht den notwendigen Lernprozessen
bereits immer voraus; sie transportiert Gesetzmäßigkeiten des Lernens und
gesellschaftliche Werte. Aber wie sich Sprache in jedem Leben in spezifischer
Form individualisiert, entsteht auch ein Repertoire an Auswegen und
Neuentdeckungen. Die Muster der Eigenzeit unterlaufen dank eines Übermaßes an Erwartungen
und eigenwilligen Selektionen die vorgegebene Botschaft; existenzielle
Erfahrungen decken den Widerspruch auf, der daraus resultiert, dass alles als
eigen Empfundene erst einmal von außen herrührt, Resultat einer Selbstimmunisierung
ist. Aus diesem Grund sind wir schon immer in Geschichten verstrickt, die viel
älter sind als unser kurzes Leben, hangeln uns von Interpretation zu
Interpretation durch die Welt, die nie nur eine Geschichte ist. Selbst die
schnelle audiovisuelle Aneignung von Wirklichkeiten, ihre Umsetzung in
Medienrealitäten, ändert nichts an der Tatsache, dass wir anhand der Resultate
von Interpretationen Halt und Sicherheit suchen. Die Herstellung einer absoluten
Immanenz in der alles gleich nah und zur gleichen Zeit erfahren werden kann,
mag eine traditionelle Raumorientierung zu Gunsten einer Achse der
Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zurückdrängen. Dennoch ist die
Subversion einer in Pseudoalternativen verhärteten Gegenwart immer wieder neu
gefragt: Was uns als aktuelle Wahrheit präsentiert wird, muss in unerwarteten
Formen der Präsenz verflüssigt werden. Erst wenn die Zeit keine Rolle mehr
spielt, sind wir im Hier und Jetzt präsent, entdecken im Augenblick eine informatorische
Allgegenwart und haben das Problem der Strukturierung und Auswertung jener
Datenflut zu lösen, indem Eigeninteresse und Bedürfnis sie erden. Ein
entsprechendes Supplement zielen Suchmaschinen im Internet an, mit denen heute
Wissensweisen und Einsichten in einem Maß zur Verfügung stehen, wie dies zu
Zeiten des langsamen verbalen und schriftlichen Wissensmanagements in der
Gutenberggalaxis nur schwer vorstellbar war. Ein Zugang, der im Nachhinein über
die Vorgaben bestimmt und diese modifiziert, ist für die Wissenschaft das erste
Mal mit der verzögerten Entscheidung der Quantentheorie aufgetaucht. Auf einmal
wurde die Zeit nicht mehr unabhängig vom Wahrgenommen-Werden vorgestellt, das
sich in ihr ereignet – tatsächlich ist es möglich zu entscheiden, welchen Weg
ein Photon durch die Lochmaske nimmt, nachdem es die Maske bereits hinter sich
hat. Die Vorstellung einer linear verlaufenden Zeit, die unabhängig von dem
ist, was sich in ihr ereignet, hat sich nicht nur in der Mikrophysik erledigt.
Mit der Erfahrung der Supplementarität untersteht das Denken und Erfahren ganz
ähnlichen Prozessen. Der nachträgliche Effekt eines Geschehens entscheidet über
seine Wirklichkeit. Wenn eine uns angehende Wahrheit aus der Zukunft auf uns zu
kommt, erspart dies jene vertrocknete Spezialisierung, mit der das Wissen von
jeder für den Alltag anwendbaren Erfahrung abgekoppelt wird. Wir müssen nicht mehr
tagelang nach einem Zitat suchen, das uns in der Vergangenheit wie ein Raubtier
angesprungen hat, um es im richtigen Kontext zu domestizieren, während uns die
Welt außerhalb der Texte immer fremder wird. Nachdem es heute nicht mehr nötig
ist, das Gedächtnis mit unnützem Ballast zu überfrachten, kann ein waches
Interesse sowie die am Umgang mit universalisierten Medien fundierte Allgemeinbildung
für das nötige systematische Gespür sorgen. Wissen ist nicht automatisch Macht,
denn welches Wissen taugt tatsächlich zu etwas, nachdem es vom Sicherheitsbedürfnis
um den Gebrauchswert reduziert wurde! Unsere Lebenszeit muss nicht in den Urwäldern
der Spezialbibliotheken auf der Strecke bleiben – aber es ist wichtig, deren
archiviertes Wissen in digitaler Form abrufbar zu haben. Wenn uns das Zeitalter
der KI etwas bringt, wird es zum Üben dienen, Einsichten, die unseren Erwartungshorizont
übersteigen, sind Trainingsgeräte für geistige Spannkraft und Beweglichkeit. Die
Vorbehalte der großen Institutionen, die KI erhöhe das Risiko einer Auslöschung
der Menschheit, beruhen wahrscheinlich auf dem impliziten Wissen um die eigene
Rücksichtslosigkeit und Inhumanität beim Durchsetzen von Machtansprüchen. Also
sollten wir mit der KI die Prinzipien einer anarchistischen Erkenntnis- und
Wissenschaftstheorie trainieren. Jedes komplexe Wesen wird von einer Pluralität
von Zeiten konstituiert, die aufeinander subtil und vielfältig einwirken. Wer
sich in den jeweiligen Zusammenhängen einredet, selbst zu denken, gehorcht
einer Form der Angstbewältigung. Tatsächlich sind wir erst einmal Transmitter
und Konverter, die aktuellen Bilder und Redegirlanden denken für uns, wir
dienen ihnen als Vehikel; erst ab einer gewissen Kapazität beginnen sie sich an
unseren Mühen zu personalisieren. Es ist also keine Besonderheit oder
Auszeichnung, für Stimmungen offen zu sein, denn wirkliche Erweiterungen unserer
Möglichkeiten resultieren vor allem aus einem Gespür für die zu erwartenden
Aufgaben, für daran zu trainierende Fähigkeiten. Erst wenn wir uns mit der
nötigen Durchlässigkeit auf ein Repertoire einlassen, kommen wir in die Lage,
uns ergreifen zu lassen. Wir beginnen ein Geschehen zu erkunden, indem wir ununterscheidbar
in die Gesetzmäßigkeiten eines Weltausschnitts eingehen, wenn wir als dessen
Medium in der Lage sind, die Besiedelung der Erwartungsmuster zu regulieren,
Kleinigkeiten und Perspektiven zu modifizieren, bis mit der Arbeit an den
Besetzungen schon einzelne Details ganz anderes bedeuten. Wir sind, was wir
gewesen sein werden, und nur da, wo eine Übersetzung in symbolische Formen
möglich ist, gibt es Auswege und eine lebendige Zukunft. Für Kamper
transportiert das Symbolische vor- und transindividuelle Momente der Sprache, sie
ist eben nicht auf Information und Kommunikation zu reduzieren. Doch für das
Privileg dieser Erfahrung symbolischer Übertragungen wird uns das
Einverständnis abverlangt, das Verstummen, das Sinnlose der Tatsache des Todes zu
akzeptieren. Ansonsten greifen jene Verführungen der Mimesis, die schon immer
auf jenem identifikatorischen Versprechen beruhen, das Nichts in Schach und
draußen zu halten. Gerade der Zwang, ein in sich abgeschlossenes Subjekt zu
sein, dient der Nachahmung als Anschlusswert an jene Zeit der bösen Wünsche,
die nicht einfach in einem anderen Weltalter hinter uns liegt, deren Motor die
Angst antreibt. Oft trieft ein ganzer Kontext vor Neid und Missgunst, oft sind
Lebensangst und schlechtes Gewissen die Ventile einer Figuration, in der wir
uns verstricken sollen. Eben diese Formen der Ausgeliefertheit und der
magischen Erregungsabfuhr greifen auf das in den frühkindlichen Abhängigkeiten
erworbene Repertoire von Verhaltensformen und Empfindungsweisen zurück. Neurose
ist Institutionsminiatur, die großen Institutionen der Menschheit sind nach dem
Vorbild der Religion generalisierte Neurosen, die Parapsychotikern als
Schutzschirm dienen. Wie früher die Religion, bestimmen heute die Medien unsere
Zugänge zur Wirklichkeit der Erscheinungen, die nicht erst jenseits der Medien
wirklich wird, sondern deren Wirklichkeit die der Medien ist. Gerade weil die
Realität nicht unabhängig von den biographischen und gesellschaftlichen Erfahrungen
besteht, sondern immer erst produziert wird, funktionieren die Wirkungsweisen
der Macht nach einem einfachen Schema, das in den Großinstitutionen von der Kirche
über das Militär bis zur Wissenschaft perfekt ausgearbeitet worden ist: Wer die
Angstbewältigung ankurbelt, benützt uns als Verbündete gegen uns!
Jede Kultur
resultiert aus einer mehr oder weniger virulenten Interferenz der Zeiten, aus
einem Durchschuss des präsentischen Bewusstseins mit zumeist unbewussten
Wiederholungen. Schon bei Benjamin wurde jene seltsame Dialektik ausgearbeitet,
nach deren Gesetzmäßigkeit sich im Allerneusten das Archaische wiederholt. Die
Analysen im Kontext des Passagenwerks kennzeichnen das Verhältnis aus Kapitalismus
und Konsumismus als Religion durch das Paradox, mit der Regression den
Fortschritt anzutreiben; in den geschichtsphilosophischen Thesen wird die verzwergte
Theologie zur geheimen Steuerung des historischen Materialismus. In diesen
Zusammenhängen ist der Ausdruck Achsenzeit wieder zu entdecken: Kultur als
Strom zu interpretieren, der alles Mögliche aus den Gegenden, die er
durchquert, mitnimmt, abschleift und zu neuen Formen transformiert. Mag Jaspers
Historisierung seit Jahren Korrekturen erfahren, so ist auf jeden Fall wichtig,
dass das Zusammentreffen der verschiedensten Traditionen in einer Schwellenzeit
ab einer gewissen Sättigung des Mediums zu Sprüngen in den althergebrachten Gewissheiten
oder den biographischen Selbsterlebensbeschreibungen führt. Die Schwellen der
Digitalisierung funktionieren mangels materieller Reibungsverluste in besonderer
Weise synkretistisch. Die Erfahrung einer Zeit, deren galoppierender Charakter
verhindert, ihre Wahrheit zu erfassen, ist der Erfahrung entgegenzusetzen, dass
diese Wahrheit aus der Zukunft auf uns zu kommt. Nicht nur nachträglich weiß
man/frau immer alles besser; wir leben gleichzeitig in der Vergangenheit der
Zukunft wie in der Zukunft der Vergangenheit – die Gewichtung hängt vom
Stresslevel ab, das wir auszuhalten in der Lage sind, bis die psychischen
Besetzungen für einen bifurkativen Sprung gesorgt haben werden. Weil die
Geschichte der Religionen, der Phantasmen und Mythen als Vorgeschichte und
Tiefenstruktur der heutigen technischen Entwicklungen zu rekonstruieren ist,
führt die gegenwärtige Remythologisierung der Technik zu neuen Spielformen
religiöser Energien. In den noch nicht der institutionellen Reinigung und
Sublimierung unterworfenen Ursprüngen ist das Religiöse und Mythologische immer
synkretistisch, ein Patchwork ohne theologische Strenge und ohne hierarchische
Absicherung. Als Schema für das Flottierende und Hybride, Ephemere und
Metamorphotische, prägt es die Globalisierung und Multikulturalität des Netzes.
Die Zunahme des
menschlichen Wissens wird von der Erfahrung begleitet, nach der die damit
verbundenen Bereiche des Nichtwissens wesentlich schneller anwachsen, als die
Gewissheit, auf der wir für den historischen Augenblick ausruhen wollen. Das könnte
immerhin erneut zur Kultivierung jener Weisheit führen, nach der unser Wissen
nur der Armatur unserer Sinne hinterher hinkt und zu wenig Wahrheit
transportiert. Über Jahrtausende wussten verschiedene Theologien und ihre
Schwundstufen an dieser Einsicht zu schmarotzen, um die Machtausübung durch immer
kompliziertere Konstrukte zu rechtfertigen, die die Materialität unserer
Weltwahrnehmung transzendieren. Dabei beruht diese Materialität auf den
Armaturen der Sinne, auf den Repertoires, den komprimierten Archiven, die ihre
Funktionen geprägt haben. Nur deshalb ist ein Maximum der uns zugänglichen
Wahrheiten aus der Nähe zur Wirkungsmächtigkeit eines Nichts aufzuschlüsseln,
das als Ursprung aller Symbolsysteme der Selbstermächtigung der menschlichen
Fantasie zugrunde liegt. Der Reiz literarischer Intensitäten des Wissens
liefert oft mehr als nur Schwundstufen der ursprünglichen Fiktion von Substanz.
In den Randgängen der Signifikanten, den unterschwelligen biomagnetischen
Feldern, in den unwillkürlichen Erinnerungen, den Irrgängen einer
Metaphorologie usw. gibt es verschiedene Verweisungszusammenhänge, die über die
selbst geschaffenen Gefängnisse des institutionalisierten Wissens hinaus führen.
Die
Welt erfahren wir mit allen Sinnen, wenn die Erwartungsmuster und die Summe der
Kenntnisse, die zu ihnen passen, nicht unter einer Kanonade von Phrasen
unwichtig geworden sind. Ansonsten müssen erst Schockerfahrungen jenes dichte
Gewebe aus Lebenslüge, Trägheit und Verleugnung aufsprengen; weil sich die
lineare Zeiterfahrung als Resultat eines Schocks einstellte, macht sich das
Andere der durch Konvention und Unredlichkeit hergestellten Wirklichkeit erst
unter dem Einfluss der Katastrophe bemerkbar. Freud hat nicht herausgearbeitet,
welcher Verdrängungskünstler durch die Orientierung an der Normalität entsteht.
Er hat mit der Kategorie des Widerstands auch gezeigt, dass der Ich sich nur durch
die dauernde Verweigerung einer unzensierten Selbsterkenntnis aushält,
Selbstdementierung und trickreiche Verheimlichung der eigenen Motive sind an
den statistischen Durchschnitten ausgerichtet. Eine Hermeneutik der
Selbsterkenntnis müsste die Geschichte der Erzählungen über das Selbst gegen
die Widerstände des Ich aufschlüsseln. Was einst unter emanzipatorischen
Voraussetzungen Erfolg versprechen sollte, ist mit der Wissenschaft des
Bewusstseins zu einem Repertoire konkurrierender Diskurse geworden. Aber gerade
weil alle Wahrnehmung, Erfahrung, Erwartung und Entscheidung auf enormen
Komplexitätsreduktionen beruht, wird nachvollziehbar, warum die Bedeutsamkeit
gewisser Zusammenhänge immer auf Spuren verweist, die die Wirkungen des
Subliminalen für viele unserer Entscheidungen aufdecken. Wir sollten also der
Verführung durch empfohlene oder naheliegende Vereinfachungen ausweichen, nicht
ständig nach den Kurzformen, den Schematismen und Logos suchen. Mit den Anregungen Kampers ist
zu empfehlen, die Komplexität durch materielle Nähe zu steigern, durch geschulte
Wahrnehmungen und intensive sinnliche Vernetzungen, durch psychedelische
Erfahrungen umzuformatieren. Wenn ich nur das zu sehen in der Lage bin, was mir
beigebracht worden ist, habe ich nicht nur das Leben verpasst, ich werde viel
zu bereitwillig einwilligen, wenn über mich verfügt wird. Tatsächlich hat das
Ich keine eigene Sprache, entweder es lernt nach und nach, sich geschickt in
fruchtbare Zusammenhänge einzuschleichen, um alles Brauchbare zu verwenden und
damit das durch Sprache vorgegebene Repertoire zu individualisieren und zu
bereichern. Oder, wenn dies misslingt oder von vornherein nicht angestrebt war,
kommt mit den haltgebenden Klischees und Vorbildern auf die Dauer ein nachgemachter
Mensch zustande, dessen Sicherheit nur geliehen ist. Die Sprache wie die das
ursprüngliche Repertoire liefernden Mythen wollen individualisiert werden, erst
dann sind sie in der Lage, uns für den Wandel der Zeit fit zu machen. Solange
sie allerdings die strategische Begeisterung Sorels zu füttern, der politischen
Mobilisierung der Massen zu dienen, wird eben diese Individualisierung verpasst,
während dessen Mythoskonzeption korrigierend jeden Wahrheitsbezug ausschließt. Der
Mythos wirkt wie eine Maschine, die die unbewussten Energien des Menschen bündelt
und in immer neuen Kombinationen vervielfältigt. Seine Bedeutung resultiert aus
der Verankerung der Motivation und des Sicherheitsbedürfnisses von Individuen
und Gruppen in den Tiefenschichten der menschlichen Geschichte. Doch ein
Abaissement du niveau mentale befördert nur die Regression – schon deshalb war
dem Erbe des Faschismus eine weitverbreitete Skepsis gegenüber Massenbewegungen
zu verdanken. Dagegen weisen die großen mythischen Figuren mit den Erzählungen
zur Welteroberung und Kulturstiftung auf ein Repertoire von Handlungen hin, mit
dem immer wieder neu die Zukunft in Angriff zu nehmen ist. Im Fortgang der Zeit
gingen diese Heroen an den freigesetzten Wissensweisen, an der durch Abstraktion
und Generalisierung bedingten Stumpfheit und Empfindungsunfähigkeit zugrunde.
Was aber nicht heißt, damit seien sie einfach verschwunden, denn kitschige
Miniaturen tauchten regelmäßig als Begleitfiguren der Gesetzmäßigkeiten einer
Partitur, der Strukturen eines Romans, den Spielereien eines Bastlers oder den
Zwängen einer Neurose auf. Mittlerweile haben Film und Fernsehen als latente Sozialtechnologien
der Regressionsresistenz ein neues Terrain bereitet; die Begeisterung kann zur
Sentimentalität verzwergt ausagiert werden, Aggressivität oder kullernde Tränen
sind in einem Urlaub vom rationalen Alltag gestattet, solange sie als Feuerwerk
im Medium des Unernstes abbrennen. Mit zunehmender Digitalisierung besetzen immer
mehr mythische Gehalte multimediale Felder, um ihre Verjüngung im Status des
Als-Ob zu feiern. Der personalisierte Zukunftsbezug und das Prinzip Hoffnung
leben von der Erinnerung an vergangene Entwicklungsstadien; gerade dieses
Als-Ob garantiert eine Selbstimmunisierung, mühsam erreichte Fortschritte unterstehen
zur Erholung der Regression, weil unser Zukunftsbezug ansonsten zerstört würde.
Zugleich entsteht damit aber ein Potential an Überdruss, der sich gegen
Verwaltungsbezüge und Als-Obs richtet. Ein Wahrheitswert, der zugleich die
Gefahr mit sich bringt, mit dem Bedürfnis nach Intensitäten wieder bei
faschistischen Begeisterungen zu landen, gegen die tatsächlich nur echte
Erfahrungen immunisieren.
Mit der Erfahrung einer Fülle des Wirklichen – die
sich einstellte, als wir von allen Ressourcen abgeschnitten waren und für die
einfachsten Dinge wieder ganz von vorne beginnen mussten – begannen wir zu
akzeptieren, dass unsere Aufmerksamkeit nur für einen bedingten, kleinen
Ausschnitt reicht, wir mussten uns auf das einlassen, was wir nicht wissen
können. Es ist die Präsenz der subliminalen Wahrnehmungen, der nicht bewussten
psychischen Aktivitäten, des Denkens, das außerhalb unserer Köpfe abläuft, die
die Verbundenheit des Menschen mit der Welt viel enger gestalten, als es die Theoretiker
des Ich-denke wahrhaben können. Diese Intensitäten, das objektivierte oder implizite
Wissen, die weitere Bandbreite der Sinne, haben wir gewähren zu lassen. Die
Winke wollen vernommen, die Zeichen wollen gelesen werden. Dann beginnen die
Dinge zu und die Tiere mit einem zu sprechen; wer sich darauf einlässt, erlebt die
Materie als einen fortwährenden Informationsaustausch. Selbst in der
Verknüpfung der Zeiten prägen gewisse Botschaften unsere Gegenwart, die nicht
nur von der Vergangenheit getragen, sondern mit Einsichten aus einer fernen
Zukunft geimpft ist, die wir noch nicht wissen können. Im Anfang
gibt es nur das Hier, noch fast keinen Zeitbezug, während am Ende das Jetzt die
Fülle des gelebten Lebens ist, während das Hier zum Punkt in einem unvorstellbar
verzweigten Verweisungszusammenhang geschrumpft sein wird. Gelegentlich mag es intensive
Aufenthalte im Jetzt in den Augenblicken der Ekstase geben, doch das instantane
Nunc ist ein Privileg der Traumzeit. Dem Entzug von Präsenz entspricht die
Verleihung von Bedeutungen an das schwindende Geradeeben. Seltsamerweise konstituiert
diese Dialektik von Entzug und Vollzug die Reziprozität der symbolischen
Ordnung, in der die Welt im Focus der Bedeutsamkeit für uns verfasst ist.
Jede
Konzeption der Zeit entwirft eine Schematik, alle Messung der Zeit stellt immer
nur Bilder her, die einer enormen Komplexitätsreduktion unterstehen. Die
eigentliche Bewegung jenseits von Linie und Kreis verläuft in endlos sich
verzweigenden Wiederholungsschleifen, die niemals den gleichen Fluss darstellen.
Das Wechselspiel der Zeiten macht verschiedene Formen der Zeiterfahrung aus,
die sich nicht gegenseitig aus dem Feld schlagen. Die vorherrschende Auffassung
der letzten Jahrhunderte machte Zeit zum Gegenstand der theoretischen Physik.
Seit Galileis Versuchsanordnungen, die oft genug an der Grenze des
theoretischen Experiments angesiedelt waren, entstand eine physikalische
Zeitkonzeption, die die Selbstdistanzierung des Forschers und einen technischen
Ablauf voraussetzte. Schon bei Cusanus hatte sich eine Konzeption verselbständigt,
die viele Jahrtausende ephemer war, die sich nur der Not verdankte – die
lineare Zeit ist ursprünglich die des Todeslaufs, in ihrer Unausweichlichkeit
sitzt noch heute die Agonie. Ihr gegenüber gibt es Zeiterfahrungen, die mit
Ewigkeit gesättigt sind, der gelungene Augenblick nicht weniger als die
Wiederkehr des Gleichen. Wir haben die mythische Zeit der Epik, die in
mächtigen Bildern mit Erscheinungsformen des Göttlichen durchsetzt ist, wie die
gemächlich dahin fließenden Zeiten der Chronik, die noch immer Wunder produziert,
außerdem die Historie, deren Nutzen von ihren Nachteilen aufgezehrt wird, weil
sie das Wunderbare aus der Welt entfernt. Die Moderne war weitgehend ein
Resultat männlicher Erfahrung, planmäßiger
Fortschritt ein Resultat der Reduzierung des Realen auf mathematische
Rationalität, einen Vektor in der Zeit, der zyklische Rückgriffe und
variierende Wiederholungen zunehmend ausschloss. Mit dem Einfluss der
industriellen Herstellung von Waren und Produkten verschwinden die sinnproduzierenden
Rituale immer mehr oder werden auf Feiertage und Als-Ob-Erfahrungen reduziert,
bis die Prosa einer grau gewordenen Alltagserfahrung die Flucht in die
Kriegsbegeisterung nahelegte. Während die Materialschlachten eines ersten Weltkriegs
jegliche menschenmögliche Erfahrung verhöhnten, die verbliebenen Protagonisten
verstummt aus dem Feld zurückkehrten, wurde mit dem Zeitbegriff der Relativitätstheorie
das Unvorhersehbare gegenwärtig und die Synchronizität thematisierbar. Mittlerweile
gewinnt die zyklische Wiederkehr des Gleichen mit der Kapazität moderner
Rechner an Bedeutsamkeit. In ihr sprießen Koinzidenzen, das Simultane ist lediglich
durch minimale Unendlichkeiten von seinem Gegenüber getrennt. Dabei war diese blitzartig
aufleuchtende Unendlichkeit in der Zeitlosigkeit nicht aus der Welt verschwunden,
sondern nur mehr und mehr an den Rand gedrängt worden. In die Zeit des Wunders,
den Blitz einer Offenbarung, den mythischen Augenblick einer großen Liebe, sind
die Splitter einer unvordenklichen Zeit eingestreut, in der Vergangenheit und
Zukunft in einem unendlich vielfältigen Sinn kulminieren. Die lineare Zeit
macht den Herrschaftsbereich der kodifizierten Bedeutungen aus, eben weil es
Zeit braucht, um eine sinnliche Präsenz in Bedeutung zu überführen, die das
Verhältnis zwischen Mensch und Welt verbindlich kodifiziert. Sie mündet in die
Zeit des mechanischen Uhrwerks, das die Zeit in Zeitpunkte zerhackt und die der
Hemmung unterstehenden Momente auslesbar macht – um den Preis, uns um die
Erfahrbarkeit einer unendlich vielfältigen Wirklichkeit zu betrügen. Wenn sich das
Vergessen der Interpolationen in der Messbarkeit vollendet, prägt der Tod die
Münze der Bedeutung. Gestern war heute noch morgen, wir glaubten unendlich viel
Zeit zu haben – aber morgen ist heute schon gestern. Die Jahre gehen unerbittlich
und immer schneller vorüber, wenn wir nicht im Hier und Jetzt den
schöpferischen Funken schlagen.
Das Glück des
Unvorhergesehenen hat Teil an jenen Intensitäten, die sich aus einer
Unverfügbarkeit heraus ereignen. Jenseits der Rituale der Angstbewältigung und
der Gewalt macht uns die Selbstverschwendung, die Lust an der Unverfügbarkeit,
das Sicheinlassen auf offene Horizonte erst einmal fähig, unsere Zukunft zu
individualisieren. Die Plötzlichkeit als spontaner
Einbruch anderer Seinsordnungen, die Entgrenzung
der persönlichen Gewohnheitsmuster, untersteht keinem Wollen, sondern erwartet
ein Gewährenlassen. Dies bringt die Chance mit sich, mehr und anderes zu finden
oder zu erfahren, als unsere Erwartungsmuster und die dahinter arbeitende
Komplexitätsreduktion erlauben. Eine von dieser Erfahrung inspirierte
Philosophie könnte Expeditionen ins Unerkannte ermöglichen, uns mit unserer
Rätselhaftigkeit konfrontieren. Wohin es führt, wenn wir für alle möglichen
Erfahrungen genau die Erklärung suchen, die unsere Ängste und Zwänge bestätigt,
zeigen uns Verschwörungstheoretiker bis zum peinlichen Fremdschämen. Dabei
stehen schon die einfachen Erklärungen im Dienste der Komplexitätsreduktion und
kleben den Registriert-Bon auf eine Wundersamkeit, mit der wir uns nicht weiter
zu beschäftigen haben. Wir sollten uns nicht um unsere Eigenzeit betrügen, nur
um den immergleichen Schwachsinn in den verschiedensten Verpackungen zu begehren.
Die Offenheit für das uns umgebende Rätsel der Schöpfung benötigt keine Askese,
denn mit den geduldigen Übungen des Paars ist die Stillung des Begehrens gegen
den Sog der Bildwelten und den von ihnen ausgehenden Geilheitsdressuren leichter
als durch Verzichtleistungen zu erreichen: Die Liebe, deren Antrieb nach Simmel
die Ergründung des Geheimnisvollen der Individualität ist, erlöst uns von der Suche
nach dem Sinn eines Unternehmens, das uns mit dem Tod weitere Sorgen und Mühen
erspart. Die Arbeit an der während dieser Übungen freigesetzten inneren Leere, die
Verflüssigung verhärteter Gewohnheiten, die Relativierung jeglicher Intention,
erspart uns die Täuschung durch Trägheit, Glaube und Indoktrinierung; wir kommen
dem Geheimnis der Lebendigkeiten näher, ohne in der Sackgasse der Frage zu landen,
was wir damit anfangen können.
Mit diesem
produktiven Ansatz der nüchternen Beschränkung auf die Diesseitigkeit der
Lebendigkeiten sollte das Verhältnis körperlicher Zeichensysteme zu dem der
Zeichen des Geistes betrachtet werden. Es gibt Zeiten, in denen diese beiden
Systeme einander durchdringen und solche, in denen sie starr auseinander gehalten
werden. Deshalb kongruieren symbolische Repräsentationen der menschlichen Wirklichkeit
in einer technischen Welt wesentlich weniger mit der Erforschung der
spezifischen Gesetzmäßigkeiten und der in dieser Sphäre des Menschlichen
entstehenden Probleme, als mit dem was wir unter Natur verstehen und durch
biologische, physikalische und mathematische Modelle erklären. Noch die
Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften ist das Resultat einer
Trennung, die mit Elias das Kunstprodukt einer wissenschaftlichen
Fehlentwicklung ist: Ein Hindernis für die Weiterentwicklung der Orientierung
auf der Ebene des Wissens und der Integration spezifisch menschlicher Eigenheiten;
entsprechend beschränkt und unsicher ist das Wissen, mit dem wir uns in dieser
Sphäre zu orientieren versuchen. Die Kluft zwischen Innenwelt und Außenwelt,
die sich durch Akte der Distanzierung in die Subjekt-Objekt-Dichotomie verlängert,
führt dazu, die untrennbaren und komplementären Funktionen von Mensch und Natur
oder von Menschen und Menschen auf zwei selbständige und unüberbrückbar
getrennte Existenzformen zu verteilen. Das Entweder-Oder von Objektivität und
Subjektivität ist eine Falle, die immer wieder neu in Opferverhalten und
fehlerhafter Identifikation zuschnappt. Jenseits des Mythos ist die Welt außen,
das Wissen innen – aber Wissen und Kommunizieren setzen eine Gesellschaft von
Menschen und keinen isolierten Einzelnen voraus – das epistemische Arbeitszeug,
um mit der Komplexität intensiv vermittelter Wechselverhältnisse umzugehen,
jenseits von Abstraktion und der Fixierung auf generalisierte, abgetrennte
Relate liefert immerhin eine von Peirce konzipierte relationale Semiotik. Bereits
die Kennzeichnung Außenwelt ist wie der Bereich der Innerlichkeit wenig geeignet,
um das Verhältnis von Sprechergemeinschaft und individuellem Sprechen
vorzustellen oder das allgemeiner Begriffe zu deren individuellem Gebrauch. Das
‚Objekt‘ ist also immer schon eine Funktion des jeweilig vorgegebenen sozialen
Wissensbestands. Der anhand der physikalischen Phänomene Newtons entwickelte
kategoriale Apparat, die ihm entsprechenden Formen einer mechanischen
Ursache-Wirkung-Kausalität, eignen sich eben nicht zur Erforschung der
Verknüpfungsformen aller Integrationsformen unseres Universums, denn darüber
hinaus gibt es biologische, soziale und erfahrungsbezogene Integrationsebenen.
Notwendig ist also eine Erfahrungs- und
Wissenskonzeption, die andere rationale Synthesetypen zulässt. Die Vortäuschung
einer Spaltung der Wissensgebiete funktioniert nur solange, wie weite Bereiche
der menschlichen Erfahrung nicht zu wirklichen Erkenntnissen zugelassen werden,
dabei ist die Unterscheidung verschiedener Zeichensysteme wesentlich erkenntnisfördernder,
als eine einfache Entgegensetzung von Körper und Geist. Was sich im Prozess der
Zivilisation geändert hat, ist das System der Selbstregulation, die Funktion
der Zwischenglieder zwischen Reiz und Reaktion, die zunehmenden Puffer zwischen
den elementaren Impulsen und dem gelernten Muster ihrer Kontrolle und Zügelung.
Sie mögen in manchen Fällen der Reflexion, der kritischen Hinterfragung
zugänglich sein, aber in vielen Fällen wurde der zeitliche Lernprozess
vergessen und das Resultat als natürliches Verhalten empfunden. Dazu gehört vor
allem das Unvermögen, sich über den tatsächlichen Charakter der Zeit klar zu
werden. Für Elias, der die Geschichte der Menschheit als einen Prozess zunehmender
Triebhemmung gekennzeichnet hat, ist die Selbstregulierung eines zeitlichen
Schematismus weder eine biologische Vorgabe der Natur des Menschen, noch die eines
metaphysischen Apriori, sondern ein Sozialisationsprodukt. Das jeweilige
Zeitempfinden ist das Ergebnis einer sich unter den zeitgeschichtlichen
Vorgaben entwickelnden sozialen Persönlichkeit, damit also der integrierenden
Lernprozesse jedes Individuums. Das vergebliche Bemühen um die Lösung eines im
Grunde einfachen Verständnisses der Zeitproblematik ist ein gutes Beispiel für
die Folgen des Vergessens der gesellschaftlichen Vergangenheit. Wenn man sie in
der Erinnerung vergegenwärtige, entdecke man sich selbst.
In diesen
Bereichen des Dazwischen haben wir es mit vermittelnden Zeichensystemen zu tun,
auch der warme und reaktionsfreudige Körper ist für die Wahrnehmung nichts
anderes als ein Zeichensystem. Das mag erklären, wie viel Geist ein Erröten
impliziert, wie viel Reflexion in einem Stolpern beinhaltet ist: Wie Schneider
in ‚Liebe und Betrug‘ gezeigt hat, ist im Stottern und Anstoßen die
Authentizität der abendländischen Liebe zu Hause, während alle glatte und geschmierte
Selbstdarstellung schon dem Betrug zu unterstellen ist. Die Zeichen der Haut
unterscheiden sich von Tätowierungen, die ein Signal anstreben, dem die
Echtheit physiologischer Zeichenprozesse fehlt. Immer dann, wenn körperliche
Kommunikation und sprachlicher Austausch in eine intensive Wechselwirkung
treten, nähern wir uns einer umfassenden Form von Kommunikation. Dabei ist
sogar einzuschränken, dass auch ein Schamane simuliert… aber eben nur solange,
bis ihn das Geschehen ergreift. Wenn eine/n die Besessenheit reitet, ist die Heiligkeit
des authentischen Augenblicks erreicht. Das mag schon sehr weit von unseren
Erfahrungsmustern entfernt liegen, aber selbst in den biographischen
Zusammenhängen des 21. Jahrhunderts kann die eine/n ergreifende Erscheinung
tatsächlich eine Erscheinung des Göttlichen werden: Schön ist nicht allein, was
begehrenswert erscheint, sondern was die Intensitäten des Lebens stimuliert, was
in der Lage ist, enorme Energien freizusetzen. Ob das Schöne sinnliche Erscheinung
der Idee genannt werden konnte oder Schönheit zu einem Erfüllung versprechenden
Begehrten wurde – in beiden, extrem auseinander liegenden Fällen landet der
sinnliche Impuls in der Amygdala, springt dann vom Gefühlskern des Gehirns zum
Hippocampus, um als Erlebnis verarbeitet und zu Erinnerungen geformt zu werden
– vor allem fördert es eine umfassende Bejahung des Lebendigen mit all seinen
Widersprüchen und Prüfungen, wenn es als Ereignis mit all seinen
Erscheinungsformen anerkannt wird. Die Schönheit der Macht dagegen resultiert
aus der Kompensation des persönlichen Unvermögens; sie geht von der Negation
aus, stellt eine Veranstaltung der Verleugnung, des Selbstbetrugs und der Unterwerfung
dar. Vielleicht möchte ein nachgemachter Mensch mit der Nähe zur Macht ein bisschen
von der Begehrlichkeit abbekommen, die die Präsenz des Körpers verbürgen kann,
solange die Empfänglichkeit nicht während der Sozialisation ausgebrannt worden
ist. Gegen die Schönheit als Promesse du Bonheur – und solange das Glück dann
auch nur für Augenblicke stillhält, sind wir sogar bereit dafür zu sterben – steht
die Eleganz der Kastraten. Das ist ein Resultat des bis ins Jenseits aufgeschobenen
Lustprinzips, hergestellt wird ein totes aber beherrschbares Arrangement. Wenn
hässliche Simulanten oder zu kurz gekommene Intrigantinnen wirklich mit den
Selbstinszenierungen der Macht zufrieden zu stellen wären, wäre unser soziales
Umfeld nicht durch deren neidende Strategien vergiftet worden. Im Übrigen hätte
es dann niemals das Skandalon des schönen Wilden gegeben, der manche/n zum Deserteur
machte – nicht weniger die Karrieren des weiblichen Geschlechts, das sich den
Zugang zur Macht erschlief, um sie dann zu Zwecken zu gebrauchen, die von den
ursprünglichen Machtkonstellationen oft wenig übrig ließen. Die Aporien eines
Zenon waren ein Höhepunkt der griechischen Dialektik, niemandem gelang es, sie
denkend zu widerlegen. Wir wissen mittlerweile, wie einfach eine Widerlegung ohne
den Umweg über Russel/Whitehead möglich ist – durch körperhafte Präsenz und
durch die energetische Erfahrungswirklichkeit des Paars. Sie ist beileibe nicht
als Reihe von Zeitpunkten zu verstehen, wird je lebendiger, ergreifender, je
mehr Widersprüche und Fremdheiten unter Funkensprühen in ihr zu integrieren sind.
Das Maß und die Intensität liegen dann nicht mehr in einer abstrakten Dauer,
sondern in der unendlich stetigen Vertiefung der Präsenz.
Der
Begriff Geschlechterspannung, den Heinrich in ‚anthropomorphe‘ als
gesellschaftliche Erscheinungsform der Zweigeschlechtlichkeit des Menschen kennzeichnet,
beschreibt das Medium zwischen einer biologistischen oder einer soziosexuellen Fixierung
auf starre Geschlechterrollen. Wir erfahren Spannungen, die gleichermaßen
zwischen den Geschlechtern wie zwischen den frühkindlichen
Identifikationsmustern beider Eltern auszutarieren sind – die vor allem aber in
der Sexualität zum Vorschein kommen. In der Regel muss ein Individuum gerade
deshalb darauf achten, seine sexuellen Konflikte zu kaschieren; sowohl vor den
anderen, wie vor sich selbst, müssen sie weitgehend als überwunden oder
nichtexistent behandelt werden. Die Spannung wird hinter einer Rolle oder Maske
verborgen, weil vor allem die Scham und die Kränkung zu verleugnen sind, nicht
beherrschen zu können, was eigentlich beherrscht werden sollte – hinter dieser
Frustration steckt die Erfahrung, im eigenen Leben nicht das Sagen zu haben. Faktisch
kann sich das Individuum erst als mit sich identisch definieren, wenn es
gelingt, sowohl die immanente wie die zwischenmenschliche Spannung in einer
Balance auszugleichen. Eine Entschlüsselung des Rätsels der Geschlechterspannung
liefert die Kochrezepte für eine gemeinsame Lebenszeit! Gegen den Anspruch
inzestuöser Abhängigkeiten und dank der Erotik ins Runde einer Harmonie zu
kommen – die die Organisationsform kleinster Gemeinsamkeiten und größter
Gegensätze ist, mit der tatsächlich erste Erfahrungen der Authentizität
zustande zu bringen sind. Die ‚postmetaphysische
Reflexion‘ bringt eine unterschwellige Entwicklungslinie auf den Nenner, die
quer zur inhaltsleeren Konvention und den konstruktivistischen Setzungen steht.
Eine an den eigenen Erfahrungen
wachsende Subjektivität wird von der Achtsamkeit auf Gesetzmäßigkeiten
des Leibes geprägt. Im Fortgang seiner Selbstdichtung wächst der Leib in
Zusammenhängen, die sprechender und welthaltiger werden. In diesem
Register bringen Liebende eine Verausgabung zustande, die dem Organismus mindestens
so zusetzt wie eine schwere körperliche Arbeit: Gegen die Nichtigkeit des Aufenthalts
in bloßen Vorstellungen gilt es, das Brennglas der Bedeutsamkeit zu fokussieren;
das Leben beginnt zu strahlen, wenn es mit Präsenz geladen wird, während die
Nichtigkeit und Nebensächlichkeit eines Durchschnittslebens von einem abperlen.
Kraft und Bedeutung sind in der Regel auf verschiedenen Ebenen zu situieren. Die
Kraft entspringt dem Realen und befeuert das Imaginäre, dagegen werden Bedeutungen
im Symbolischen kodifiziert – doch in der indexikalisch auf die Materialität
der Welt zurückbezogenen Bedeutsamkeit haben wir eine Vereinigungsmenge, die
mit Gefühl und Ähnlichkeit unterfüttert wird. Allerdings sind diese Zuordnungen
immer ambivalent, am ehesten noch mit einer Extremwerttheorie nachvollziehbar. Sie
lassen sich nicht instrumentalisieren, auch wenn dialektische Tricks sie der
Manipulation unterstellen. Das erklärt am besten, warum Energien entweder freigesetzt
und verwendet oder aber abgebunden und blockiert werden. Doch in extremen
Situationen der Bedrohung und Ausgeliefertheit gibt es einen Punkt des
Umschlags, der Bedeutungen wieder in tödliche Kräfte verwandelt. Jenseits
narzisstischer Selbstdarstellungen und verwalteter Geschwätzrituale gewinnt das
Wort eine Macht, die mindestens so gefährlich sein kann, wie die in den
Netzwerken von Bildungsbeamten zirkulierenden Verwünschungen.
Die
unabhängig von Idealen oder Abhängigkeiten verkörperte Geistesgegenwart im Hier
und Jetzt arbeitet an einer von Bildwelt und Vorstellung unabhängigen Form der Selbsterfindung.
Gerade weil es nicht darum geht, sich den Anmutungen der anderen anzubequemen, instrumentiert
sie die Wahrnehmung des Kontextes. Statt ein idealisiertes Selbstbild nach der über
ihren Umweg entstandenen Erwartung zu richten, wird diese Form der Vergegenwärtigung
zur Kompetenz für Spuren und Zeichen. Eine erkannte Tücke des Subjekts macht keine
Rückkehr zur Abwesenheitsdressur mehr nötig, die einer ursprünglichen Angst vor
der Nähe und damit vor der Anwesenheit in dieser Welt gehorcht. Gumbrechts ‚Lob
des Sports‘ oder seine Ausführungen zur ‚Präsenz‘ legen nahe, warum gerade die
Beherrschung einer Technik und die souveräne Verfügung über die Regeln jenen
Raum aufschließen, in dem wir für Augenblicke nur noch im Hier und Jetzt sind,
versunken in einer fokussierten Intensität. Was wir besonders gut können,
können wir ohne Überlegung, es läuft wie von selbst. Dabei zeigt sich, wie gerade
die körperlichen Routinen, die fast reflexartig ausgeführten Vollzüge dafür
sorgen, in einer Präsenz zu landen. Und das geschieht eben nicht, wenn wir von
fremden Virulenzen erfasst werden oder uns durch Bildwelten verführen lassen,
sondern erst dann, wenn es gelingt, durch die nötige empathische Kapazität die Intensitäten
eines Geschehens zu teilen, sie zum Erscheinen einer Ganzheit, einer säkularen
Wiederverzauberungsstrategie zu steigern: Gefühle vervielfältigen sich, wenn
wir sie teilen. Diese einer Epiphanie verdankte Verzauberung führt uns jenseits
profaner Sportstadien in noch ganz andere Sphären, wenn wir das symbolische
Liebesgebot des abendländischen Kontextes auf den realen Tausch der
komplementären Geschlechtsvorgaben zurückführen. Weil das Liebesgebot in
solchen Zusammenhängen einst entstand, stellen wir nicht nur fest, wie die
Wirklichkeit heller und mit Energien geladen wird, sondern verstehen ohne zu
überlegen, warum eine Logik des Vertrags dem gemeinsamen hormonellen Geschehen gehorcht.
Während die sich beim Sprechen bezeichnenden Redenden oft genug umsonst um
einander bemühen, weil sie viel zu sehr damit beschäftigt sind, wie sie auf das
Gegenüber wirken, setzen die Körper Intensitäten frei, die an früheren
klanglichen Prophezeiungen ansetzen, eben dank der Rhythmen akustischer
Nabelschnüre den imaginären Zwängen von Vorstellungen und Erwartungen die
Energie abgraben. Tatsächlich findet dabei keine Einebnung der Unterschiede
statt, keine hierarchische Vorgabe der Macht pervertiert die Beziehungsarbeit,
sondern im Ringen mit- und umeinander entsteht ein Mobile von Machtbalancen,
das nur solange funktioniert, wie jeder in der Lage ist, die Andersheit des
Anderen zu akzeptieren. Selbst die Vielschichtigkeit der Rede teilt in den
körperlichen Reibungsintensitäten wesentliche Nuancen mit dem hormonellen
Geschehen, weil in ihr die materiellen Zugänge zur Welt, also die konkreten
Dinghaftigkeiten, die wir als Körper mit der Welt teilen, über den Motor des
Begehrens mit den konventionellen Setzungen verschmelzen. Danach ist nichts
mehr, wie es einmal als plattes Klischee war. Während einer Zeitlosigkeit, in der
Spannung in Glückseligkeit umschlägt, in der wir uns in einer wohlig warmen
Einheit mit der Welt befinden, entdeckten wir jene paradiesische Namenssprache
wieder, in der es keinen Zweifel gibt, in der noch keine Lüge und Verstellung
vorgesehen ist. Namen werden von einem umfassenden Ja getragen, wir bemerken erst
im Nachhinein jenes sanfte Lächeln des oh-wie-ist-das-schön.
Die mathesis
universalis und die lineare Zeitkonzeption situieren das Gehirn in einem
Kanister – als haben wir an der Welt nur durch Bilder teil, die an die Wände einer
solipsistischen Zelle projiziert werden. Die Universalisierung der Naturbeherrschung
verknüpfte den Willen zum Wissen mit der Zwangsneurose eines Willens zur Macht.
Aber erst wenn von der Wirklichkeit des Leibes, von den körperlichen Vergegenwärtigungen
abgesehen wird, kommt es zu jenem Krampf, nach der Wissen Macht zu sein hat. Die
Wirklichkeit kausaler Verhältnisse klammert alles aus, was nicht nach dem
Vorbild eines Mechanismus funktioniert; sie beliefert Zwangsneurotiker mit
Sicherheiten, solange diese nicht über die Tatsache stolpern, dass ein rücksichtslos
erstellter und nach mathematischen Vorgaben definierter Ausschnitt aus der
erfahrbaren Welt niemals für die gesamte Wirklichkeit spricht. Gegen diese
Voraussetzung der neuzeitlichen Wissenschaften liefert die erotische Liebe Fundamente
aller Formen der Verständigung – sie ist die umfassendste Form, weil sie den
ganzen Menschen betrifft und nicht nur irgendwelche Rollenkonzepte: Die Lust
ist die einzige Sprache, die beide Geschlechter unmittelbar verstehen. Damit
ist der Ansatz zu verabschieden, wir seien in Tanks schwimmende Gehirne, die aufgrund
einer prästabilierten Harmonie durch einen mehr oder weniger gnädigen Schöpfer oder
die selbsterfüllenden Prophezeiungen systemtheoretischer Konstruktionen immerhin
die Illusion durchhalten, eine Kommunikation sei möglich. Nein, die
Kommunikation beginnt an den Fingerspitzen, sie ist gegenwärtig in jeder
Greifbewegung, in jedem Ergehen der Erfahrung, in jeder sensomotorischen Zuwendung
zu einer Umwelt und einem Gegenüber. Das Leben ist ein Experiment – jedes
einzelne, wenn nur der Mut, sich auf das Wagnis einzulassen, zur Verfügung
steht. Unser Nervensystem und Gehirn ist vor allen Dingen erst einmal
Weltbestandteil und dann Produkt einer kulturellen Evolution; jede Bestimmung
resultiert aus Formen der Verknüpfung von Sinnesdaten, der Synthese von
Zeichensystemen zu Ereignissen. Psychedelische Sinneswahrnehmungen erweisen,
dass wir längst nicht so weit von der Materialität der Welt – die mit den
Kenntnissen der Menschheitsgeschichte endlich zu einer befriedeten und
bewohnbaren Welt werden sollte – weg sind, wie dies die Institutionen des
Wissens gerne hätten. Vielleicht hat die Erfahrung des Jeder-frisst-jeden als
Gesetz der Evolution nahezulegen, der Sozialdarwinismus sei das Non-plus-Ultra,
die daran anknüpfenden Seminardarwinismen gerechtfertigt – dabei ist bereits
unsere biologische Existenz dadurch definiert, dass durch die Schaffung einer
kulturellen Zone durch Zeichensysteme und Wissensarchive die Ausgeliefertheit
einer nackten Existenz gepuffert wurde, womit die Gesetzmäßigkeiten der
Evolution auszuschalten waren. Unsere Erfahrungen zeigen, welche anderen, durch
Selbstdistanz und Gelassenheit entstehende Vorgehensweisen durchaus erfolgsorientiert
sind. Solange es noch ging, die intriganten Interventionen einfach wegzuwischen,
überließen wir uns einem interessierten Explorationsverhalten, verschwendeten
alles an vorhandenen Werten, übten uns am Verschenken unserer Zeit – es gab ja
noch so viel davon. Wir hatten dadurch Teil an einer archaischen Form des Sozialverhaltens,
indem wir ohne Gegenleistung Aufmerksamkeit und Zuwendung verteilten, die Gegenseite
also in Schuld verstrickten. Wir erreichten mit dieser sorglosen Form, über uns
hinaus zu gehen sogar, manche Delegierte der Intriganten derart zu irritieren,
dass sie die Flucht ergriffen. Mimetische Theorien sehen das menschliche Verhalten
durch die Voraussetzung geprägt, einen Sinn in der Welt zu erwarten – eine
Erwartung, die Anähnelungen produziert, damit wie nebenbei eine Sinn-Umwelt
schafft, die sich als Kultur verselbständigt und wiederum positive
Verstärkungen der Erwartungshaltung bewirkt. Wenn magisch-mimetische
Relationen, die durch Spiegelneuronen in allen Handlungsvollzügen verwurzelt
sind, verleugnet werden, weil Erziehung und Verschulung behaupten, das Ich
stehe den Objekten einer Welt fremd gegenüber, wird das Vertrauen auf die
körperliche Präsenz, das Kommenlassen der Intensitäten des Hier und Jetzt,
genau jener Ansatz sein, den der Imperativ der Ausbremsung und Stillstellung außer
Kraft setzen soll. Schon der Relationsmetaphysiker Whitehead unterstreicht, wie
sehr der Körper als Ganzheit das lebendige Organ der Erfahrung sei, womit die
reale Struktur der Erkenntnis wahrgenommener Objekte einem schöpferischen
Selbstgenuss entspringe und die Abgrenzungen zwischen Subjekt und Objekt
beseitige. Die Erfahrung von Beseelungen und Übertragungsphänomenen ist mit
Machos Kennzeichnung des zeremoniellen Tiers eine der Funktionen und
Relationen, die nicht zu Besitztümern und Substanzen verdinglicht worden sind,
sondern als Wechselwirkungen, als kontagiöse Prozesse der Überschreitung und
Anverwandlung erfahren werden.
Für die konventionelle
Welt hat schon die Liebe als Experiment gewaltige Folgen – berühmte
Theaterstücke oder Romane zeigen, welchen Hass und Neid, welche Zerstörungswut
in den gesellschaftlichen Hackordnungen nur die Versuchsanordnung auslöst. Doch
wenn ich von der Gewissheit des ‚Gut-dass-es-dich-gibt‘ getragen werde, sind
auf einmal die meisten Begegnungen unwichtig, die mich verletzen könnten. Wenn
ich mich vorbehaltlos in die Aufgabe investiere, für dieses Du ein angemessenes
Leben zu erkämpfen, stehen mir ganz andere Kräfte zur Verfügung, als wenn ich
nur an mich denke. Ich muss nicht mehr in Extremsituationen über meinen
Schatten springen, sondern bin schneller als der Schatten, im rechten Augenblick
nicht mehr an den linearen Zeitablauf gebunden. Ein erster Ansatz, die Vereinigungsmenge von Wahrheit und Liebe in der
Beziehungsarbeit zustande zu bringen, findet sich im ‚philosophischen
Sperrmüll‘. In den folgenden Jahrzehnten haben wir uns dieser Sisyphusarbeit,
die mit Camus als stinnstiftend zu kennzeichnen ist, immer wieder neu gewidmet.
Wenn es damals hieß, in der Erfahrung der Liebe seien die Modi der Entgrenzung
gegeben und in der Mühe um eine lebenswerte Gegenwart stecke unsere ganze
Wahrheit verborgen, waren die beiden Brennpunkte genannt, um die viele späteren
Einsichten kreisen. Es musste uns einfach wieder klar werden, was wir
als Kinder einmal gewusst haben: Bei vielen gemeinsamen Tätigkeiten geht es nur
nebenbei um den Austausch von Information, sondern vor allem um den Kontakt,
die Aufmerksamkeit füreinander, die Kultivierung der Präsenz. Wenn sich das
Verhältnis der Geschlechter auf den puren Sex reduzieren ließe, käme die
Menschheit ohne Machtspiele und Unterdrückung, ohne Hierarchieprobleme und
Kriegsszenarien aus. Doch dazu müssten die Heranwachsenden im rechten Alter lernen,
nicht durch schlechte Beispiele und verführerische Bildwelten in die Irrwege
der konfliktuellen Mimetik abzubiegen. In der Folge lieferte der Sex als l’art
pour l’art wie nebenbei den Zugang zu einer viel umfassenderen Form von
Kommunikation, dank der wir in einer Gegenwart landen, die mit Whitehead die gesamten
Verknüpfungen der Zeit bereitstellt, für Momente also eine Ewigkeit. Für
Kierkegaard berührten Zeit und Ewigkeit einander in jedem erfüllten Augenblick
– allerdings ist im auf ihn folgenden Jahrhundert die Illusion einer erfüllten
Zeit unter der massenhaften Produktion von Lebenssinnersatz zerplatzt. Alle noch nicht industriell verwerteten
Zugänge zum Heiligen finden heute in den Lebenskünsten des Geheimen statt, sind
mehr oder weniger zufällige Funde, die von keiner Tradition weiter gegeben
werden, weil alles, was in der multimedialen Reproduktion abgenudelt wird, zugleich
entwertet ist. Kostbare Entdeckungen gehen mit der Geschichte der Finder wieder
verloren, was sie vielleicht sogar für künftige Generationen rettet. Gegen
diese kulturelle Entwicklung befördern hormonell unterfütterte Abstraktionsversuche die Wahrnehmung eines kategorialen
Nichtbegriffs in unserem Leben. Was einmal unter der Kategorie der Substanz
verstanden wurde, hat sich als zufällige Schwerkraft erweisen, die die Prozesse
vorgibt, die wir gewohnt sind, als Lebendigkeit zu empfinden. Jenseits aller
narzisstischen Selbstermächtigungsversuche haben wir uns an die/den Geliebte/n
zu verlieren, um erst dann zu Wahrheiten des Selbst zu finden. Der immer vom
Selbsthass angetriebene Eigendünkel wird über den Umweg der/des Anderen von
sich selbst erlöst, wenn vollendete Intensitäten das Herrschaftsbedürfnis löschen.
Völlig erledigt, in einem Status des harmonischen Verklingens, lassen wir wie
selbstverständlich Geschichten gewähren; mit der Zeit macht diese Erfahrung des
Nichts subliminale Gesetzmäßigkeiten offenbar, bis sie in Erfahrung verwandelt
an uns teilhaben. Diese Pflege des Wahren und Schönen könnte eine andere
Bildungsfunktion freisetzen, die eine Form des Guten jenseits von Rivalität,
Geilheitsdressur und Ersatzbefriedigung ermöglicht. Jenseits des durch das
Christentum vorgegebenen Triebverzichts und jener Kompensationsfunktion der
bürgerlichen Künste, die die Entfremdung noch tiefer einschrieb, indem sie
versprach, ihre Überwindung innerhalb einer gesellschaftlichen Nische konsumierbar
zu machen. Das Wahre, das Schöne, das Gute treten dann nicht in der
Innerlichkeit des selbstdisziplinierten Subjekts zu einer Einheit zusammen –
was den Wahnsinn einer psychischen Bombenstruktur erklärt –, sondern das Wahre,
das Schöne, das Gute sind in der körperlichen Vereinigung erfahrbar, während
Grenzen überschritten werden. Aus der Perspektive jener explosiven Psyche
darf es die wahre Schöne genauso wenig geben wie das kluge Schöne – sonst wäre ein
Zerspringen zu befürchten. Diese sprachlichen Spielereien mögen Metaphern für
einen weltgeschichtlichen Sprung in der Schüssel sein, in der die Wahrnehmungs-
und Wissensweisen männlichen und weiblichen Erfahrens auseinanderdrifteten –
die Vertreter/innen einer pseudoalternativen Emanzipation der Geschlechter
plädieren dann für das asexuelle Verhältnis einer klugen Frau an der Seite
eines begabten Mannes. Mit dem Ergebnis: Schön ist die Lüge und wahr ist der
Tod! Das Schöne und das Wahre werden hier zu Gegensätzen nach der Vorgabe
Feminin versus Maskulin, als müsste sich erst noch erweisen, warum es
tatsächlich nur Mischungsverhältnisse gibt. Unter solchen Vorzeichen der
Verleugnung ist die machtgierige Frau, die sich für die Wahrheit zu ereifern
scheint, nicht weniger paradox, wie der effeminierte Mann, der in klassizistischer
Manier als Simulant des Wohlwollens posiert. Beide versuchen sich an einer
scheinhaften, auf dem Opfer der realen Befriedigung basierenden Versöhnung: Sie
inszenieren die in Schönheit gekleidete Wahrheit, weil sie ihren Vollzug
verpasst haben.
Dem früheren,
noch unentschiedenen Entwicklungsstatus entspricht eine Verliebtheit, die der
familialen Homöostase des Elends gehorcht. Erst die durch Identifikationen
bewirkte Eingeschlossenheit in eine imaginäre Welt, die Lebenslüge und Verzicht
zu kaschieren hat, bringt jene Besessenheiten durch Bilder des eigenen
Begehrens hervor. Das als Verliebtheit codierte Begehren, geliebt zu werden, beinhaltet
den narzisstischen Machtanspruch, das Objekt des Begehrens habe die Zufälligkeit
meiner Existenz als Einschränkung seiner Möglichkeiten zu akzeptieren. Doch das
Ich, das sich auf den Schwingen der Hormone in einer Position der Absolutheit
situieren möchte, ist tatsächlich nur ein erbärmlicher Statthalter der
Gesetzmäßigkeiten einer Sozialisation, die es der Selbsthaltung des
Familiensystems unterwirft. Weil unter diesen Vorgaben keine erfüllende Erotik
zu erwarten ist, ersetzt der Sexualneid mehr oder weniger schnell den
erfüllenden Sex. Dieser Substitution ist die Behauptung zu verdanken,
sogenannte Sexsüchtige versuchten die innere Leere zu übertönen – eine
Argumentation, die bis auf Pascal zurück geht, der notierte, dass alles Unglück
der inneren Leere der Abwesenheit Gottes zu verdanken sei: Gott erfülle die
Zeit. Wer ihm diesen Raum nicht einräume, versuche die empfundene Hohlheit
durch Hektik und Betriebsamkeit zu übertönen, durch Zerstreuung zu vergessen. Dabei
dient in Zeiten, in denen das Geld zum Gott der westlichen Welt geworden ist,
der Zwang, andere Menschen zum Masturbieren zu verwenden, viel eher den Versuchen,
die Affenhorde des inneren Monologs zum Schweigen zu bringen. Jene Argumentation
ist auf dem Mist des Triebverzichts gewachsen und zeugt vor allem vom Mangel an
geschlechtlicher Erfahrung. Was für einen Pascal der Abgrund der Verworfenheit
war, wird für den Adepten östlicher Weisheiten zum Gipfel der Erleuchtung – im
Westen hat der Kapitalismus als Religion dagegen als therapeutische Nische den
von Bohrer auf den Nenner gebrachten ‚Poetischen Nihilismus‘ geprägt. Unter dem
Druck von staatlichen Institutionen und gesellschaftlicher Entwicklung hatte
eine ästhetische Wissenschaft der Zeiterfahrung
keine Chance, woraus die radikale Verneinung jeglicher Standards der
raumzeitlichen Orientierung zugunsten ästhetischer Stimmungen resultierte. Anstelle
einer kontemplativen Konzentration auf reine Gegenwärtigkeit entstehen Klagen
über ihr Verpassen; Gegenwart sei immer erst im Nachhinein, in ihrer Abwesenheit
zu erfassen, weiche ansonsten aber der Simulation. Doch gerade die
entgegengesetzte Geistesbewegung, die Kultivierung der inneren Leere und des
Verlusts der gewohnten Vorstellungsrepräsentanz kann in ein Tun um des Tuns
willen münden, in eine Erfahrung um der Erfahrung willen. Wer völlig in einer
Tätigkeit aufgeht, selbstvergessen mit den Routinen verschmilzt, die der
Materialität eines Gegenstands gehorchen, den Gesetzmäßigkeiten einer Situation
entsprechen, folgt vor allem den vorindividuellen Impulsen der Mimesis.
Gruppenbindende Erfahrungen verweisen das Ich auf die Zuschauerbank, sportlicher
oder kriegerischer Ehrgeiz mag zu einer infinitesimalen Annäherung an die Unmittelbarkeit
der Präsenz taugen, während die Übung am Sex pur mit den nötigen Routinen noch
ein wenig näher an die Punktualität des Jetzt herankommt. Unter der richtigen
Voraussetzung verabschiedet ein Bewusstwerden der notwendigen inneren Leere das
Subjekt von allem Tun-als-ob, von allen besessenen Zielvorstellungen,
verwandelt also den Zwang einer dauernden Beschleunigung in Richtung Zukunft
zurück in einen konvulsiven Zeitpunkt von Präsenz. Im Gegensatz zu diesem Eintauchen
in den Augenblick potenzieren alle Arten Süchtige die Abwesenheitsdressur, um die
Angst vor dem anderen Geschlecht, die Angst vor dem Tag, im Endeffekt die
galoppierende Angst vor der Angst zu bewältigen – doch jede Angstbewältigung bestätigt
hinterrücks immer die Angst. Dieser metaphysische Zwang ist vor allem ein
Resultat von Körperverleugnung und Askese, verdankt sich dem Tabu auf dem Geschlecht,
also der Unfähigkeit, göttliche Energien zu inkarnieren und damit zu verwirklichen.
Alle ideologischen Überbauten modellieren die Menschen, wie Onfray plausibel
und für tout le monde zusammenfasste, mit dem Zugriff auf körperliche
Bedürfnisse, damit sie sich ihrer eigenen Kräfte entledigen. Die mit Familie,
Schule und Kirche verbundenen Ideale des Wissens, der Religion und der Moral
haben die Körper gefügig gemacht: Je mehr man Menschen entsexualisiert, desto
besser funktionieren sie – sie haben mit zusammengebissenen Zähnen zu besitzen,
zu akkumulieren, zu konsumieren, während sie eigentlich lieben, genießen und
jubeln sollten. Die Reduzierung der Sinnlichkeit auf eine gesellschaftlichen
Imperativen unterworfene Genitalität diente der Abwesenheitsdressur, die die
Monogamie in eine Qual von Einfallslosigkeiten verwandelte, die Treue zum
Sprungbrett zwanghafter Seitensprünge machte und tatsächlich nur eines garantierte:
Die staatliche Erpressung dauernder Zeugungen. Vom schwachsinnigen Imperativ
der Fortpflanzung profitieren Großinstitutionen und Diktatoren, während Paare die
Erfahrung machen, dass die Gelegenheiten gemeinsamer körperlicher Erfahrungen mit
jedem Kind minimierter werden – es gibt genug Elend auf der Welt, das durch die
Nachproduktion von Kanonenfutter und Kirchgängern nicht zu rechtfertigen ist. Dem
stehen vereinzelte erotische Erfahrungsformen gegenüber, die nicht nur das
Leben adeln, sondern Gemeinsamkeiten befördern. Jenseits des Abbaus von
Spannungen, der Förderung von Gesundheit und Lebendigkeit, dem Erleben der
eigenen Geschlechtlichkeit, die schon allein für sich sprechen, gibt es den zweisamen
Weg der Teilhabe an einer Macht der Schönheit, einer erotischen Reinigung des
Spirituellen. Wir haben die Chance, diesen Zugang des gegenseitigen Erkennens für
eine qualitativ höhere Sphäre der Kommunikation zu erobern, die alles Geschwätz,
alle eitlen Selbstdarstellungen oder konfliktuellen Vergleiche überflüssig
macht. In diesem Zusammenhang ist Max Benses wissenschaftstheoretisches
Postulat: ‚Warum man Atheist sein muss‘, für die Beziehungsarbeit zu
reaktualisieren und zu totalisieren. Religionen blockieren diesen Weg, weil
ihre Rechtfertigung als Institution in einer perversen Verkehrung gerade von Ersatzbefriedigung
und Fetischismus abhängt – sie brauchen die Schuld, bringen das schlechte
Gewissen systematisch hervor, um ihren Herrschaftsanspruch durchzusetzen. Nach
Foucault übt die Macht, die niemand wirklich besitzt,
die gerade von den kleinsten biographischen Momenten organisiert wird, ihre
Zugriffe auf die Lebenswirklichkeit der Körper über die Sexualität aus. Von der
Beichte zur psychoanalytischen Sitzung sublimieren Geständnistechniken, die der
Form religiöser Abstraktionen einer Sünde des Fleisches folgen, sexuelle
Energien in gesellschaftliche Anpassungsleistungen und politische Konformismen.
Die aufgedeckten Zugriffsformen dieser Macht machen deutlich, warum die Sexualität
eine funktionelle Grundlage jeder institutionalisierten Gewalt ist. In der
Sünde des Fleisches kehrt, wenn gewisse Einsichten eines Pascal gegen den
Strich gebürstet werden, ein inverser Gott der Liebe wieder. Die Kirche als
abstrakt wuchernde Perversion körperlicher Verzichtleistungen gibt eine aus
Sexualneid und Herrschsucht geflochtene Schematik für spätere Institutionen vor.
Das Diktum der Sünde irrealisiert eine im Verhältnis des reziproken Begehrens der
Geschlechter begründete Gerechtigkeit, rechtfertigt die historisch entstandene,
überformende und vergewaltigende Machtausübung. Menschliche Sexualität ist jene
grundlegende Funktion, die wie selbstverständlich in den Jahrhunderten den Angelpunkt
religiös legitimierter Machtmechanismen bedienen konnte, weil diese
ursprünglich erst aus ihr hervorgegangen sind – der Tausch von Fleisch gegen
Sex oder die Tempelprostitution sind frühe Stadien der Differenzierung. Nur aus
dem Grund war es für uns möglich, mittels regelmäßiger körperlicher Übungen,
die sich selber trugen und keinen Vergleich nötig hatten, wie nebenbei dafür zu
sorgen, institutionelle Besitzansprüche auflaufen zu lassen. Die Krüppelzüchter
wollten, dass wir uns mit ihnen beschäftigten, uns mit ihnen relativierten –
wir wussten Schöneres, widmeten uns körperlichen Intensitäten, die keine Götter
neben sich duldeten. Wir hatten überhaupt keinen Grund, die der Frustration
gehorchenden Todeswünsche und Vernichtungsdirektiven zur Kenntnis zu nehmen, die
meisten bemerkten wir nicht einmal; unbesehen wurde die Annahme verweigert,
also gingen sie wieder an die Absender zurück. Viele der infamen Strategien,
üblen Nachreden und ausgekochten Schweinereien wurden traten erst Jahre später ins
Bewusstsein, als wir liegengebliebene Zeitdokumente nachträglich in stimmigen
Text verwandelten. Jeder Durchgang legte mehr Fäden frei, deren Verknüpfung ein
absurdes, von Bildungsbeamten ausgeklügeltes Wahnsystem greifbar machte.
In den
Kleinkriegen institutioneller Abhängigkeiten haben wir für jede minimale Chance
hart und selbstverleugnend zu arbeiten, ohne trotz aller Mühe und den besten
Voraussetzungen einen Ruhe spendenden oder Kraft gebenden Erfolg zu sehen – wir
unterstehen einem fremden Zweck, sind nur ein Material, das abgenutzt zu werden
hat. Gegenüber dieser sinnlosen Erfahrung von Welt verwandelt die erotische
Einswerdung sich in eine Überfülle an Sinn, die Augenblicke momentaner
Unendlichkeiten aber zur Rechtfertigung all der Mühen. Wirkliche Lustpolitik
stellt die innere Leere willentlich her, arbeitet an der Löschung eines Wustes
an Vorstellungen, brennt die imaginären Ängste in einem sich verschwendenden Feuerwerk
ab. Erst die Reibungen und Widerstände, mit denen uns der/die Andere auf den
Leib rückt, mit denen die Sehnsüchte einer imaginären Einheit auf einmal als
Belästigung oder Bedrohung erscheinen, machen den Schritt zur authentischen
Erfahrung der Liebe möglich. Doch weil wir Menschen träge sind, immer wieder
auf ursprüngliche Prägungsmuster regredieren, wird diese Erfahrung durch einen
dauernden Kampf geprägt, den nur ebenbürtige Partner aushalten. Was dem
weiblichen Teil der Menschheit seit Jahrtausenden angetan wird, ist entsetzlich
– schon deshalb müssen wir uns vor Negationen hüten, die bis in die aktuellen
Emanzipationsanstrengungen Vernichtungszwänge transportieren. Im Ringen
zwischen physischer Gewalt und psychischer Manipulation wirken hinterhältige
Tricks eines Systems von Behinderungen nach, die die besten Vorsätzen aushebeln:
Oft dienen ihnen die damit verknüpften Enttäuschungen als besonders fiese
Einfallpforten.
Mit Ortega y
Gassets Abhandlung ‚Über die Liebe‘ ist an die biomagnetische Resonanz der
Schönheit zu erinnern. Gegen die Reduktion ihrer Wirkungsmacht auf die
Projektionen des Subjekts – Schönheit liege nur im Auge des Betrachters – und
den wahnhaften Zuständen der Verliebtheit, die eine der Komplexitätsreduktion
verdankte Besessenheit sind, widmete er sich der Spekulation, nach der die
Liebe eine Gewalt der Kosmologie ist, eine Kraft der Optimierung und Veredelung
innerhalb der Gattungsgeschichte. Mittlerweile hat die Paläoanthropologie erwiesen,
wie der Geschlechtsverkehr seit jener Zeit, als die hormonell bedingte Brunst
ausfiel, für die Frau nicht einfach ein Mittel zur Fortpflanzung, sondern über
die Familiarisierung der Männchen ein wesentlicher Aspekt der Kultur geworden ist.
Die Vermenschlichung der animalischen Sexualität ergab sich aus Veränderungen
im weiblichen Körper. Solange ihre Sexualität ein Antrieb der menschlichen
Gesellschaft blieb, waren tatsächlich Frauen spirituelle Inspirationsquellen
der Menschheit – später war ihnen diese Rolle nur noch als Musen oder femmes
fatales gegönnt. Ein operationaler Umgang mit dem eigenen Geschlecht, die damit
möglich gewordenen Abstände von Zwang und Notwendigkeit, das Spiel der Schönheit
mit Reiz und Verführung, lieferten einige der Ursprünge des menschlichen Bewusstseins.
Was immerhin die verdrängten Ursprünge der Misogynie erklärt; weibliche Magie wird
noch heute von Krüppelzüchtern oder verstümmelten Machtbesessenen als derartige
Bedrohung erfahren. Wir mögen uns noch so bemühen, solange es nicht gelingt,
über uns hinauszugehen, um uns in der Vereinigung zu gewinnen, können wir die
Traumen vergangener Generationen nicht an den Versuchen hindern, uns zum
Scheitern zu verurteilen. Aber wir können aus den Kommunikationsdefiziten
verdankten Aggressionen und Frustrationen nach und nach die notwendigen
Schlussfolgerungen ziehen; aus diesem Grund ist in unseren Texten immer wieder
von der Liebe als Duell die Rede. Wenn es knallt
und brennt und wehtut, kommen wir den tabuisierten Wahrheiten oft sehr nahe –
wir dürfen nur nicht vergessen, uns zusammenzuraufen, solange es noch geht. Die
glatte Konvention der vorbereiteten Eheanbahnung minimiert von Anfang an die
Bereitschaft einer Arbeit an der Beziehung; wer auf das Klischee vertraut, ein
gemeinsames Leben gelinge ganz von allein, wird schnell mit den traditionellen
Erwartungen alleine gelassen, mit einem Misslingen konfrontiert. Selbst nach
dem günstigen Zufall einer schnellen Verliebtheit stoßen tatsächlich zwei biographische
Weltsysteme aufeinander, in denen auf den meisten Erwartungsfeldern ganz
verschiedene Prämissen gelten, die in mindestens drei zurückliegenden Generationen
geprägt worden sind. Solange dieses Duell sexuell überformt wird, liefert uns
die geduldige und regelmäßige Übung die Gelegenheiten, einen Wust an Negationen
und Verwünschungen in lustvolle Entladungen erotischer Gewitter umzuleiten – vor
allem guter Sex macht glücklich, alles Weitere sind, wenn es weiter geht,
sublimierte Folgeerscheinungen. Wie nebenbei bewahrte uns eine variantenreiche
Verfeinerung des actus purus vor der letzten Gefahr eines Überdrusses am
immergleichen Partner. Für die allgemeine Befriedung eines Verhältnisses der
Geschlechter, damit für eine Befreiung beider Geschlechter von den Hypotheken
der Vergangenheit, bedürfte es tatsächlich eines fundamentalen Umbaus aller
Gesetzmäßigkeiten, aus denen Institutionen entstehen.
Wir brauchen ein
energetisches Geschehen, das die Liebe wach und aufmerksam erhält, weil sie das
Kraftwerk des Selbst befeuert, das Bewusstsein erweitert, die Aufmerksamkeit
füreinander freisetzt und damit die energetische Kapazität ankurbelt.
Entscheidend ist eine Beziehung zwischen Gleichen, die sich nicht gleichen, ein
symbolischer Tausch, der die Reibungsenergien freisetzt und für ein energetisches
Spektakel sorgt, demgegenüber einem Narziss die Luft ausgeht. Ab einer gewissen
Spannung springen die Funken über; mit der nötigen Übung wird eine Ranghöhe
erreicht, die Geistesblitze freisetzt. Im besten Fall sind wir zu selbsterfüllenden
Prophezeiungen in der Lage, mit deren Hilfe die biographischen Verwicklungen in
Aufgaben münden, die fast von allein zu einer Lösung finden. Es ist eben nicht
nur die Verzweiflung oder die extreme Ausgeliefertheit, die zum Wirkungsgeschehen
Schneller Brüter führen: Ein die körpereigenen Drogen befördernde Spiel mit den
Partialobjekten kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Eben weil der Tod der
Spieleinsatz des symbolischen Tauschs ist, kann der Sex, wenn es darauf ankommt,
als l’art pour l’art und kleiner Tod die Duellbeziehung außer Kraft setzen. Die Liebe,
wenn sie zündet, ist das umfassendste Kommunikationsgeschehen, das wir uns
vorstellen können – alles andere ist nur Überleitung, Ersatz oder Verzicht. Die
Liebe wird zu einem sozialem und gesellschaftlichen Körperkunstwerk, einem
Vermittlungsgeschehen erster Ordnung – noch dazu ist sie ein Generator, der ein
wenig mehr Qualitäten der Kraft und der Güte in die Welt zu bringen in der Lage
ist. Es ist die durch körperliche Erfahrungsweisen vorgenommene Beweisfigur,
dass wir uns nur über den Umweg des anderen in unserer Lebendigkeit gewinnen,
dass die wirkenden Gesetzmäßigkeiten über den individuellen Versuchen
anzusiedeln sind, eine haltbare Ordnung herzustellen. Das biographische Zentrum
wird erst dort echt, wo der Ich sich hingibt, sich auf ein Geschehen einlässt,
während dem das Hier und Jetzt zum maßgebenden Medium wird. Das erklärt wie
nebenbei, warum die Simulanten der Selbstheit eine derartige Wut des Vergleichs
und der Rivalität nötig haben, um doch an Intensitäten teil zu haben – zwar
dann an schlechten, an solchen der Qual und der Bosheit, aber das ist immer
noch besser, als im ausbruchssicheren Gefängnis der Selbstdarstellung zu verkümmern.
Seit Freud zeigen verschiedenste Untersuchungen, auf
welche Weise die Familie als Keimzelle des Staates die individuellen
Lernschritte im Sinne der gesellschaftlichen Vorgaben einschränkt und
kanalisiert. Die Techniken einer psychischen Veränderung durch veränderte
Bewusstseinszustände konkurrieren mit dieser Normierung, wenn sie die gewohnt
gewordenen Wahrnehmungs- und Zuordnungsweisen verweigern, modifizieren oder annihilieren.
Fraglich wurde vor allem die unhinterfragte Vorgabe einer Wirklichkeit, die die
familiale Homöostase prägte und die dank ihr reproduziert wird. Der Bruch mit
den vorödipalen Erfahrungsformen erweist sich als wichtigste Schaltstelle, die mnemotechnologischen
Grundlagen der Ohnmacht verdanken wir dem Mutterbezug. Der darauf aufbauende,
nach dem Vorbild des Vaters entworfene Modus vivendi und die einhergehenden
Versagungen, Verleugnungen und Kompromissbildungen mögen nicht weniger zum
tragbaren Gefängnis des Ichs taugen – aber es ist sinnlos, sich an ihnen
abzuarbeiten, solange die Machtmechanismen der psychotischen Entdifferenzierung
nicht ausgehebelt wurden. Jede große Liebe steht in einer absoluten Konkurrenz
zu jener primordialen Strukturierung, durch die das Selbst ein Teil der Mutter
und diese Einheit der Vorhof des Purgatoriums ist. Wir hatten nicht das Glück,
Produkte einer ‚good enough mother‘ zu sein, die ihr Baby in die Lage versetzt,
selbst mit dem Denken anzufangen, um schließlich durch die Verinnerlichung
eines 'denkenden Objekts' autonom zu werden. Sondern unsere Erfahrung
resultierte aus ihrem Besitzanspruch – an eben dieser Schaltstelle hatten wir die
Anschlüsse zu kappen, mit dem sich Institutionen in unbarmherzige Übermütter
verwandeln. Wir waren ein unter Schmerzen und Ängsten entstandenes Erzeugnis
dieser Mütter, also ihr Eigentum: Eine Prothese, mit der sie dachten, sich das
Leben auf Kosten unserer Lebendigkeit und Leidensfähigkeit erträglicher zu gestalten.
Schon deshalb fürchteten sie von Anfang
an die Möglichkeit einer/s Konkurrentin/en, arbeiteten schon vor der Zeit mit
aller Kraft an der Diffamierung und Verwünschung – aber aus eben diesem Grund
waren wir später hellhörig, allergisch gegen die Vereinnahmung durch religiöse,
politische oder wissenschaftliche Systeme. Alle fehlerhafte Identifikation programmiert
die Unfähigkeit, sich für Anderes oder den/die Andere/n zu öffnen, sie behindert
echte Lebensfreude, macht zu eigenem Denken und Empfinden unfähig, von der
Offenheit für eine nichtinstrumentalisierte Liebe ganz zu schweigen. Während einer
Probezeit von siebzehn Jahren wurden die Sozialisationsagenten verschiedener
Institutionen zu den späten aber wichtigsten Verbündeten dieser Mütter einer
Liebe als Duell und damit zu erbitterten Feinden unserer Beziehungsarbeit. Wir
verdanken ihnen im Resultat alles, was wir zustande gebracht haben – die in der
selbstvergessenen Verliebtheit sistierte Liebe wäre spätestens am Schmerz der
Ernüchterung durch die Prosa des Alltags eingegangen, während ihr die dauernde
Infragestellung jene Dauer sicherte, die nach und nach für ein stabiles
Repertoire gegenseitigen Vertrauens sorgte. Die Besitzansprüche dieser Mütter
und der ihnen folgenden gesellschaftlichen Mächte wurde stimmig durch
körperliche Vollzüge als nichtig erwiesen; weil es rund lief und flutschte,
blieben wir nicht an der Frage nach dem Sinn des ganzen Unternehmens hängen. Der
Imperativ des Folge-mir-nach war ohne Mühe einfach zu übergehen; den
Identifikationsleistungen von Krüppelzüchtern mochte bereits diese Ignoranz
wehtun, die Rechtfertigung ihres
Konformismus bekam Risse. So geschah es, dass die aus der Wut über eine mangelnde
Resonanz resultierenden Verwünschungen, die ausgeheckten Intrigen, von eben
diesem Mangel an Resonanz, durch die Rückspiegelung ihrer bösen Negationen
erledigt wurden: Annahme verweigert, zurück an die Absender.
In den Nachwirkungen der Gewalten des frühen
Mutterbezugs sind Reminiszenzen an archaische Erdzeitalter lesbar. Saner
liefert plausible Schlüsse zur Unterstreichung der Vermutung, der Mythos von
der todesbezwingenden Kraft von Liebe und Musik sei älter als der männerrechtliche
Systemwechsel der Kultur, den der Orpheus-Mythos dokumentiert. Dieser hat
Anregungen einer altsumerischen Sinnstiftung aufgenommen, die auf einem
Wettstreit der göttlichen Schwestern Liebe und Tod beruht, aber durch die Macht
der Musik ihres jüngeren Bruders und Jugendgeliebten Frühling für die Liebe
entschieden wird. Die Totengöttin kann den Liedern voller Sehnsucht und Schmerz,
den sprießenden Säften und schießenden Trieben Frühlings nicht wiederstehen.
Entscheidend an dieser Konstellation eines Wiedergeburtsmythos ist das
Geschehen zwischen weiblichen Mächten – ohne die Verschwisterung von Liebe und
Tod gäbe es keine Erneuerung im Reich des Seienden. Die schamanistische Reise
in die Unterwelt gestaltet eine Wiederkehr aus dem Reich der Toten durch die
Macht der von der Liebe durchdrungenen Musik. Im Ischtar-Mythos verstummt die Gewalt
der Kämpfe zwischen Liebe und Tod; er endet heiter, ohne alle Tragik, weil der Liebe
weiblicher Göttinnen männliche Säfte assistieren. Die Töne einer durch die
Liebe beseelten Stimme gehen mehr zu Herzen als bloße Worte, besänftigen selbst
den Zorn einer Todesgöttin, deren Jugendgeliebter Frühling ebenfalls war. Die einen
Menschen ergreifende Musik übersteigt wie die Schönheit die Kraft der Worte, stiftet
eine Welt jenseits der Antagonismen und Zwiste. Dagegen modifizieren die
klassischen Versionen des Orpheus-Mythos das Ergebnis durch den unaufhebbaren
Antagonismus von Liebe und Tod, nichts weist mehr auf ihre Verschwisterung hin.
Musik oder Kunst werden umso ergreifender, umso mehr sie sich der vergeblichen
Liebe, der Trennung und Abwesenheit der Geliebten widmen, geraten zum
wehmütigen oder schwülstigen Surrogat des realen Vollzugs. Bohrer hat die
‚ästhetische Negativität‘ als Ausweichbewegung gekennzeichnet, die eine aus
verpassten Vereinigungen der Liebenden resultierende Melancholie in
ästhetisches Pathos und die Wollust des dargestellten Schmerzes transformiert.
Mit dem Erhebungsmotiv der abendländischen Lyrik werden Geliebte umso
begehrenswerter, umso immateriell unerreichbar sie sind; mit der romantischen
Liebe hat sich der Liebeswunsch im schmachtenden Begehren derart zu verzehren,
dass jede Erfüllung nur mit Enttäuschungen aufwarten kann, ihr aus diesen Grund
regelgerecht ausgewichen wird. Und die Regel ist uralt: Orpheus wird im noch jungen
Patriarchat bereits durch die Versuchung, den Logos zu transzendieren, zu den
Verzichtleistungen der kulturschwulen Vereinigung geführt, die schließlich mit
der Vernichtung des Heros endet. Die Rettung Eurydikes misslingt, und Orpheus‘
Versuch, unter Verzicht auf die weibliche Welt mit Jünglingen ein der sublimierten
Kunst Apollons gewidmetes Leben zu gestalten, nimmt ein tragisches Ende durch orgiastische
Frauen, den Dionysos begleitende, rasende Mänaden. In diesem gedoppelten
Scheitern könnte eine Bedienungsanleitung aufgeschlüsselt werden, wie die
Spätfolgen eines Kampfes der Geschlechter zu bearbeiten sind. Vorerst ist hier
nur zu unterstreichen, warum dem Sänger der apollinischen Musik ein dionysisches
Schicksal bereitet wird. Der Vater aller Gesänge hatte ein verfeindetes
Doppelreich von apollinischen und dionysischen Energien harmonisch zu organisieren
– maximale Gegensätze in einer Harmonie zu vereinen, macht tatsächlich den Reiz
und die Kraft großer Kunst aus. Was unauflösbar in Gegensatz und Streit
verflochten bleibt, wird sich allerdings unbarmherzig gegen jeden Orpheus wenden,
der sich für nur eine der beiden Seiten entscheidet.
Dieses
verfeindete Doppelreich taucht als tragische Kleinkunst mit den verschiedensten
Verkleidungen in der bürgerlichen Familie wieder auf, um die Sozialisation in
ein den Nachwuchs gefährdendes Blendwerk der Lebenslüge zu verwandeln. Die
Präsenz der zeitlichen Erfahrung wird bereits zum Nachher der sekundären,
selbst der Genuss liegt nicht mehr im aktuellen Genießen, sondern wird im
Nachhinein zur bewussten Reproduktion, womit die Erinnerung nicht mehr als
Bewahrerin der Präsenz fungiert, sondern diese bereits der Zensur unterstellt. Wenn Zuwendung nicht von Abweisung unterschieden
werden kann, das Gute zugleich das Schlechte ist, wird alles Erstrebenswerte
zugleich höchst bedrohlich und das Geschenk des Lebens zur Eintrittskarte in
eine lebensgefährliche Strafexpedition. Die Konzeption solcher grundlegender Double-binds
führte Bateson zur Thematisierung der Sprünge von einem Kontext in den
umfassenderen Kontext dieses Kontextes. Innerhalb eines Systems sind dessen
Widersprüche nicht aufzulösen, erst die Perspektive von außerhalb macht es
möglich, sich der bannenden Macht seiner Zwänge zu entwinden. Mit dieser
theoretischen Ausrüstung waren die Erfahrungen der Zersplitterung von
Gewissheiten und der Notwendigkeit einer Bewusstseinserweiterung bereits in ein
Verhältnis setzen, während wir den Einwirkungen einer Katastrophenpädagogik
ausgesetzt waren. Einigen Büchern verdankten wir Anregungen, um diese Erfahrung
positiv zu kodieren und mit ihr eine Beschleunigung unseres geistigen Wachstums
zu verbinden. Die Erfahrung des sozialen Todes führte folgerichtig auf die Konsequenzen
eines Lernens in der Katastrophe: Konkrete Schritte wurden in der ‚Katastrophenpädagogik‘
dokumentiert. Den Kundigen springt die nahe Verwandtschaft von Katastrophe und
Kairos an! Der günstige Augenblick will ergriffen werden, schon die Griechen
gingen davon aus, dass im Falle des Verpassens die Katastrophe droht. Nachdem
einer/m alle Sicherheit genommen wurde, gingen die über Jahre aufgebauten Selbstverständlichkeiten
unter den einkesselnden Invektiven einer Intrige zu Bruch; ob ein sorgsam gepflegtes
Wissensrepertoire oder die gewachsenen Routinen der Verfahrensabläufe beim
Jobben, sie wurden systematisch irrealisiert. Weil sexualgestörte Bildungsbeamte
unseren Lebensalltag mit Hilfe einer Meinungsmaschinerie unterminierten, die
von der Flüsterpropaganda, über gehässigen Tratsch, bis zu in den Medien
lancierten Irrealisierungen reicht – legten uns die mit den täglichen Routinen verbundenen
kleinen Erfolge des Widerstehens nahe, die Intensitäten einer elaborierte
Sexualität als Schutzschild aufzubauen. Gegen die durchsichtigen Versuche
dauernder Frustrationen und Subalternisierungen erweist sich ein System von
Belohnungen der Lust umso wirkungsmächtiger, umso mehr sie sich in eine
Bejahung der Lebendigkeiten verwandelt, also mit den affirmativen Gesetzmäßigkeiten
des Lebens eins wird. Sie mag als elementarer Ausdruck des Selbsterhaltungswillens
beginnen, doch wenn gemeinsame Orgasmen in messianischer Präsenz münden, wird die
Ewigkeit im erfüllten Augenblick komprimiert. Was zählt all der Schwachsinn,
wenn wir am Schöpfungsmythos teilhaben, die Vertreibung aus der Zeit- und
Bedürfnislosigkeit des Paradieses immer wieder für ein Nu rückgängig machen.
Erst auf der Rückseite der Erfahrung eines enormen Vernichtungsimperativs
wurden Annäherungen an spezifische Erfahrungen des Widerstehens möglich, deren
Darstellung im Nachhinein nur durch sprachliche Superlative möglich ist. Die
Zertrümmerung erlernter Kategoriensysteme und gewachsener Identifikationslinien
lieferte die Voraussetzung, um magische Gesetzmäßigkeiten der Mimesis aufzuschlüsseln.
Zudem waren mit Bions Erklärung, warum und wie katastrophische Veränderungen
zur Normalität der Bewusstseinsentwicklung gehören, die Nachstellungen und
bösartigen Einkesselungen zu einer Selbstimmunisierung umzubiegen. Mit der
Konzeption der Katastrophe als Stimulans des Lernverhaltens bauten wir einen effektiven
Verteidigungswall gegenüber den psychotischen Verwünschungen auf. Wie von
alleine stellten die Routinen unserer Lustpolitik eine gesunde Instrumentalisierung
der Paranoiadressur zur Verfügung. Ein psychotisches Risiko, das die Schritte
zueinem höheren Niveau psychischer Integration begleitet, wird von
kreativer Eigenarbeit entschärft, lustvolle Praktiken kehren den Opferkult um; die
Botschaft jedes Orgasmus schreibt als universale Bejahung ins Körpergedächtnis ein,
wie lebenswert das Leben ist. Wir gingen von einer Optimierung des Lernvermögens
aus, dachten nicht einmal daran, die Waffen zu strecken oder uns aufzugeben,
übten das Aufschreiben und Durcharbeiten. Die delegierte, den mimetischen
Energien der Übertragung gehorchende Verzweiflung, die körperlichen Erregungen
und energetischen Entladungen, der damit verbundene Stress verwandelten sich in
kreative Gesten und entblößende Ausdrücke, in sprachliche Zeugungsakte und lautstarke
Wettstreite von Zitatmaschinen: Was uns an bösartigen Signalen und niederträchtigen
Botschaften zugespielt wurde, lieferte den Code, um spielerisch hinter das Wahnsystem
zu kommen, unter ihm durch zu tauchen, über seine Mittel zu verfügen, weil es
nur in Anführungsstrichen zum Zug kommen konnte. Wir gehorchten den Ansprüchen
kultureller Größen, die uns auf ein bisher unerreichtes Level transportierten,
weil sie uns vernichten wollten – um deren Regeln zu objektivieren. In der Schreibe
wurden die Todeswünsche mortifiziert, die Machtworte dank der orgiastischen
Steigerung unserer Beziehungsarbeit entkräftet, der von ihnen ausgehende Bann durch
den energetischen Schutzschirm der Ekstasen gebrochen.
Der
unmittelbaren Zukunft traten wir mit geschärften Sinnen und einem reflexartig
funktionierenden Reaktionsvermögen entgegen, nachdem die Trägheitsmomente der Selbstdefinition,
der Bedarf an Halt und Sicherheit, von der Intrige gesprengt worden waren. Sie
sollte uns vernichten, zerstörte aber nur jene Teile des psychischen Apparats,
in denen wir den Auftraggebern ähnlich waren. In klar definierten
Funktionszusammenhängen sind holographische Wahrnehmungen und psychedelische
Erfahrungen in der Regel unerträglich. Tatsächlich ist eine Psychonautik des
freien Falls die Voraussetzung für Repertoireerweiterungen des Lernens auf
einer kontextuell übergeordneten Ebene. Auszuhalten war eine Neuformatierung, weil
die induzierten Spannungen sexuell kodiert und erotisch umgesetzt werden
konnten. Zeitweilig landeten wir wieder im freudigen und sorglosen Staunen der Kindheit,
unsere faktische Welt veränderte sich ständig, auf nichts war mehr Verlass,
aber zugleich stürmten ständig neue, unerhörte Erfahrungen auf uns ein, die
unglaublich viel Zukunft transportierten. Faktizität bedeutet vor allem die
ständige Unterminierung der Besitzstände des Bewusstseins die Kontingenz. Was
unsere Sozialisation durch stabile Ausbremsungen verstellt hatte, weil wir uns für
allen möglichen Scheiß, für den wir nicht verantwortlich waren, verantwortlich
fühlen sollten, hatte der Ansturm der institutionalisierten Nichtung
liquidiert. Die Erfahrung diverser Zustände von Selbstlosigkeit war zu nutzen: Zukunft
ist in allen Religionen identisch mit einem Neuwerden.
In
der Wahrheit sein heißt, die Welt als Ganzes zu empfinden – nicht etwa zu
wissen. Das Bewusstsein kann nur dem hinterher hinken, was sich in der Wahrnehmung
für einen Moment ganz klar und wahr anfühlt. Das Ergebnis liegt jenseits der
Schwundstufe eines der rigorosen Trennung von Körper und Geist verdankten Wahrheitsbegriffs,
der die Wahrheit auf eine Funktion von Sätzen reduziert. Eine frühe Ahnung ist
in der Seelenvorstellung der Antike aufbewahrt, nach der die Seele am
Intelligiblen teilhat, aber über das Begehren in der Materialität der Welt
verwurzelt ist. Für Platon ist die Seele eine Relation ohne substantiellen Eigensinn,
sie lebt in einem Feld der Teilnahme an der Idee, wie später für Benjamin der
Name an der Idee teilhat. Dieser bruchlose Bezug zwischen Idee und Name, zwischen
Sein und Heißen kann mit Lübbe onomatopoetisch oder etymologisch fundiert
werden: Entweder was ist, heißt wie es ist oder umgekehrt, was ist, ist wie es
heißt. Im einen Fall reicht der Bezug von den sinnlichen Gleichklängen bis zur
unsinnlichen Ähnlichkeit, im anderen Fall fasst er eine Entwicklungsgeschichte
zusammen – beides aber sind Anverwandlungsweisen des seelischen Geschehens. Noch
Benjamins Thematisierung der Aura als ‚einmaliger
Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag‘ taucht die Begegnung des Ich mit
einem Gegenüber in eine numinose Epiphanie, hüllt den Gegenstand für einen
unwiederbringlichen Augenblick in ein Räume und Zeiten verbindendes Netz der
Bedeutsamkeit ein. In Präsenzkulturen war die Seele das Organ für Ganzheiten;
eine Resonanz dieses Repertoires findet sich noch im Zeitalter der
Repräsentation in Leibniz‘ Konzeption der Monade. Das Christentum ging anders
als Platon von einer wesenhaften Seele aus, um die Voraussetzung für eine Abrechnung
beim Jüngsten Gericht zu schaffen. In der Folge dieser religiösen Zwangsvorstellung
ist die Polarität Körper/Seele stimmig, noch in einer Welt der
Abwesenheitsdressur wird die Seele für Psychoanalytiker – die immerhin die
Angst vor der Nähe auf den Nenner brachten – zum schattenhaften Ersatz für eine
Beziehung von Körper zu Körper. Gegen die der Beschwörung von absoluten
Wahrheiten verdankten Gottesvergiftung der Präsenz könnte die Unmittelbarkeit
der inneren Anschauung, wie sie bei Kant auf die Konzeption einer unendlichen
Raumvorstellung bezogen war, aktualisiert in unzensierten und nicht gepufferten
Formen der Wahrnehmung einer unerträglichen Präsenz der unvermittelten Selbsterfahrung
des Göttlichen entsprechen. Unter LSD der Urgewalt der Mimesis zu begegnen, im
Zentrum der Milchstraße dem Schöpfer die Hand zu schütteln, währenddessen ohne
Unterschied zu spüren, was jedes Geschöpf erfährt, aber dabei so nah dran zu
sein, als sei es das Selbst. Zugleich zu sein, was zerfleischt und vernichtet
und was zerfleischt und vernichtet wird, damit als Teil dieser Welt im Werden an
der Potentialität eines kreativen Chaos zu wachsen. Diese Perspektive der
Wiederkehr einer Empfänglichkeit für göttliche Energien legt nahe, dass mit der
Wiederkehr der Religiosität beim späten Heine kein Widerspruch zur Kritik an
der Herrschaft der Pfaffen oder dem Interesse der Mächtigen an der Verdummung
zu vermelden ist. Mit der Wiedereinsetzung eines schöpferischen Gottesbegriffs scheint
ihm eine auf Sinnlichkeit und unmittelbare Wahrnehmung begründete Existenz möglich,
ohne wahnsinnig zu werden; der Zweifel an der Existenz Gottes stellt dagegen die
Anerkennung des Todes im Leben dar, mit der alles Vergängliche dem Nichts
verfällt. Das ist eine aus der Angstbewältigung resultierende, resignierende
Anerkennung, die Bedingungen der Möglichkeit der eigenen Existenz niemals in
der Hand gehabt zu haben.
Je
nach Konstitution wird das Metaprogrammingsystem des psychischen Apparats ein
unermessliches Nichts außerhalb des Selbst entdecken oder der Unendlichkeit eines
im Selbst kulminierenden Verweisungszusammenhangs gewahr werden. In beiden
Fällen ist Musik ein Gegengift gegen das Namenlose – wird zur Tafelschrift der
Götter, wie dies Henry Miller in einem seiner delirierenden Bandwurmsätze formuliert
hat. Weil die Dinge dieser Welt nicht über die nötige Selbstgegenwart verfügen,
sondern nur als Erscheinungen präsent sind, läuft alles aus der Wahrnehmung
bezogene Wissen ins Leere, nur die Musik ist in der Lage, die Vergänglichkeit
der sinnlichen Wahrnehmung zu überwinden, also auf Dauer zu stellen, was sonst
dem Verschwinden ausgeliefert wäre. Er wies sogar auf die ständige Vermischung
der Erfahrung der Musik mit dem Geschlechtlichen hin. Das Verhältnis zwischen
Musik und Erotik ist mit dem Raumbezug auf einen Nenner zu bringen – wir sind
in einem Geschehen drin, werden getragen von einer Woge, die ein Repertoire
freisetzt, mit dem das Verlöschen des Ichs nicht mehr zu fürchten, sondern
herbeizusehnen ist. Das Hier und Jetzt beginnt punktuell zu werden, in gewissen
Momenten gerinnt der Augenblick unter dem Einfluss von Intensitäten zu einer Ewigkeit,
es findet ein Sprung aus der Zeit heraus statt – an einer schmalen Grenze
zwischen Feuer und Eis, am Punkt des Umschlags der Gegensätze, in der Atemlosigkeit
der Erfahrung, ein Teil des Göttlichen zu sein. Diese als Verschmelzung von
Anschauung und Begriff erfahrene Einheit der zeitlichen Verschränkung in einem
erfüllten Augenblick mögen auch Techniken der Trance bewerkstelligen, Tänze die
mit monotonen Rhythmen arbeiten oder ein den Blick bannendes Objekt, das sich
in regelmäßigen Halbschwingungen vor dem Auge bewegt, tantrische Gymnastik oder
Atemübungen und rituelle Gebete. Die Intensitäten des Hier und Jetzt, des
vollen Sprechens, verkörpern nach wie vor jene göttlichen Energien, die vor
längst vergangenen Zeiten die Intention geprägt haben, gegen leere Konventionen
ein pulsierendes Symbol zu setzen, Herzkraft an Bedeutsamkeit in feinste
Äderchen der Jetztzeit und Geistesgegenwart zu pumpen. Mit Reiche liefert die
Symbolbildung den Schlüssel zur Verabschiedung der populären Geistlosigkeit eines
starren Gegensatzes zwischen ererbten oder kulturell erworbenen Fähigkeiten.
Durch das Symbol tritt ein durch die Zeit vermitteltes Drittes zwischen diese
Funktionen von Bedeutungsträgern: Dessen identifikatorische Mimetik situiert
sich zwischen angeborenem und kulturell erworbenen Verhalten. Eine
symbolgesteuerte Identifikation über Imagines, Introjekte, Repräsentanzen kann im
psychoanalytischen Verständnis wie genetisch gesteuertes Verhalten nicht mehr
verlernt, vergessen oder gelöscht werden. Damit wird die biologische Ordnung
nicht eliminiert, aber vielfältig durchbrochen, denn mit der Entwicklung der
Symbolfunktion entsteht ein Repertoire, jedem Sachverhalt eine fast beliebige
Bedeutung zu verleihen. Im Rahmen einer ‚Geschichte der Einbildungskraft‘ hat
Kamper unterstrichen, dass ursprünglich weder im Stoffwechsel mit der Natur,
noch im symbolischen Austausch der Geschlechter per se Zwänge verbunden waren.
Erst das planvolle Absehen von den Gesetzmäßigkeiten des Austauschs und des
Stoffwechsels zugunsten der Akkumulation von Macht, der missbräuchlichen
Konventionalisierung von Äquivalenten ursprünglicher Gebrauchswerte,
vereinseitigte die entstehenden Lasten und verwandelte Wert und Besitz unter
dem Sog der Abstraktion in einen stetig wachsenden Schuldzusammenhang. Sowohl ritualisierte
Verschwendung wie zwanghaftes Opferverhalten als magische Praktiken, diese
Schuld abzutragen, reichen vom Potlatch bis zum Weltkrieg, unterstehen aber in
jedem Fall galoppierenden Distanzierungen von körperlichen Vollzügen. Ordnungen
des Überflusses oder der Knappheit unterscheiden sich nur durch die Prämie
einer konkreten Realität, die in der Fähigkeit einer vom menschlichen Körper
nicht abzulösenden Symbolbildung begründet, aber vor allem aber mit der lebendigen
Zeit verbunden ist. Alle Abstraktion sorgt für ein Übergewicht des Toten; nur
die Produktivität der das Symbol fundierenden körperlichen Einbildung
verhindert das Zusammenfallen von ökonomischer und symbolischer
Vergesellschaftung, damit das Ende jenes fragilen Mobiles menschlicher Repertoireerweiterungen.
In
diesem Zusammenhang finden wir eben nicht nur den Ansatz, eine biologische
Frühgeburt mangels Instinktrepertoire durch institutionell vorgegebene
Prothesen in einen stabilen Käfig von Gewohnheitsbildungen und Traditionen
einzuschließen – sondern auch das Potential, ein virtuell vorhandenes
Lernvermögen aufzurüsten, bis es sich über Distanzleistungen auf ein Niveau des
bewussten Lernen des Lernens einrichtet. Ab einem gewissen Level sprengt diese
Lernkapazität den Imperativ der von Stellvertretung und Delegation geforderten
psychischen Verzichtleistungen, von denen Institutionen ihre Kraft ableiten.
Während Bataille von einer existenziellen Souveränität ausgeht, auf die es bei
einer personellen, sich selbst überschreitenden Subjektivität allein ankomme,
ist der institutionalisierte Souverän im Herrschaftsbereich durch Delegierte
omnipräsent – auch wenn er lediglich ein inzuchtgeschädigter, lebensunfähiger
Krüppel sein mag. Mit Blumenberg ist der Mensch das Tier, das alles selbst
machen will, aber so viel wie möglich delegieren muss, um vieles zu können und zugleich
zu bedauern, fast nichts mehr selbst zu tun. Die Menschwerdung beruhe auf dem
Prinzip Delegation, die anthropologische Wurzel des Staates sei die Fähigkeit
des Menschen zur Delegation als einer Umformung der actio per distans – das
Bedauern über diese Entwicklung vom Stein oder Speer zum Auftragskiller liefert
angeblich das Potential des Repertoires von Utopien. Tatsächlich demaskiert aber
jede Neurose als Institutionsminiatur eine Institutionalisierung, die als
Notprogramm zur Kompensation von biologischen Ausstattungsmängeln definiert
worden ist, um als Zwangsveranstaltung von Bremsvorrichtungen, die
Multifunktionalität unseres Lernverhaltens in Schach zu halten.
Im
Kontext der erkenntnistheoretischen Grundlagen Walter Benjamins habe ich einmal
beschrieben, wie entscheidend für die Authentizität des Hier und Jetzt eine
Symbolerfahrung ist, in der Darstellung und Dargestelltes verschmelzen. Je nach
Vorbildung und Konditionierung stützen sich die Spezialisten entweder auf einen
theologischen oder auf einen historisch-materialistischen Ansatz Benjamins, um Schlussfolgerungen
aus seinen Texten im entsprechenden Korsett zu präsentieren. Dabei ist der
entscheidende Trick, den Bereich des Dazwischen aufzusuchen. Nicht nur im Leben
saß er zwischen allen Stühlen, auch die theoretischen Fundierungen hat er als Relationsmetaphysiker
zwischen extremen Gegensätzen verankert, um Wahrheiten in ihrem oszillierenden
Zwischenraum aufzusuchen. In
der ersten der Thesen über den Begriff der Geschichte deutet sich an, wie jene Masse
von Gedanken und Bildern zu organisieren
sei, mit denen er sich ein Leben lang beschäftigte. Ein dafür typisches
dialektisches Bild liefert von Kempelens
Schachautomat, bei dem
eine Puppe hinter dem Schachbrett saß, während sie von einem darunter
verborgenen Zwerg, einem Meister des Schachspiels, gelenkt wurde, der jede
Partie gegen das menschliche Gegenüber entschied. Auf die Philosophie übertragen
gewinnt immer die Puppe: also der historische Materialismus, weil sie es ohne
weiteres mit jedem aufnehmen kann, wenn die Theologie in ihrem Dienst steht –
dieses Beziehungsgefüge hat Sternberger einmal als Abgrund der Macht gekennzeichnet.
Tatsächlich sind beides lediglich Repertoires einer Extremwerttheorie: Nach
Maßgabe des erkenntnis- und sprachtheoretischen Ansatzes werden Verspannungen
durch Zitatzusammenhänge hergestellt. Jedem Schachspiel liegt ein Regelkanon
zugrunde, von dem auszugehen ist, wenn Ausgang und Verlauf der Partie tatsächlich
verstanden werden wollen. Wenn de Saussures für die Linguistik das Zusammenspiel
der sprachlichen Einzelheiten mit einer Partie Schach verglich, weist dies mit
dem Blick auf Benjamins Beschäftigung mit der Sprache auf alles, was das
Spezialistenkorsett in Form bringen oder verleugnen möchte. In beiden Fällen liegt
ein System von Werten vor, deren Modifikationen mit jedem Zug zu beobachten sind. Wenn
die Bewegung einer einzigen Figur die Gesamtheit des Relationsgefüges verändert, ist gleichzeitig die
Gesamtheit des Relationsgefüges die Repräsentation der Stellung dieser Figur in
ihrer Einzigartigkeit. Eine Partie Schach wird zur modellhaften Verwirklichung
dessen, was die Sprache in ihrer natürlichen Form darstellt. Das
dialektische Bild Benjamins legt also die Erklärung nahe, warum weder Theologie
noch historischer Materialismus, sondern die über diesen Clinch herrschenden medialen
Gesetzmäßigkeiten des Dazwischen am Steuer der Entwicklung sitzen. Was für den
Analytiker die Träume des Individuums, sind für Benjamin die Moden und Künste,
Architektur und Technik – er verfolgt die gewisse Gesetzmäßigkeiten
nahelegenden Beziehungen. Als wir ins Abseits befördert werden sollten, blieb
als Ausweg nur die pragmatische Umsetzung dieser intellektuellen Spielerei, um
die nötigen Kräfte immer wieder neu für uns freizusetzen. Die selbsternannten
Gegner ließen uns für die Ausarbeitung einer machttheoretischen Sprachesoterik keine
Zeit mehr; doch es ging weiter, weil wir das Göttliche im Orgasmus zu befördern
wussten, um für Augenblicke Geistesblitze zu bewohnen, in denen sich Jetzt und
Ewigkeit kreuzten. Das Es als Raum der reinen Bewegung gilt der Psychoanalyse
als Reaktor von Symbolisierungen jenseits der Unterscheidung von positiven und
negativen Strebungen; der Trieb als Antrieb setzt selbst Geschlechtsdifferenzen
zwischen Betragsstriche. Eine ganze Reihe von Zitatzusammenhängen musste erst
einmal helfen, auf einen möglichen Nenner zu bringen, was uns dabei geschah,
hatte zu übersetzen, in Worte zu fassen, was erst einmal nur energetische
Wirkungen waren: Höre die heiligen Schwingungen, fließe mit dem Strom. Gehe
über dich hinaus, wenn du dich finden willst, aber setze nie voraus, schon
fertig zu sein. Verschwende dich, investiere alles was dir an Möglichkeiten zur
Verfügung steht, komme soweit es geht von dir weg, um für die Unendlichkeit
eines Augenblicks vom Geheimnis göttlicher Energien ergriffen zu werden. Nichts
ist festgestellt, die Magie des Namens transportiert Schöpfungen in einen
tristen und alternativlosen Alltag, das richtige Wort im rechten Augenblick
haut Umzingelungen weg. Alles ist in Bewegung, wenn du an nichts haftest, deine
Gewohnheiten gesprengt wurden, beginnst du an der Schöpfung der Welt mitzuarbeiten.
Wenn du dann noch lachen kannst, wirst du bemerken, wie selbst Bosheit und
Vernichtungswunsch als Zuwendungen zu kodieren sind, deren Energie sich verwenden
lässt – nach Kamper bewirken gerade die erlittenen Grausamkeiten die nötige
Sensibilisierungen für entscheidende Grundrisse der Welt. Du bist kein abhängiges
Geschöpf der Götter, sondern diese sind ein Resultat deiner Reinheit und Kraft.
Der Selbstvergottung mancher Mystiker/innen ist vielleicht die größte Wahrheit
abzulauschen, die Wesen aus Fleisch und Blut noch auszuhalten im Stande sind.
Es mag schon vor dir göttliche Gewalten gegeben haben, weil es schon immer Leidenschaften
gab, aber Hormone allein sind keine Auszeichnung – auch wenn jeder Mangel ihrer
Wirksamkeit als böser Fluch erfahren wird. Götter mögen als ewige Objekte Relationen
im Sinne Whiteheads sein, doch für die Realisierung von Aphrodite oder Hermes
sind die jeweils Lebenden zuständig, ihre positive Wirksamkeit beruht auf der
lebensbejahenden, die konfliktuelle Mimetik ins Schweigen befördernde
Kanalisierung der Ein- und Ausflüsse von Leidenschaften. Bereits im Schweigen,
das die Musik transportiert, entsteht jener Raum im Kleinen noch einmal, in dem
die Leidenschaften dem Namenlosen die Ingredienzien einer Semantik abringen. Gerade
weil die Musik gestaltete, materialisierte Zeit ist, verklärt sie unseren Bezug
zum Hier und Jetzt auf der Erde; die Wesensverwandtschaft von Zeit und Musik verschränkt
seit Platon das Ästhetische mit dem Theoretischen, vermittelt die Zeit des
Lebendigen mit der Ewigkeit der Idee. Zeitmaß und Wohlklang dringen unvermittelt
in den Hörenden ein, deshalb zieht er die Mündlichkeit aller schriftlichen
Unterweisung vor. Die Verknüpfung des Ästhetischen mit dem Intelligiblen ist
für ihn der Grund, warum die Sterblichkeit kein Argument ist!
Mit
Ch. Schmidt ist für eine Abschweifung weit in die Vergangenheit bis zu Damon
zurückzugreifen. Sokrates‘ Lehrer stellte sich die Frage, was unserer Seele
geschehe, wenn wir Musik hören und bereitete damit Antworten vor, die im Laufe
der folgenden Jahrtausende virulente Argumentationsfiguren in die Welt
entlassen haben. Jenseits aller Glaubenssysteme, versetzt in einen Zusammenhang
medialer Weltvermittlung, hören wir in einer Hifi-Anlage, wenn wir zu hören
verstehen, wie sich göttliche Gewalten verkörpern. Anthropologen und Musikhistoriker
stufen die Musik als Urkunst ein, die Magie des Tönens und Horchens ist noch
früher anzusiedeln, als die von Urbild oder Urwort. Die Seele, die wie alles
Lebendige in ständiger Bewegung ist, überlagert sich mit der Bewegung der Musik,
die zur Stimme der uns umgebenden Welt wird – hier entsteht jene Magie der
Rhythmen und Klänge, mit denen wir auf die Welt zurückwirken. Beide Bewegungen generieren
Kräftepfeile, die wiederrum Anlagen der Seele wachrufen, ihre musikalische
Potenz freisetzen. Dieses Wechselspiel aus Horchen und Klingen verbindet uns
mit Harmonien, die nie nur ein Verhältnis von Tönen sind, sondern der Klang
jenes kosmischen Gefüges, der als Bewegung in Maß und Ordnung selbst Musik ist,
ein Werk göttlicher Energien. Entscheidend für dieses Gefüge ist, wie die Menschen
den Göttern ähnlich werden, wenn sie glücklich sind, wenn sie sich gemeinsamen
Rhythmen hingeben. Die Musik lädt zur Teilhabe an der Harmonie des Kosmos ein,
Liebende erfahren das musikalische Maß als Gabe: Ihre Körper werden zu
Musikinstrumenten, die sich immer feiner abstimmen, sich in der beseelten
Selbstvergessenheit dem Bereich der Weisheit nähern. Als Liebende verwirklichen
sie nach Kittler die Gegenwart des Göttlichen, indem sie diesem ähnlich werden.
Wenn sich eine Resonanz einstellt, wird die von der Suche nach Harmonien getragene
Seelenbewegung vor nichts Halt machen, was sie vom Erspüren und Verknüpfen
immer neuer Verwandtschaften im gemeinsamen Leben abhalten würde.
Rhythmus
und Taktilität, subliminale Wahrnehmung und Verweisungszusammenhang,
historischer Standindex und die Kapazität, die nötigen Verknüpfungen
herzustellen, bestimmen über die Gegenwart des Geistes! Ausgangspunkt einer
jeden Geistesgegenwart ist der Leib – mit der körperlosen Stimme, kann ich über
hunderte von Kilometern Geld in Bewegung setzen, Geld ist auch nur ein, wenn
nicht der inhaltsleerste Signifikant – was die Stimme am Anfang der Kette
einspeist oder am Ende herausbekommt, mit und außer dem Container Information, hat
aber sehr viel damit zu tun, wie ich mich als körperliches Wesen fühle, was ich
an Körperspannung über den Draht bringe. Das androgyne Tier mit den zwei Rücken
ist seit Vorzeiten die Metapher für die Erfahrung der Präsenz des Göttlichen in
der Welt. Wenn es bei Platon heißt, die Götter hätten aus Eifersucht dafür
gesorgt, eine ursprüngliche menschliche Einheit aufzutrennen, illustriert dies ex
negativo die Beschreibung eines Status der Vollkommenheit, der für uns
erfahrbar macht, wie sich das Göttliche durch eine intensive emotionale Besetzung
in der Welt verwirklicht. Das erfordert eine Form der Askese, die nicht auf Verzicht
und Versagung beruht, sondern auf der Übung des wechselseitigen Aufbaus eines
immer höheren Spannungsvolumens – es geht eben nicht allein. Am Anfang mag es
so aussehen, als sei alles darauf angelegt, einen zum Scheitern zu bringen oder
zur Verzweiflung zu treiben. Vielleicht ist die Liebe als Duell schon eine
erste Chiffre der Transzendenz – es müssen nur noch übermächtige Gegner auf den
Plan treten, es müssen Anlässe gegeben sein, damit dieser innere Antagonismus
zu einer Einheit auf einem höheren Niveau verschmilzt und dann die Bewährung an
der Welt dessen Nachfolge antritt. Man oder frau kann den Stress nicht einfach
wegficken, sonst bleibt nur übrig, in der Selbstzerstörung letzte Spannungen abzufahren
– wir wollen nämlich gar nicht frei von Spannungen sein, wir wollen nur immer
wieder in die Lage kommen, sie in einer Weise genussvoll freizusetzen, die das
Gefühl bestätigt, Grenzen zu überschreiten und ein beschränktes Leben zur
Unendlichkeit hin zu öffnen. Wenn die Turbulenzen im Unendlichen nicht mehr an
den Pforten der Wahrnehmung zerschellen, vernehmen wir in den Vibrationen der
Echtzeit, wie die lebendige Welt erst in der gegenseitigen Anerkennung der
körperlichen Präsenz und des Begehrens entsteht. Die vielbeschworene
Wirklichkeit der Phrasen und festgestampften Überzeugungen erweist sich als zwanghafter
Schatten des Körperpanzers in den Köpfen von Impotenten und Simulantinnen. Tatsächlich
beruhigt oder befriedigt eine stillgestellte Welt trotz aller Ersatzintensitätenvermittlung
nie genug; verkrampfte Strategien des Machterhalts haben immer noch mehr aus
dem nachgemachten Leben rauszuquetschen, ohne auf die der Reduktion verdankten
Sicherheit zu verzichten. Dabei lassen die unendlich gefährlichen und
verwirrend schönen Energien, die außerhalb der befriedeten und sterilen Räume
mit Blitzen spielen, zwar nichts von unseren gewohnten Vorstellungen übrig,
machen aber unter günstigen Bedingungen erahnbar, welche Wirkungsmächte das
kosmische Geschehen prägen. Sie mögen sogar ein Gefühl dafür vermitteln, warum
wir nicht nur Marionetten sind, sondern Teilhaber dieser Mächte sein können. Das
liefert nebenbei eine einfache Erklärung, warum wir während des Sozialisationsgeschehens
hinter dem kulturellen Lattenzaun weggesperrt werden, um dort mit
Peinlichkeitsriten und Geilheitsdressuren, mit Kleiderordnungen und
Benimmregeln geknebelt zu werden: Wir könnten sonst nämlich zu zaubern
beginnen. Das Signum des Göttlichen zeigt sich in der vom Begehren bewirkten
Verklärung selbst, in dem Sog, der für jene Präsenz sorgt, in der niemand für gewisse
Augenblicken nicht über sich hinausgehen will. Die institutionelle Stellvertretung
Gottes scheint dagegen aus einer willkürlichen Interpolation hervorzugehen, die
das Oszillieren der Extreme übersieht und vom Zusammenfallen der Gegensätze
ausgeht. Auch das ist eine Destillation im Prozess der Zivilisation, mit der
handhabbare Spiritualisierungen an die Stelle energetischer Potenzen gesetzt
werden. Es ist immer wieder die gleiche Basisentscheidung: Lasse ich die Welt
zu, gewähre den weit über ein einzelnes Lebewesen hinausgehenden Energien die
Raumzeit – oder versuche ich unter dem Zwang der Angstbewältigung den Prozess
zu unterbrechen, das Begehren zu sublimieren, um dann vereinzelte Kräfte für
mich arbeiten zu lassen, aus Momentaufnahmen eines Kaleidoskops Artefakte des
Machtwillens zu machen.
In ‚Lebenszeit
und Weltzeit‘ schlüsselt Blumenberg Gesetzmäßigkeiten auf, die eine phänomenologische
Sicht voraussetzt, wenn wir nachvollziehen und verstehen wollen, was offensichtlich
unbemerkt zwischen Menschen stattfindet. Dabei geht es erst einmal nicht ums Unbewusste, sondern ums Unbestimmte, das
dazu beiträgt, die Indifferenz der Welt gegenüber dem Menschen ertragbar zu machen.
Was die von jedem individuellen Bewusstsein unabhängige Welt konstituiert, ist
potentiell das, was durch momentane Konvergenzen der Einfühlung in jede daran
beteiligte Subjektivität eingeht und von ihr mitgeführt wird. Die Anderen
bringen jeweils ihre fremden Horizonte, ihre fremde Zeit mit. Wobei die Zeit
ein komplexes Netzwerk von Verweisungszusammenhängen ist, das Ergebnis einer
integrierenden Synthese. Die verschiedenen Relate, die auch wieder Knotenpunkte
verschiedenster Beziehungen sind, werden
zum Aufbau einer objektiven Welt integriert, die als Welt gültiger Erfahrung
jedem an ihr beteiligten Subjekt sein Maß von Gewissheit und Sicherheit
gewährt. Kamper führte vor, warum Blumenberg nicht mehr weit von Foucault entfernt
ist; die beiden nähern sich der Grenze des Subjekts lediglich aus der
entgegengesetzten Richtung. Auf der einen Seite die Unüberbietbarkeit des Menschen,
für Blumenberg liegt die Moderne noch immer auf einer Linie mit der
Heilsgeschichte; auf der anderen Seite die Schutzmacht des Vergessens gegen die
aus der zunehmenden Beschleunigung resultierende Gefahr der Selbstvernichtung. Das
Wechselspiel zwischen Kultur und Vergessen macht für Foucault aus der
Apokalypse ein Bibliotheksphänomen. Für ihn kollidiert das Plädoyer für die Immanenz
der Geschichte mit der deutlich nachweisbaren Kontingenz der Ereignisse, die
sich als diskursiv produzierte Niederschläge des Imaginären erweisen.
An den Reibungsintensitäten dieser Grenze ist der
Raum zu ertasten, dem wir die Zugänge zur Präsenz verdanken; er untersteht der
Bedingung einer Gleichzeitigkeit von Körpern, die bereits die Möglichkeit einer
authentischen Erfahrung setzen. In diesem Zusammenhang greift Bohrers Korrektur,
nach der die jeweils eigene Lebenszeit mit der Weltzeit nichts zu tun habe, weil
es für uns jenseits von uns nichts zu gewinnen gibt; die eigene Perspektive
erwächst immer aus Augenblicken der Begegnung. Doch wenn Vergangenheit als
Erinnerung zu einem Augenblick der Präsenz werden kann, ermöglicht sogar die
nahe Zukunft eine ästhetische Resonanz. An anderer Stelle kommen wir auf
Bohrers Verbindung dieses Augenblickscharakters mit der Schönheit zurück – Schönheit
als konvulsiver Bewegungsvorgang, kein fiktiver Zustand, sondern der in einen
Zeitpunkt zusammengedrängte Verlauf eines subjektiven Impulses, der das am Tun
des Tuns, am Erleben des Erlebens gesättigte Versprechen eines Orgasmus transportiert.
In den gegenwärtigen Zusammenhängen dient die in einer Plötzlichkeit mögliche, unvermittelte
Verkörperung von Erfahrung erst einmal dazu, den insgeheimen Platonismus der
Phänomenologie in Schach zu halten.
Der Begriff der physischen Gleichzeitigkeit impliziert
für Blumenberg außer dem feststellenden Subjekt alle Arten Objekte, doch ein ursprünglicher
Begriff von Gleichzeitigkeit kann nur der sein, der dem erfahrenen anderen
Subjekt dieselbe Wesentlichkeit von Bewusstsein inkorporiert, die als in der
eigenen Leiblichkeit inkorporiert erfahren wird. Dies führt zu einer
Reziprozität der Erfahrung, wie er/sie mich erfährt. Mag die Erinnerung durch die Beiläufigkeit oder
Gleichgültigkeit dieser Erfahrung einseitig oder beiderseitig verblassen, prinzipiell
ist sie Teil einer Lebens- und Erinnerungsgeschichte. Die Gleichzeitigkeit
mag zu einer der Ungleichzeitigkeiten werden, sie wird dennoch in den
verschiedensten biographischen Zitatzusammenhängen Wirkungen zeitigen. Wenn das Ich einem Grenzwert erfüllender Begegnungen
nahe kommt, verliert es sich an das andere Ich; dies
könnte identisch mit seinem Selbst werden, wenn dessen Anteil naturgemäß nicht
relativ gering ausfallen würde. In der Fiktion einer unsterblichen Liebe wird meine
Lebenszeit über die Punktualität der Gleichzeitigkeit hinaus eins und einig mit
der Lebenszeit einer/s anderen. Doch das verschmolzene Ich eines gemeinsamen Lebens
würde sich in der Realität schnell in eine potenzierte Hölle verwandeln: Schon
das eine und identische Ich hält sich oft nur aus, indem es vieles vergisst,
verdrängt oder uminterpretiert. Unterscheidungen und Abstände liefern die
Voraussetzung für eine relative Erträglichkeit, Entfernungen in Raum und Zeit
mindern und erschweren zwar den Kontakt, schützen aber auch vor einer
überformenden, fressenden Nähe. Schon deshalb
ist ein Rest an Unzugänglichkeit immer konstitutiv für die Wahrnehmung des
Anderen; das sich einfühlende Subjekt kann damit die Distanz bewahren, ein
abgegrenztes Selbst bleiben. Für die Punktualität möglicher Gleichzeitigkeit
ist die Lebenszeit die Zeit des einen erlebenden Subjekts, als solche aber vom
Leben seines Gegenübers geschieden. Allerdings würde ein psychisches System,
das nur auf Zeitpunkte bezogen ist, ein erfahrbares Kontinuum der Dauer verfehlen,
erst das Zugleich von Geradeeben, Jetzt und Gleich erschließt uns einen
Zeitraum. Die Sprache verbindet als Medium solche entfernten Zeitschnitte,
wobei die sprachliche Repräsentation immer die Ferne des Repräsentierten bewahrt,
mit den Abständen also fremde Eigenzeit transportiert. Erst die Eigenzeit macht
das Phänomen der Gleichzeitigkeit möglich und für die Fremderfahrung zu einem
unerlässlichen Moment. Der/die Andere bewährt sich für meine Erfahrung gerade
wenn sie/er sich aus dem Moment der Gleichzeitigkeit wieder entfernt, wenn
sie/er in neue und von meiner Erfahrung ganz unabhängige Horizonte von Welt und
Intersubjektivität eintritt, durch den Augenblick der Gleichzeitigkeit mit mir
aber verändert wurde. Der Leib ist in dieser Konfrontation ein
Seismograph der Wirklichkeit der/s Anderen: Vom erfahrenen anderen Ich erfahren
zu werden, zu sehen wie er/sie mich sieht. Die/der Andere ist von diesem Punkt
der Konvergenz an nicht mehr ganz der, der sie/er vorher war. Ich erwarte,
sie/er habe wie ich selbst mit der Erinnerung an diese Gleichzeitigkeit eine
Veränderung erfahren, und gerade dadurch habe ich mich verändert. Diese Reziprozität
verdankt sich einer Gleichzeitigkeit, die von Psychotikern systematisch ausgehöhlt
wird. Nichts bedroht deren System aus Lüge und Verleugnung derart wie das Zeugnisablegen,
die Erfahrung eines Hinzutretens von unabhängigen Zeugen, die nicht einfach
durch die Zurechtweisung das-bildest-du-dir-doch-nur-ein zum Verstummen
verurteilt werden. Das Maß der wechselseitigen Veränderungen bestimmt ganz
nebenbei Erinnerungen, die mich überleben können und doch nicht unabhängig von
mir bestehen. Alles was mich angeht, braucht Zeugen, um sich in der
Wirklichkeit zu behaupten, denn was in keinem lebendigen Gedächtnis aufbewahrt
wird, Zeugnisse und Artefakte alleine reichen nicht, gerät auf die abschüssige
Bahn der Inexistenz. Ich erinnere mich nicht nur, ich werde auch erinnert:
Fremderfahrungen arbeiten nicht allein mit aktuellen Anlässen an meiner
Selbstdefinition, sie sind die Folie, auf der Inkommensuralitäten erst
entstehen. Eine der ältesten Weisheiten, die uns von den Griechen überkommen
sind, lautet ganz schlicht: Beuge dem Vergessen vor! Aus diesem Grund trifft
Foucaults Ansatz, der sich immer Vergangenheit und Zukunft zugleich widmet, in einer
Bewegung der Distanzierung auf Blumenbergs Anthropodizee. Er stellt gerade bei
der Umwandlung aller Wissensweisen in ein Wissen vom Menschen für den Menschen fest,
wie damit die Spur gelöscht wird, die das Wissen auf seinem Weg von der
beginnenden Neuzeit bis zur fortgeschrittenen Moderne hinterlassen hat.
Oberflächlich verstehen wir unter Eigenzeit jene
Zeit, die nach den eigenen Bedürfnissen und Rhythmen gestaltet werden kann. Wenn
wir uns ihrer Erfahrung anvertrauen, stoßen wir allerdings recht schnell auf gewaltig
irritierende Gesetzmäßigkeiten hinter unseren Gewohnheiten. Eigenzeiten sind
widersprüchlich und unverfügbar, sie ereignen sich ohne eigentlich zu sein,
sind weder subjektiv noch objektiv, sondern bewegen sich dazwischen wie zwischen
göttlichen Energien und natürlichen Gesetzmäßigkeiten. Jedes Bild, jede sprachliche
Objektivierung, arbeitet bereits an einer Überwindung der Eigengesetzlichkeit
des Gefühls, bedeutet eine Depotenzierung der Unmittelbarkeit. Alle vom
statistischen Mittel abweichenden Gefühle, Willensakte und Leidenschaften
beanspruchen endlose zeitliche Räume, fügen sich keinem engen Zeitkorsett, um
ihre Bewegung fremden Kontrollinstanzen zu entziehen, den eigenen Rhythmen zu
gehorchen, die sich als sehr fremd erweisen können. In einem groben Raster impliziert
der Topos Eigenzeit, neben der psychoanalytischen Erkenntnis, dass das Ich
nicht Herr im eigenen Haus ist, bereits den kulturkritischen Begriff der
Entfremdung – nur dass die Herrschaft des Ich schon immer auf einer Illusion
beruht, nur durch Verleugnung oder Verdrängung überhaupt funktioniert. Aus
diesem Grund analysiert E. Lenk mit Recht eine ‚unbewussten Gesellschaft‘,
deren Mitglieder sich vor allem an Werten und Überzeugungen festhalten, die die
Ursprünge ihrer Erfahrung und die Möglichkeit unzensierter Aufmerksamkeit
zwanghaft ausklammern. Mit der Industrialisierung wurde die Zeiterfahrung
homogenisiert und in der Folge einer zunehmenden Technisierung der Lebenswelt
unterstand sie immer stärkeren Produktivitätsanforderungen. Zeitdisziplin ist
mit Elias eine mittlerweile alles durchdringende Folge des Zivilisationsprozesses.
Doch was die Kritik als eine Form der Enteignung unserer Zeiterfahrung kennzeichnet,
wenn sie von einem Verlust der Eigenzeit spricht, hat auf der anderen Seite
erst für einen enormen Gewinn an disponibler Zeit gesorgt. Je komplexer die
technischen Zusammenhänge werden, je mehr entlastet uns die Technik von den
damit verbundenen Arbeiten. Früher unvorstellbare Freiheitsspielräume sind uns zugefallen,
sofern wir mit ihnen umzugehen verstehen. Die Produktivitätssteigerung durch
automatisierte und computergesteuerte Abläufe stellt mittlerweile einen
zeitlichen Rahmen zur Verfügung, der noch vor der Mitte des 20. Jahrhunderts
unvorstellbar war. Ohne ein Verständnis der Souveränität der Eigenzeit scheint
es mittlerweile für ganze Bevölkerungsschichten zum Problem zu werden, die
freie Zeit nicht nur totzuschlagen oder durch Verdumpfung auszusperren, sondern
sinnvoll mit dem gewonnenen Überschuss umzugehen. Zur ernstzunehmenden Lebensaufgabe
wurde es, selbstbestimmt an einem Lebenssinn zu arbeiten, aus der Freiheit, die
uns als Gewinn an verfügbarer Lebenszeit zufällt, unseren Antrieb in sinnvolle
Tätigkeiten zu investieren. Damit hängt viel von der Fähigkeit zur Selbstbestimmung
ab, gerade deshalb gab es noch nie so viele Industriezweige und Institutionen,
die von diesem Überschuss profitieren und alles daran setzen, uns vor der
inneren Leere, vor der Angst vor der Angst zu verschonen. Allerdings bringen
sie eine/n mit den Aufforderungen zur fehlerhaften Identifikation und der
Ersparnis persönlicher Kontakte um die Echtzeit der Däumlinge am Smartphone, verführen
zum abstumpfenden Konsum in und mit der Maschine, während das
Kommunikationsvermögen schwindet. Dabei gilt das Prinzip der Wiederholung, des
Durcharbeitens auch für den Computer: Kamper spekulierte, ob die
Unerträglichkeit eines Lebens, das wiederholt ohne zu wiederholen, vielleicht
mittels der Maschinen, die ebenso funktionieren, erträglicher gemacht wird. Der
Rechner wird zu einer Zeitentlastungsmaschine, die jene leere Zeit, die für den
Menschen mehr und mehr unerträglich wird, übernimmt, um ihm eine
zwangsneurotische Wiederholungsschleife abzunehmen. Doch das ist nur die
objektive Seite, während zur Selbstimmunisierung notwendigerweise Beziehungsarbeit
und kreative Eigenarbeit taugen. In einer ersten Schutzimpfung beginnen sie sich
unter optimalen Bedingungen zu überlappen, den Forderungen der Fremdbestimmung
zu widerstehen. Zudem benötigen sie auf die Dauer der täglichen Routinen als
Motor diverse Formen der Depersonalisierung, erst der Urlaub vom Ich regt das
Lernvermögen an. Der von Baudrillard zum ‚Tod der Moderne‘ konstatierte
Endpunkt des Sinnverlusts eines riesigen Repertoires an Bedeutsamkeit ist vor
allem einer der großen Institutionen. Dahinter wird allerdings das mit den
menschlichen Glückserwartungen verbundene anarchistische Potential freigesetzt,
an dem diese Institutionen nur schmarotzt haben, um ihren Machtanspruch
durchzusetzen. Der rechte Augenblick transportiert nach wie vor das
metaphysische Gewicht jener vor aller Institution in den zwischenmenschlichen
Intensitäten angesiedelten, natürlichen Religiosität. Die Steigerung der Entfremdung
durch die Wohltaten unserer Kultur kann zu einer Zunahme des Lernvermögens
führen, wobei die Geschlechterspannung nicht nur zur lustvollen Abfuhr des Sogs
der Fremdbestimmung taugt, sondern das Nahen göttlicher Gewalten vorbereitet. Dank
einer energetischen Selbstimmunisierung führt jeder gemeinsame Orgasmus zur
Entfremdung von der Entfremdung, damit also zu den wesentlichen Beziehungen zurück.
Der Lektüre
Blumenbergs sind vor allem in seinen Überlegungen zur Metaphorologie wesentliche
Anregungen zu verdanken. Seine Anregungen werden unsere Fragestellungen allerdings
nur fruchtbar verarbeitet, wenn wir die Basissetzung modifizieren. Wir gehen von
der Präsenz des Göttlichen im hormonellen Geschehen aus, die in der Liebe immer
wieder neu wirklich wird. Eine seinsgeschichtliche Ambivalenz verdankt sich der
nicht geklärten Frage: Was ist denn das Sein? Die verschiedenen immer weltferner
werdenden Abstraktionen: Das Ding an sich, der Begriff des Dings oder die ungreifbare
Idee des Seienden! Oder ist es nicht viel eher der physikalische und biochemische
Prozess, das materielle Substrat, um das unsere Metaphern kreisen. Die Präsenz
des Göttlichen in der Welt steht nicht erst seit der Zeit zur Debatte, seit der
Max Weber die Abwesenheit Gottes und das gegen diesen Verlust entwickelte,
stahlharte Korsett der Moderne auf den Nenner brachte. Als Kafka beschrieb, wie
das Göttliche virulent geworden ist, wie das Ungeheure als Gewährleistung des
Alltäglichen in seiner Gegenwart aus allen Ritzen quoll, zog er die notwendige
Konsequenz aus Webers Beobachtung eines neuen Pantheismus: Viele alte Götter
tauchen entzaubert in der Gestalt unpersönlicher Mächte wieder auf, versuchen
in technischen Entwicklungen und Zwängen der Verwaltung über unser Leben zu
verfügen, während sie untereinander ihre ewigen Kämpfe verlängern. Selbst mit
einer aufgeklärten Polytheismuskonzeption hat er nicht auf die kompensierende
Funktion des Sehnens und der Erwartung in den verschiedensten kulturellen Ausprägungen
verzichten können, während Freud konstatierte, dass viele theologische Energien
von der Libido absorbiert werden, weil sie dort ihren Ursprung haben. Die
philosophische Anthropologie eines Plessner fängt das Mängelwesen Mensch in
einer Konzeption von Ausdrucksgestalten der wesentlichen Exzentrik auf; die
eines Gehlen bedient sich an den Vorgaben von Hegels objektivem Geist, um daraus
die Lehre vom Vorrang der Institutionen abzuleiten. Beide extremen Ausprägungen
wurden von Scheler inspiriert, nach dem der Geist wie ein Blitz einschlagen
kann – eine Ableitung uralter Gottesvorstellungen –, damit aber entscheidende Bedeutungen
prägt. Auch bei K. Heinrich oder Kamper finden sich Variationen der
Voraussetzung, es habe das Ursprungsmythologem nie gegeben, eine Deckerinnerung
für etwas a priori Abwesendes habe die verschiedensten Vorstellungswelten in
Bewegung gesetzt – doch beide haben brauchbarere Hebel als den Vorrang der
Institutionalisierung angesetzt. Die Einebnung der Differenzierung von Ausdruck
und Begriff, die ursprünglich die Angst vor dem Tod in Schach halten sollte und
deshalb die Lebendigkeit tabuisierte, wird durch die Phantasie geleistet – für
Kamper wird eine Haltung zum Anderen notwendig, mit der die Zwänge verabschiedet
werden, alles immer auf das Bekannte, auf das Selbe zurückzuführen. Wir sollten
also das Repertoire von Geschichten, von denen alles seinen Ausgang nimmt, genauer
betrachten, die Symbole, die die Verdichtung von Prozessen der
Wahrnehmungsverarbeitung transportieren, die Jahrmillionen zurückreichen.
Symbole beziehen Kraft aus dem körperlichen Geschehen – sie können dank einer produktiv
umgesetzten Geschlechterspannung die Eigenzeit modifizieren. Wenn allerdings die
Gegenwart göttlicher Energien ausfällt, ist zugleich jegliche Authentizität
gestrichen: Dann gibt es keine Intensität des Hier und Jetzt mehr, womit die
Möglichkeit des vollen Sprechens entfällt. In der Position Blumenbergs gibt es
keinen Actus Purus, weil es keinen Ursprungsmythos gegeben hat, nur
Überlieferungen, nur die Vertreter Gottes, nur Funktionäre der Vertretung – im besten
Fall die Simulation verschiedener Intensitäten. Diese bannende Verleugnung hat
eine stabile Einsicht in den Erkenntnischarakter des sexuellen Geschehens zu ersetzen:
Die Emergenz göttlicher Energien ist bisher in ihrer klarsten Form ein Werk des
menschlichen Biomagnetismus, im tierischen Bereich äußerte sie sich in einer
dumpfen und blind tastenden Funktionalität. Benjamin folgte der Prämisse, der
Ursprung sei das Ziel; für unsere Zwecke sollte ein daran ausgerichteter
Lernprozess der Selbstoptimierung an jenen göttlichen Energien arbeiten, die in
der Liebe entfesselt werden. Wenn wir den fruchtbaren Ansatz seiner Relationsmetaphysik
weiter entwickeln, landen wir bei Elias‘ Konzeption der Zeit als eines Symbols
für ein mehrdimensionales Relationsgeschehen. Alles Wahrnehmbare hat eine
Koordinate in jeder der vier Dimensionen des Raumes und der Zeit. Aber gleichzeitig
wird das zeitliche Geschehen in einer spezifischen Art und Weise symbolisiert
und damit zur Repräsentation einer fünfdimensionalen Menschenwelt. Diese fünfte
Dimension als Zusammenhangsform des Erlebens, des Bewusstseins, der Erfahrung,
entsteht dank der erlernten Synthese, die Raum und Zeit als symbolische
Strukturen erfahrbar macht. Damit erscheinen jene menschlichen Leistungen im
Blickfeld des Beobachters, mit denen das Geschehen in Raum und Zeit verarbeitet
wird. Mit einer Erfahrung des Beobachters, die die Leistungen der Beobachtung
zusammenfasst, wird zugleich der Symbolcharakter der vier Dimensionen als
Orientierungsmittel von Menschen sichtbar, die einer Synthese fähig und damit
in der Lage sind, das was nacheinander vor sich geht oder nur ungleichzeitig
existiert, in der Vorstellung zugleich gegenwärtig zu haben. Die Vorstellung,
die Menschen von sich haben, ihre Selbsterfahrung, ist nichts von ihrer
Erfahrung, dem Bestand ihres Wissens Unabhängiges, sondern ein integraler Teil
ihres symbolischen Universums, verändert sich also entsprechend ihrem Status in
der Entwicklung des Wissens. Die Zeit, die auf der vorausgegangenen Stufe nur
als Dimension der Natur erfahrbar war, wird als menschengeschaffenes
Symbolgeschehen erkennbar, wenn die Gesellschaft als Subjekt des Wissens mit
einbezogen wird. Das durch Menschen ermöglichte gesellschaftliche Universums,
in dem durch selbstgeschaffene, erlernbare und vermehrbare Symbole erkannt und kommuniziert
wird, stabilisiert eine Reflexionsebene, die die materielle Natur der Welt
überformt und damit vervielfältigt. Mit dieser systemtheoretischen
Akzentuierung sollte noch einmal deutlich werden, welche adäquate Vermittlung
von Subjekt und Objekt das symbolische Geschehen für die Verankerung der
notwendigen Erfahrungen in der Welt leistet. Der symbolische Tausch der Worte,
Versprechen und Eide funktioniert nur dann wirklich ohne Rest und Stolperstein,
wenn in einem umfassenden Gut-dass-es-dich-gibt auf der sexuellen Ebene mit der
Synthese von Aufmerksamkeit und Zuwendung ein vollendeter Austausch gefunden
worden ist. Es gilt also das in der Theologie verschüttete Emanzipationswissen
wieder freizusetzen, nach dem wir uns anhand der Maßgeblichkeit einer
nichtindividuellen Ordnung in einem Bereich des Dazwischen zu finden beginnen.
Wir können dafür sorgen, diese umfassendste Form des kommunikativen Geschehens und
der Erkenntnis in einer gemeinsamen Zeit zu verankern: Das geht nur mit dauernder
Übung!
Um Whiteheads Neukonzeption der Ontologie zu
paraphrasieren, ist das im Rahmen der Kosmologie als energetischer Exzess
wirkende Sein nicht nur Schauplatz göttlicher Entitäten, sondern zugleich ein
umfassendes relationales Speichermedium. Zeitzeugnisse in diesen Speichern
entscheiden darüber, was wirklich gewesen sein wird; alle zeitliche Wahrnehmung
ist ein Resultat von Erinnerungsspuren, schon Momente des Sehens interpolieren
bekannte oder erwartbare Werte, um wiederzuerkennen und einzusortieren. Die
Zeit entzieht sich der Teilbarkeit und damit Zenons Paradoxie, weil sie kein
kontinuierlicher Prozess ist, sondern eine atomistische Abfolge von Feldern,
die Muster der gespeicherten Geschehnisse realisieren. Eine Zeitkonzeption als
diskontinuierliches Springen und Wiederholen liegt jenseits der Vorstellung von
konkurrierender Linearität und Zirkularität. Statt Zeitpunkten folgen
Zeitschnitte aufeinander, damit wird Dauer zu einer Wiederholung dieser Muster
in aufeinander folgenden Geschehnissen. Die traditionelle Punktualität der
Gegenwart dehnt sich zu einem Feld aus, während Zeitlichkeit zur Bewegung der
Differenzierung und Wiederholung der Felder minimiert wird. Der Zeitverlauf ist
in der Lage, die Innenseite der Wirklichkeit nach außen zu drehen, das Maß der
Dauer ist dann paradoxerweise die unendlich stetige Vertiefung des Augenblicks.
Diese Deutung der Zeit eröffnet als unüberbrückbaren Abstand ein fundamentales
Dazwischen, vor dem wir traditionell immer in Polaritäten ausweichen, um uns
nicht auf die Gefährlichkeit des Ungreifbaren einzulassen. Subsysteme werden
über Zeiten hinweg als vernetzt erfahrbar; die Zukunft entscheidet in diesem
energetischen Verweisungszusammenhang nicht nur über den Wahrheitswert vergangener
Ereignisse, sondern gewisse Ereignisse einer fernen Vergangenheit erweisen sich
als Nachrichten einer nahenden Zukunft – nur deswegen liefern die ältesten
Mythen noch immer zwingende Regieanweisungen. Gedacht ist also nicht an die
platte Polemik, danach wisse man immer alles besser, sondern an jene prophetische
Gabe, unter hohem Stress und in Situationen der Ausgeliefertheit Momente einer
Zukunft vorher zu wissen und sie in entscheidenden Begegnungen zu Siegen für
die eigene Geschichte umzumünzen.
Das erste Mal
sind uns die Gesetzmäßigkeiten der ‚Eigenzeit‘ bei Helga Nowotny begegnet, obwohl
sie intuitiv bereits jahrzehntelang gehandhabt wurden; somit wird immer wieder
auf diese Untersuchung zurückzukommen sein, wenn sie sich mit unseren
Erfahrungen berührt. Die Begrenztheit
der Zeit ist ein zentraler Wert der Industriegesellschaften, der über den Produktionsbereich
hinaus alle Lebensbereiche kolonialisiert hat. Der oberste Grundsatz für
technische Artefakte wie für menschliche Tätigkeiten lautet, mehr aus der
verfügbaren Zeit zu machen – die logische Folge dieses Mehr ist ihre
Verknappung. Tatsächlich wird Zeit von Menschen gemacht; aber sie ist nicht
bloß von Menschen geschaffen, sondern sie ist je nach dem Stand der kulturellen
Entwicklung eine soziale Einrichtung, die über den Menschen gebietet. Wir setzen
Zeit im Erfinden von Intervallen, spielen mit ihnen in rituellen Gesten und
Gebräuchen. Im Planen und Verhandeln, im Versprechen oder geschickten
Hinauszögern entsteht in den Abfolgen zwischenmenschlichen Handelns die
Erfahrbarkeit der Zeit. Sie hat vor allem mit der Macht zu tut, die Menschen
mit den nötigen Strategien gegen einander ausüben. Zeit verbindet und trennt –
die Kämpfenden wie die Liebenden. Doch paradoxerweise wird die Eigenzeit erst
durch die Zeit der anderen ermöglicht. Erst wenn ein gemeinsamer zeitlicher
Rahmen zur Verfügung steht, der weder von dem einen noch von dem anderen ganz beherrscht
wird, können gewisse Zwänge gelockert werden, bis sich Freiräume ergeben.
Zwischen Protagonisten setzt dies einen Prozess des ständigen Werdens, ein
Aushandeln und eine Auseinandersetzung mittels ihrer zeitlichen Strategien voraus.
Dem strategischen Handeln in der Zeit und durch die Zeit stehen viele Techniken
zur Verfügung: beschleunigen oder verlangsamen, versprechen, warten und warten
lassen, im richtigen Augenblick entscheiden… Nachdem mittlerweile das
Maschinenzeitalter mit seinen linearen Zeitabläufen dem Ende zu geht, weil Flexibilität
als neue Zeitnorm entstanden ist, mutet diese Entwicklung durch die
entsprechenden Wechselwirkungen nicht nur dem konservativen Beharrungsvermögen
ungewohnte Lernprozesse zu, sondern verwandelt auch die zwischenmenschlichen
Beziehungen. Nicht nur Maschinen und Technologien haben sich gewandelt und erfordern
andere Zeitabläufe als jene, die die überkommenen Produktionstechniken vorgegeben haben. Diese Entwicklung ist in der zeitlichen Verfügbarkeit aufgegangen, die
informationsintensive Technologien ermöglichen, aber auch voraussetzen. Ihre
technische Umsetzung fand die Kreisläufigkeit in der Entwicklung immer
leistungsfähigerer Computer. Die reibungslose Zirkularität von Informationen
innerhalb eines digitalen Systems erlaubt es diesem, zu einem bestimmten
Zustand immer wieder zurückzukehren. Die Voraussetzung, Zeit besäße eine
selbständige Existenz, hängt nicht zuletzt mit der Tatsache jener sozialen
Einrichtungen und Institutionen zusammen, die viel zu unabhängig vom einzelnen
Menschen geworden sind. Die beschleunigte Gesellschaft hat uns flexibler und
wohlhabender gemacht, aber auch die traditionellen Haltepunkte und Sicherungen
durch Gewohnheiten erodiert. Doch während Menschen einander antagonistisch als
sinnstiftend, symbolisch interagierend, miteinander kommunizierend
gegenüberstehen, tritt ihnen die Zeit der Institutionen als zähflüssig, beharrend
entgegen. Während die Welt der Kausalität einer linearen Zeitlichkeit unumkehrbarer
Veränderungen untersteht, gewährleistet das Symbolische, einen Zusammenhang zu
einem späteren Zeitpunkt als Gleichen wiederzuerkennen. Tatsächlich sind wir in
der Lage, an der Verfertigung unserer Zeiterfahrung zu arbeiten, auch wenn es
erst unter Schmerz und Verzweiflung möglich wird.
Kaempfers
Konzeption eines gedoppelten Zeitablaufs unterstreicht die uns mögliche Erfassung
der zeitlichen Prozessualität. Im indexikalischen Koordinatenzentrum des
Ich-Hier-Jetzt wirken zugleich zentripetale und zentrifugale Kräfte. Wir
erfahren zum einen die irreversible Linearität des Zeitpfeils in die Zukunft,
die der Verausgabung, der Entropie, der Evolution, der Gattungsgeschichte und
dem individuellen Leben auf den Tod zu entspricht. Daneben wirkt aber zugleich
eine zyklische, reversible Zeitform, die in rhythmischen Formen der
Wiederholung der Selbsterhaltung von Systemen dient: Tagesabläufe, rituelle
Feste, biologische Zyklen, Jahresumläufe; eine Zeit, die wieder zurück kann.
Keine der beiden Zeitformen kommt dabei rein für sich vor, sondern ist zunächst
immer komplementär mit der anderen verbunden. Beide können schneller oder
langsamer werden, wobei ihre jeweiligen Geschwindigkeiten im umgekehrten
Verhältnis zueinander stehen. Unter extremen Bedingungen kann dieser
Wechselbezug zerreißen, wobei der Stillstand der einen Zeitform die Entfesselung
der anderen auslösen wird. Kaempfer geht von einem zeitlichen Differential-Getriebe
aus, das unter extremen gesellschaftlichen oder evolutionären Umständen
zerbrechen kann. Der Körper legt dann ein Veto ein, wenn er in einer Art
Todstellreflex erstarrt, weil die Geschwindigkeiten, die der Kopf projektiert,
ein zuträgliches Maß überschreiten.
Doch auch
diese Erfahrung transportiert eine Chance. Weil der Mensch durch
Gewohnheitsbildungen und Institutionen lernbehindert wird, braucht es Schocks,
die die Wahrnehmung aufrütteln. Jene bannende Ausgeliefertheit, die der
Trägheit und dem Sicherheitsbedürfnis zu verdanken ist, muss gesprengt werden. In
den meisten Fällen ermöglicht erst der Zusammenstoß mit einer Katastrophe
systemische Lernschritte. Tatsächlich reicht es nicht, den Zusammenbruch eines
Selbstvergewisserungssystems als Didaktiker auszulegen oder für sich arbeiten
zu lassen, um die Panik umzuleiten; das wäre nur die Wiederentdeckung jenes
theologischen Tricks, der dazu diente, nichts aus Katastrophen zu lernen. Auf
diese Weise haben sich in der Geschichte diejenigen, die in einer Position
saßen, anderen beizubringen, was ihre Sprachregelung als das Richtige
bezeichnete, weitgehend gegen jedes Lernen aus Misserfolgen abgedichtet. Noch
die ästhetische Erfahrung des Schiffbruchs mit Zuschauer liefert homöopathische
Dosen zur Erhaltung jener Erfahrungs- und Lernresistenz – ein Großteil der
Massenunterhaltung profitiert von diesem Erfolgsmechanismus. Die Routinen der Abschottung
sind die Kehrseite der paläoanthropologischen Dimension des
Sündenbockmechanismus! Die Tür zur Übertragung unerträglicher Spannungen auf
ein Opfer wurde einst durch Initiationsriten aufgestoßen, während heute Affären
und Skandale dramatische Entdifferenzierungen der Gesellschaft liefern – die
Krise hebt die Trennung der Funktionsbereiche auf, setzt eine paranoide
Deutungswirklichkeit frei, die normalerweise von den Vertretern der Institutionen
dank der Komplexität eines zivilisatorischen Firnis unter Verschluss gehalten
wird. Die Institutionen hätten keine derartige Durchschlagskraft gewonnen, wenn
ihr Deutungsmonopol nicht in der Lage gewesen wäre, jene paranoiden Erkundungen
in Schach zu halten, die die Sinneswahrnehmung nach der Dalí verdankten Prämisse
Lacans offen und wirkungsmächtig strukturieren. Die Folgen von Institutionsmechanismen
greifen derart ineinander, dass das normale Leben Erwachsener sich als
tragbares Gefängnis erweist, in dem die Vergangenheit dem Vergessen
ausgeliefert wurde und die Zukunft verbaut ist. Jenseits von Geschwätz und wuchernden
Vorstellungen hilft oft nur, die Erfahrung eines Absterbens und Zersplitterns
aller bisherigen Gewohnheiten zu durchlaufen, die einen scheinbaren Halt
vermittelten. Nach Kamper liegt im Annehmen und Aushalten der dadurch
freigesetzten Angst, die als vorweggenommener Tod das Leben erst lebenswert
macht, das Versprechen einer anderen Wirklichkeit, in der Beziehungen und
Gegenstände gegenwärtig werden. Diese Präsenz ist dann mit einer Anstrengung verbunden,
die nicht als Anpassung an Gegebene, sondern als immer wieder neue Arbeit an
der Bewegung des Begehrens begriffen werden muss und in einem feindlichen
Kontext auch missglücken kann.
Auch wenn wir
diese mit Nichts gesättigte Grundlage aller Erfahrung nicht wissen wollen: wir
treten immer wieder auf die Schwelle. Über Jahrtausende hinweg waren den
einzelnen Schwellen Initiationsriten zugeordnet, und wer sie überschritt,
gehorchte der Veranderung. Trotz des Begriffs der Entfremdung und der
Herr-Knecht-Dialektik, der damit einhergehenden Substantialisierung des Ich,
ist in der Tiefenstruktur des abendländischen Wissens ein riskanter
Erkenntnisbegriff aufbewahrt, den institutionalisierte und konformistische
Theoriebildungen verdrängten und verleugneten – auf den sie dennoch immer
angewiesen waren, weil er die Sehnsucht nach einer Erleuchtung, den Willen zur
Wahrheit, diesseits aller halbherzigen Konventionen, erst einmal in Gang
gesetzt haben musste, bis dann jenseits ihrer, auf der Rückseite des Wahns,
noch einmal ein narzisstisch beschädigter Abglanz zu entdecken war: In den
Selbstverstümmlungs- und Verleugnungsriten von Institutionsopfern oder Krüppelzüchtern.
Der soziale
Tod kann eine einschneidende Variante der Erlebnismodi sein, die unsere
Erfahrung auf einem übergeordneten Level neu formatieren. Eine andere
Sozialisationsform könnte im 21. Jahrhundert dafür sorgen, sich ihm aussetzen,
während man die gewohnten Kreise verlässt: die eigene Altersgruppe, Klasse oder
Religionsgemeinschaft. Die Trennung setzt Größenfantasien frei, entblößt die Gewohnheitsmuster
ihres institutionellen Glanzes, konfrontiert das Ich mit der Haltlosigkeit
seiner Alltagroutinen. Der soziale Tod bewirkt den Zerfall der sozialen und
kulturspezifischen Rollen; unbewusste Werte und Identitätsstützen beginnen sich
aufzulösen, womit die den gewohnten Verhältnissen angepassten Wahrnehmungsweisen
formlos werden. Die Panik mag einen Schwindel der Haltlosigkeiten erfahrbar machen,
der fehlerhaften Identifikationen verdankte Gleichgewichtssinn kollabieren,
doch auch ein Aufatmen ist möglich, wenn die Wirklichkeit plötzlich
lichtdurchflutet wird, wenn die Farben leuchten und eine ungeheure Leichtigkeit
den Körper erfasst: Wenn wir auf einmal die Gewissheit verspüren, von all dem
Müll befreit zu sein. Beides impliziert Todesweisheiten, die wir nutzen
könnten, wenn sich unsere Welt nicht längst von Initiationsroutinen
verabschiedet hätte. Die intelligente Voraussicht einer Unausweichlichkeit des
Todes untersteht einem institutionalisierten Tabu, das ihre Verleugnung in alle
kulturellen Fühlfäden einschreibt, bis diese fundamentale Neurotisierung auf
die Lust am Leben abfärbt: Askese und Raffgier, Selbstverstümmelung und
Opferkult, Sparsamkeit und Machtbedürfnis versuchen im Imaginären eines ewigen
Lebens Fuß zu fassen. Realistisch wäre es, die beschränkte Zeit sinnvoll zu
nutzen, um die Kraft für Lebendigkeiten möglichst lange positiv abzufedern und zu
befördern – der Glanz momentaner Glückserfahrungen verschwindet auch nicht
angesichts der Ziellinie eines zu erwartenden Todes. Gegen Ende eines erfüllten
Lebens stirbt es sich im Bewusstsein, nichts verpasst, aber jetzt die nötige
Ruhe verdient zu haben, wesentlich leichter. Wäre der Mensch nicht einem
Prozess der Entfremdung bis zur Verdinglichung ausgesetzt, würde er den Tod
nach Adorno weniger fürchten – die Konditionierung durch eine Warenwelt der
universalisierten Tauschgesellschaft verpasst uns die abstumpfende Erfahrung
des Absterbens aller Lebendigkeiten; der Tod mitten im Leben bringt erst die
Panik zustande, jede und noch die letzte Gelegenheit zu verpassen. Diese Prozesse
und Gesetzmäßigkeiten legen eine Wahrheit frei, die die zwangsneurotischen
Resultate der Verleugnung der Angst vor dem Tod in Schach halten könnte. Aber
schon deshalb dürfen die entscheidenden Zeichen nicht beachtet werden. Alles
andere eher ist üblich, um willige Konsumenten und unmündige Wähler hervorzubringen;
Zeichen als Symptome unterstehen dem Tabu, werden mit Tranquilizern überspielt
oder als Krisenindices mit Antidepressiva irrealisiert. Dabei haben sie den
Schub einer lauteren Wahrheit, die durch institutionalisierte Fehlinterpretationen
unterdrückt und ausgeblendet wird. Der durch Rhythmen der Eigenzeit bereits vorbereitete
Sprung im Signifikantennetz soll gar nicht erst versucht werden, damit die
Person noch verstümmelter, als sie hineingeraten ist, aus einer privilegierten
Erfahrung hervorgeht. Wichtig ist in diesen Fällen vor allem der Bezug auf die
Alltagssituation: Auf mystische Offenbarungen oder extraordinäre Grenzerfahrung
kann man/frau ein Leben lang warten, um die in der eigenen Biographie
versteckten Möglichkeiten der Erweiterung und Veränderung der Spielräume der
eigenen Rolle nur um so gründlicher zu verpassen. Schon zwischen dem Ich des
Jetzt und dem des Geradeeben gibt es eine Entfremdung – nach einer Nacht voll
heftiger Träume oder einer rauschhaften Erfahrung staunen wir manchmal, wie
holpernd und mühsam eine Kontinuität zurückgeholt wird, solange das vergangene
Ich von außen zu sehen ist. Dabei implizieren diese Brüche eine unerkannte aber
gewaltige Chance. Priester, Gurus, Gelehrte, Dichter oder Stars liefern in der
Position der Stellvertretung viele Gründe, die Rhythmen und Erfahrungsformen
der eigenen Lebendigkeit durch Identifikationen zu verleugnen. Mögliche Veränderungen
setzen aber gerade an den kleinen Begebenheiten an, an den in alltäglichen Zusammenhängen
notwendigen Änderungen der eigenen Wahrnehmungsmuster und Verhaltensgewohnheiten.
Nach dem Durchlaufen eines sozialen Todes landen wir am Rand jener symbolischen
Ungewissheiten, die sich zwischen beengenden aber einander widersprechenden
Schemata ergeben. Um Novalis zu paraphrasieren, liefert der soziale Tod eine
höhere Offenbarung der Gesetzmäßigkeiten des bisherigen Lebens und stellt damit
Regeln zur Verfügung, mit denen eine Neuformatierung ermöglicht wird. Greifbar
wird der Kontext des aktuellen Lebenskontextes, mit dessen Evidenz ein Rahmen
für nonkonfliktuelle Handlungen, Gesten und Sprachformen entsteht. Der
Stellenwert kreativer Eigenarbeit kann nicht hoch genug angesetzt werden, wenn
wir uns für eine kleine Ewigkeit auf der anderen Seite des kulturellen
Lattenzauns befunden und dank der nötigen Intensität die Umkehrung des
verdrängten und ständig wirksamen Opferkults erfahren haben. Der soziale Tod
zeigt uns, wie die Grenze der Trauerarbeit mitten durch die alltäglichen
Belange verläuft; ästhetische Erfahrung gestaltet die Grenze in Metaphern der
Überschreitung; aber für ein Paar wird an dieser Grenze eine erotische Praxis
der gemeinsamen Gestaltung des Hier und Jetzt als Resultat von Passagen und
Wiedergeburten möglich.
Ein
kaschiertes Gewaltmonopol auf dem Wissen und das gesellschaftlich erwünschte
falsche Bewusstsein greifen im schlechten Status der Normalität wie Zahnräder
ineinander. Die hergestellte Unbewusstheit befördert Angst, Ausgeliefertheit
und Sadismus; sie ist im Endeffekt die Schaltstelle beschränkter Wahrnehmungen,
neurotischer Dummheit, erwünschter Subalternität. Mit der Erfahrung des
sozialen Todes sind diese Verkennungsanweisungen aufzusprengen. Die Erfahrung veränderter Bewusstseinszustände führte
uns einmal auf wichtige Schaltstellen, an denen die Homöostase des Elends neu
formatiert werden kann – es verwundert nicht, dass sie bereits in den Erfahrungen
einer Verliebtheit auftauchen. Die Evolution hat uns mit einem wichtigen
Repertoire für Selbstheilungskräfte und Immunisierungen versehen: Glückstaumel,
außergewöhnliche Gefühle der Freude, Verzückung und Erleuchtung, Aufsprengung
der Subjekt-Objekt-Dichotomie und universale Verschmelzung, Einssein mit der
Welt und den Dingen. Mit Hilfe dieses Repertoires sind wir in der Lage, eine kulturell
vorgegebene Weltsicht aufzugeben, die wir während der Kindheit und
Sozialisation erworben haben. Dem Hinweis, wie häufig veränderte
Bewusstseinszustände vorkämen, wie nötig und gesund sie für viele Individuen
seien, entspricht das weitgehende Verbot in der westlichen Welt, ihre Bedeutung
ernst zu nehmen und fruchtbar zu machen. Mit den Mußestunden in den kulturellen
Nischen wurde ein Reservat geschaffen, damit zugleich dafür gesorgt, die immunisierenden
Selbstheilungskräfte aus dem normalen Leben auszusperren. Noch das ideologische
Korsett der stabilen Ich-Konstruktion in der klassischen Psychoanalyse und
deren Nachfahren unterstreicht diese Arbeitsteilung – auf der Couch nehmen wir
uns in einem sparsam vorgegebenen Rahmen noch die Zeit für jene umfassende Form
der menschlichen Rede, für die wir im Alltag keine Zeit mehr haben dürfen oder
wollen. Wir geizen mit der Aufmerksamkeit, schauen nicht mehr richtig hin und
verbieten uns den Anspruch, ordentlich zuzuhören. Und das ist keine Schluderei,
kein biophysisches Aufmerksamkeitsdefizit, sondern das Resultat einer Flucht
aus der Gegenwart, deren Reizüberflutung uns bedroht und überfordert. Die
Kaffeehäuser und Zeitungen der Aufklärung hatten die politische Partizipation,
die Willensbildung und das Bedürfnis eines lösungsorientierten Sprechens face
to face gefördert; das heutige Übermaß an anonymer Information bewirkt das Gegenteil,
transportiert unverbindliche Phrasen neben gewalttätiger Aggressionsabfuhr,
setzt uns wieder der Erfahrung eines Absolutismus der Wirklichkeit aus. In gewissen
Situationen der extremen Ausgeliefertheit schaltet ein
menschheitsgeschichtliches Repertoire aktive Techniken des Widerstehens an, die
wir dank normaler Sozialisationsanforderungen überhaupt nicht erfahren sollten.
Während anhand Jean-Pierre Vallas Untersuchung über 'Kulturelle und psychische Faktoren
der Entstehung veränderter Bewusstseinszustände' eine durchgehende Linie von
den Drogenerfahrungen zur Liebe als Duell festzustellen war, begann sich ein
Modell der emotionalen Besetzung zu konstituieren, das zum Lernen in der
Katastrophe, zum sozialen Tod und zu systemischen Sprüngen in den Lern- und Wissensniveaus
wesentliche Einsichten beigetragen hat.
Die Rückführung von Bedeutungen auf schlichte
Konventionen wurde verabschiedet durch die Absicherung der Semantik auf einem tiefer
gelegten Fundament. Dank der Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte zum Entstehen
von Gefühlen und der emotionalen Besetzung kognitiver Fähigkeiten hat der
konventionelle Drill der pädagogischen Institutionen an Halt verloren. Die
überwiegende Sozialisation von Kleinkindern durch die Mutter oder einen
Mutterersatz ist eine notwendige Bedingung, die das Kleinkind aus den primären
symbiotischen Beziehungsmustern in eine Phase konstanter Objektbeziehungen
führt, die im Alter von zweieinhalb bis drei Jahren erreicht ist. Diese
Objektkonstanz impliziert die Fähigkeit, über eine einigermaßen konstante
innere Vorstellung des Selbst zu verfügen. Die affektive Qualität dieser Beziehungen
setzt die Grundlage für das Begreifen der Wirklichkeit; Affekte sind in der
frühen Kindheit der wichtigste emotionale Nährboden, ohne den keine kognitiven
Prozesse ablaufen, weil ihre Verknüpfung spezifische Wahrnehmungen an eine
Bedeutung bindet. Folgerichtig
ist die Grundlage der Koordinatensysteme, innerhalb deren wir uns im späteren
Leben orientieren, eine emotionale Besetzung von Bedeutungen. Schlichte Konventionen
bedeuten uns auf Dauer nichts, selbst wenn sie noch so gut benotet werden – nur
in institutionellen Zusammenhängen mögen sie biographische Misserfolgsgeheimnisse
abpuffern. Die jeweiligen Institutionen haben spezifische Auswahlkriterien, die
in der Folgezeit die bevorzugten psychischen Deformationen fördern oder zu
weiteren Spezialisierungen auffalten. Im Gegenzug zur Perpetuierung der
familialen Verstümmelung greift eine Umformatierung des biographischen Koordinatensystems
an den emotionalen Besetzungen an. Werden Emotion und Bedeutung wieder getrennt,
entkoppelt dies die Verknüpfung zwischen Objekt und gedanklicher Vorstellung
und setzt Bindungsenergie frei. Wie sie sich fremd werden, treten merkwürdige
Erscheinungen auf, die den Erfahrungen einer intensiven Verliebtheit
entsprechen: Der Empfindung einer plötzlichen Helligkeit der Welt und die damit
einhergehende Unbeständigkeit der Objekte. Das spontane Abziehen einer Besetzung
tritt in der Regel im Zusammenhang mit einschneidenden Veränderungen im Leben
auf: der Verlust einer geliebten Person, der Bedrohung durch eine äußere Gefahr,
der kompletten Veränderung der kognitiven Bedingungen der Wahrnehmungen. Neben
diesen modellhaften Katastrophen kann sich der Countdown einer künftigen
Katastrophe einstellen, wenn die familiale Besetzung auf einen Menschen
verlagert wird, mit dem das Versprechen eines gemeinsamen Lebens verbunden ist.
In der Regel werden diese Prozesse durch einen starken Affekt beschleunigt, der
den nötigen Druck ausübt, um eine Ablösung herbeizuführen. Das Abziehen der
Besetzung gibt Erwachsenen die Möglichkeit, die in seiner frühen Kindheit
erfolgte Konditionierung abzustreifen, um für Augenblicke in einer staunenswerten
Präsenz anzukommen.
Wir können
uns – und sei es mit der Starthilfe von Halluzinogenen – auf intensive
Wahrnehmungen einlassen, um zu horchen und zu fühlen, um zu riechen und zu
schauen, um uns von Rhythmen tragen zu lassen. Nach der gewöhnlichen Zeitvorstellung
rauscht die Gegenwart, reduziert auf ein schmales mediales Fenster, unablässig
an uns vorbei und wird ständig von der Vergangenheit geschluckt. Je mehr die
Zeit der Beschleunigung untersteht, je schneller wir meinen, unsere Ziele zu
erreichen, je weniger bleibt uns von der Erfahrung dieser Zeit übrig. Die
paradoxe Entwicklung, die Erfahrung beschleunigter Lebens- und
Produktionsprozesse die Zeit immer knapper erscheinen zu lassen, obwohl wir
nachweisbar immer mehr Zeit zur freien Verfügung haben, ist weniger einem
Diktat der Chronokratie zu verdanken, als der Unfähigkeit, mit sich
einverstanden und bei sich zu Hause zu sein – vermutlich ist die Chronokratie
erst aus dieser Fluchtbewegung entstanden. Aus jener Abwesenheitsdressur, die
wir den Wunschbildern und Erwartungsmustern der Mütter verdanken, wird ein
Motor der Anwesenheitsverweigerung und der Weltflucht. Die symbolischen
Erscheinungsformen, mit denen das magische Erbe der Mutterabhängigkeit
bemerkbar wird, sind in allen Distanzierungsformen zu bemerken, sei es in der
Regredierung auf verschiedene Formen der Partnerunfähigkeit, sei es in den
verhärteten Rückgriffen auf jene verhärtete Form der Ehe, bei der die
Konventionen bereits dazu dienen, möglichst wenig an der Lebenswelt des anderen
Geschlechts teilzuhaben. So ist es nur stimmig, wenn wir umso offener für
eine/n Partner/in werden, umso unwichtiger der ursprüngliche Mutterbezug dank
einer erfüllten Sexualität geworden ist. Selbst das Bedürfnis nach dem Aufenthalt
in Ideologien und Ersatzreligionen kann durch hohe Dosierungen von Sex pur abgestellt
werden, ein exzessiver Drogenkonsum kann sich als uninteressant herausstellen –
dem Motor der ursprünglichen Abhängigkeiten ist damit der Treibstoff zu
entziehen. Erst die Erfahrung, mit einem anderen Körper zu einer Einheit zu
verschmelzen, kündigt den anfänglichen Eigentumsanspruch auf. Mit den nötigen
Routinen erfahren wir das Hier und Jetzt als Feld, in dem wir empfinden und uns
bewegen… Diese Erfahrung muss sich nicht einmal fremd anfühlen, nur intensiv
und umfassend. Bis zu diesem Punkt der Entwicklung war sie lediglich dank profaner
Erleuchtungen, die bereits die Erfahrung lieferten, wie wir uns in der
kulturellen Nische der Musik orientieren, auf einen entwirklichten ästhetischen
Rahmen beschränkt. Während wir Musik hören, sind wir in einem zeitlichen Feld
der Nachahmungsneuronen, das Bewegungen in beiden Richtungen ermöglicht: Wir
wissen nicht nur, was wir gehört haben, wir wissen auch bereits, was darauf
folgen wird. Für Lévi-Strauss wird die Musik in der Einleitung von ‚Das Rohe
und das Gekochte‘ wie der Mythos zu einem die Zeit beseitigenden Verfahren,
während dem wir beim Hören an einer Art Unsterblichkeit teilhaben. Es gibt
momentane Ewigkeiten, in denen die Gesänge in den einzelnen Zellen, das
Rauschen und Vibrieren ihrer zeitlichen Ausfaltung, zu einer Woge des
überbordenden Lebenswillens anschwellen und über alle Dämme der
institutionalisierten Stillstellung treten. Die Erfahrung der Präsenz setzt
einen anderen, nichtlinearen Zeitprozess voraus. Kittler hat immer wieder
unterstrichen, warum die institutionalisierten Künste lediglich imaginäre Beziehungen
zu den Sinnesfeldern unterhalten, die sie voraussetzen. Während Buchstaben und
Papier nur Vorstellungen der Lesenden in Bewegung setzen, haben die die Physiologie
erweiternden, verstärkenden Medien, allem voran der Sound, selber einen teilhabenden
Bezug am Realen. Akustische und visuelle Medien sind, solange sie noch keiner
Digitalisierung unterstehen, von genau der Materialität mit der sie arbeiten: Gerade
ihre indexikalische Verhaftetheit in den Sinnesdaten lässt sie das Spiel auf
und mit den Nerven beherrschen. Die mit ihnen freigesetzte Bewegung befördert
noch unterhalb der Sphäre der Bedeutungen eine Bejahung des Fließens und der
Wandlungen der Lebendigkeit, in der sich Vergangenheit und Zukunft tangieren
und in ihren feinsten Aromen mischen. (Weil wir keine Nullen und Einsen hören
oder sehen, unterstehen die digitalisierten Medien einer analogen
Rückübersetzung, die dank durchschnittlicher Technik bereits den Index aufs
Reale reproduziert.)
Was einmal
als Seele bezeichnet wurde, kann als Fließgleichgewicht jener körpereigenen
Drogen verstanden werden, die im besten Fall wie eine gelungene musikalische
Improvisation auf der Grundlage der im Laufe eines Lebens dichter und tönender
werdenden Harmonie antwortet, im schlechtesten Fall aber eine Homöostase des
Elends als Kakophonie dröhnen lässt. In vergangenen Epochen mag sich dieses vordiskursive
Geschehen des relativ zeitenthobenen Standindexes durch Zeiten und Räume mitgeteilt
haben – im Status einer informalisierten
Normalität wird es durch all jene Botschaften übertönt, die dafür zu sorgen
haben, dass wir arbeiten und konsumieren, um der Wirklichkeit von
Kapitalbewegungen zu dienen. Erst die Entfremdung von all jenen scheinbaren
Sicherheiten, die wir der Pathologie der Normalität verdanken, produziert einen
Überschuss, die Sprache wird spielerisch, nimmt das Wörtliche symbolisch, widersteht
damit den Zwängen einer fehlerhaften Selbstidentifikation. Erst wenn wir Sprache
jenseits von Information und Instrumentalisierung verwenden, stellen wir jenes Medium
her, in dem eine umfassende Koordination des Hier und Jetzt ermöglicht wird. In
diesem Zusammenhang greift Sonnemanns Kritik an den Bildwelten und der Vorherrschaft
des Imaginären – für Hans Jonas ist das Sehen der Sinn des Gleichzeitigen und
Koordinierten, für Sonnemann dagegen das Hören einer Abfolge die Grundlage des
vernünftigen Vernehmens. Der Streit um die Wirklichkeit der Zeit als räumliche
Bewegung steckt noch in Kants Begriff der Zeit als Anschauungsform, die eine Verräumlichung
darstellt, wie dies jedes Uhrwerk nahelegt. Mit der Beschreibung Burckhardts
fließt die Zeit der mechanischen Uhr nicht mehr, sondern die die Zahnräder
antreibende Kraft untersteht einer Hemmung, sie ruckt Zahn um Zahn voran. Ihr
Fluss wird in distinkte, klar unterscheidbare Zeitpunkte zerlegt, der Zahn der
Zeit produziert Zeitzeichen, die zu lesen sind. Diese seit Jahrhunderten
beschleunigte Routine der Übersetzung des Zeitflusses in ein gedankliches
Räderwerk wurde mit der Entwicklung fotographischer Apparaturen sogar noch
überboten, dank denen der Bewegungsfluss in aufeinanderfolgende, minimale
Zeitmomente einzufrieren war. Diese Entwicklung mag sich neben der zunehmenden
Wucherung von Verwaltungsstrukturen als Erklärung der im Prozess der
Zivilisation zunehmenden Antriebsstörungen anbieten. Ganz analog negiert Kants
Anschauungsform die Zeit als Bewegung; eine sinnliche Erfahrung dieser Bewegung,
die die Zeit doch zuerst und entscheidend ist, zählt nicht mehr. Dabei nehmen wir,
die Unumkehrbarkeit der zeitlichen Bewegung als selbstverständlich vorausgesetzt,
etwas keineswegs Erstaunliches wahr: Sämtliche Phänomene, in denen Zeit sich
gliedert und artikuliert, die sich nur ihr und nicht dem Raum verdanken, erfahren
wir rhythmisch-akustisch. Das Entscheidende für Sonnemann ist, wie dies ihrer
Bestimmung als Anschauungsform spottet. Alle Sprache, alle Musik, aller
Rhythmus, alle vernünftige Verständigung wenden sich ans Ohr, nicht ans Auge. Ihre
Abkunft stammt aus der Gemeinsamkeit des Gesprächs, der Aufmerksamkeit einer
dialogischen Wachheit, die das Vernehmenkönnen aus einem Zuhörenkönnen begreift.
Anhand von Tomatis Untersuchungen zur vorgeburtlichen Kommunikation sind
weitreichende Unterstreichungen der von Sonnemann präparierten, auf erkenntnistheoretischen
Konklusionen beruhenden Beobachtungen aufzuzeigen. Er kennzeichnet das Horchen
als eine Gabe höherer Ordnung, die sich zwar mit Vorliebe des Gehörs bedient,
aber als Fähigkeit zu beschreiben ist, die über die organische Funktion des
Ohrs weit hinausreicht, sich an der Klangwelt der jeweiligen Wirklichkeit orientiert.
Damit kann es zu einer über alle Grenzen ausgeweiteten Verbindung mit einem
Ganzen kommen, als dessen kleiner Teil sich der Mensch erfährt. Die Fähigkeit sich
dem anderen zu eröffnen, nicht nur zuzuhören, sondern zu Horchen, führt zu
feinsten Wahrnehmungen, damit zu scharfsinnigen Schlussfolgerungen. Zu horchen
auf das Substrat all der Erscheinungen, die die Welt des Menschen bilden, führt
zu einer fortwährenden Anteilnahme und Freude an den geringsten Details der
Schöpfung: Das Leben zu bejahen heißt horchen, also nicht gehorchen, nicht
nachplappern oder mitbeten. Beide Relate, das Horchen und das Leben implizieren
die Gegenwart eines sich entwickelnden Seins, das auf die Gesetzmäßigkeiten der
Entwicklung selbst horcht. Gegenüber dieser Variante des Lernvermögens, die
sich mit den aktuellen Entwicklungen der theoretischen Physik überschneidet,
den Aufenthalt in einem kreativen Universum anempfiehlt, ergibt sich zwingend
die Frage, was von der selbstreflexiven Vitalität alles durch eine Erziehung zu
stillgestellten Konsumenten und kritiklosen Automaten abtötet wird? Schulen und
Ausbildungsstätten produzieren Bonsais und Zombies, außerdem Verstümmelte, die
sich als Krüppelzüchter an der ausgesaugten Lebendigkeit therapieren. Trotz
eines Erkenntnistands auf dem Level von Unschärferelation, Feldtheorie und Quantenverknüpfung
fragt Jonas nicht danach, wie die Einzigartigkeit des Sehens in Hinsicht auf
die Simultaneität der Präsentation eines Mannigfaltigen prozessiert wird. Sehen
wird für ihn zur Darstellung von Gleichzeitigkeit durch Gleichzeitigkeit – diese
Einheitlichkeit des Imaginären erinnert nicht zufällig an die ursprüngliche symbiotische
Einheit während der einem nicht einmal der eigene Schmerz gehörte. Dabei scheint
uns das Auge lediglich ein Tableau zu präsentieren, während alle anderen Sinne
ihre wahrgenommenen Vereinheitlichungen des Mannigfaltigen aus einer zeitlichen
Abfolge von Sensationen konstruieren. Die perzipierten Qualitäten haben
Prozesscharakter, sind in der Musik besonders offensichtlich Resultate einer
Zeiterfahrung – nicht anders übrigens, als beim Sehen, das auf codierten
Gewohnheitsmustern beruht. Der Code übersetzt optische Eindrücke in
Vorstellungen, die dem entsprechen, was wir schon einmal gesehen haben, schon
deshalb wiegen wir uns in der umfassenden Illusion einer Unmittelbarkeit!
Lévi-Strauss
schlägt in der ‚Luchsgeschichte‘ für die Erkenntnistheorie einen Bogen von den
Mythen schriftloser Gesellschaften zu den Unvorstellbarkeiten einer
wissenschaftlichen Zivilisation, die erneut auf Mythen zurückgreift. Während
die positiven Erkenntnisse am Anfang weit hinter den imaginativen Kräften
zurückblieben und dem Mythos durch Erzählung und verkörpernden Ritus die
Aufgabe zufiel, diese Lücke zu schließen, befinden wir uns in der
Wissensgesellschaft in der umgekehrten Situation, die zu einem vergleichbaren
Ergebnis führt. Mittlerweile sind mathematisch-naturwissenschaftlich gewonnene
Fakten den Kräften der Imagination soweit voraus, dass unserem Vorstellungsvermögen
nur das Hilfsmittel bleibt, wieder auf den Mythos zurückzugreifen, um jene von
den Wissenschaften enthüllten Gesetzmäßigkeiten anschaulich zu begreifen. Mythische
Darstellungs- und Denkformen vermitteln erneut zwischen der Inszenierung der Gelehrten
auf der Kanzel oder in den Medien, die durch Berechnungen Zugänge zu einer unvorstellbaren
Realität aufgetan haben. Dem Laien, der wissen will, wie eine Realität zu
verstehen sei, deren mathematischer Nachweis alle Befunde der sinnlich-anschaulichen
Intuition Lügen straft, bleiben Erzählungen als einziges Kommunikationsmittel der
Wissenschaft. Die Namen oder Bildwelten, die sich Gelehrte ausmalen, um den
Abstand zwischen makroskopischer Erfahrung und den dem Laienverstand
unzugänglichen Wahrheiten zu überbrücken, haben sämtlich den Charakter von
Mythen. Noch dazu gehorchen die Narrative einer heraklitischen Dialektik, nach
der ein in diese Konstruktionen verstricktes Denken zwingend antithetische Ergebnisse
hervorbringt, am prominentesten die Ambivalenz heilig-verflucht und recht
aktuell der Welle-Teilchen-Dualismus. Berechnungen haben nur einen Sinn für den
Forscher, solange er auf seine Apparate und Formeln vertraut und kein Bedürfnis
verspürt, die Ergebnisse umgangssprachlich zu übersetzen. Der ehrliche Laie wird
allerdings gestehen, dass die Konkretisierungen mit keiner seiner Vorstellungen
von Welt zu verbinden sind. Für ihn wird wie in theologischen Spekulationen eine
übernatürliche Welt vorausgesetzt, die nur durch die Übersetzung in eine mathematische
Sprache überhaupt an Sinn gewinnt. Und doch gibt es genügend Beispiele
‚genialer Gehirne‘, theoretische Forscher, denen eine Lösung im Traum erschien
oder durch eine zufällige Beobachtung in der Natur, durch eine Begegnung auf
der Straße nahegelegt wurde. Unsere Wirklichkeit ist eine über die Jahrhunderte
gewordene Konstruktion, die nicht nur der Domestizierung unserer Naturerfahrung
gehorcht, sondern auch den gesellschaftlichen Verfügungen der Macht, was
überhaupt der Wahrnehmung unterstehen darf. Eine Dialektik der Aufklärung macht
sich bis in die Deformation unsere Sinnensysteme hinein bemerkbar: Was uns von
einer übermächtigen Natur befreien sollte, von den durch ihre Erfahrung
ausgelösten Ängsten, hat auf all das zurückgewirkt, was wir mit der Natur
teilen. Der Zauber, den eine erste Aufklärung durch die Erkenntnis der Welt
loswerden wollte, hat die erkennenden Subjekte überformt; methodisches Denken
wurde weitgehend zu einem ritualisierten Zwangsverhalten, das der
Angstbewältigung verpflichtet war. Die Ordnung und Gesetzmäßigkeit, denen man
sich verpflichtet fühlte, waren solche geschlossener Welten – aus diesem Grund
war für Kamper die einzige Kritik der Moderne mit Erfolgschancen eine Kritik
des Mythos und seiner imaginären Zwangsläufigkeiten. Vielleicht transportieren
Erzählungen als ursprüngliche Antriebe des Mythos noch immer die Fähigkeit,
sich anderem zu eröffnen. Märchen waren nicht nur die ersten Ratgeber der
Kindheit, sie wurden insgeheim zu Sozialisationsagenturen von Blockbustern. Weil
wir auch in einer überkomplexen Welt nach Sinn und Gerechtigkeit suchen,
greifen die ursprünglichen Erklärungsmuster – in manchen Fällen sind sie den
beschränkenden Imperativen des wissenschaftlichen Denkens noch immer überlegen.
Wie häufig werden uns Verhaltensweisen des Horchens präsentiert, Thematisierungen
einer tierischen Körperbeherrschung verbunden mit einem entfalteten Sinnenbewusstseins,
dank dem sich feinste Wahrnehmungen und scharfsinnige Schlussfolgerungen
einstellen, die allem zu widersprechen scheinen, was die in den letzten
Jahrhunderten sozialisierten Anschauungen nahelegen.
Alle
Erfahrung setzt eine durch die Zeit strukturierte Wirklichkeit voraus. Diese
Zeitstruktur als Erfahrung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist ein
Prozess in der Zeit, also selbst wieder zeitstrukturiert. Mit Picht ist von einer
Verschränkung der Zeitmodi zu auszugehen, von der Vergangenheit der Gegenwart, der
Gegenwart der Gegenwart, sowie der Zukunft der Gegenwart. Mit Vergangenheit und
Zukunft als den beiden anderen Zeitmodi ergeben sich neun Verschränkungen die
wir in einer indexikalischen Zentralperspektive des Ich-Hier-Jetzt wie
selbstverständlich handhaben, während wir die Gegenwart der Gegenwart nur einige
wenige Sekunden als Präsenz erfahren. Nachdem das Spiegelstadium als Bildner
der Ich-Funktion gekennzeichnet wurde, ist nicht zu übersehen, dass sich die anfängliche
Konstruktion der Zentralperspektive dem Spiegel, also der Übertragung des
Imaginären in die Mathematik verdankt.
Als Einstieg zum Thema Präsenz bedienen wir uns am
Artikel ‚Eigenzeit‘
des ‚Historisches Wörterbuch der Philosophie‘. J. v. Uexküll
hat die These aufgestellt, in jeder Umwelt, die vom Subjekt hervorgebracht
wird, herrsche eine eigene Zeit. «Die Zeit, die alles Geschehen umrahmt,
scheint uns das allein objektiv Feststehende zu sein gegenüber dem bunten
Wechsel ihres Inhaltes, und nun sehen wir, dass das Subjekt die Zeit seiner
Umwelt beherrscht. Während wir bisher sagten: Ohne Zeit kann es kein lebendes
Subjekt geben, werden wir jetzt sagen müssen: Ohne ein lebendes Subjekt kann es
keine Zeit geben.» Die Vorstellung einer subjektiven Eigenzeit geht auf Baer
zurück, der 1864 in einer Rede die Fragestellung einer subjektiven Zeiteinheit umriss.
An einleuchtenden Beispielen stellte er dar, wie einem Wesen mit erheblich
verlängerter oder verkürzter subjektiver Zeiteinheit die Welt erscheinen müsse:
Wäre bei einem Menschen die subjektive Zeiteinheit um das tausendfache
verkürzt, würde eine Gewehrkugel im Flug stillstehen; wäre sie aber
entsprechend verlängert, würde die Sonne als feuriger Bogen imponieren. Während
Baer noch keinen Terminus für die subjektive Zeiteinheit einführte, wird diese
seit Uexküll als ‹Moment› bezeichnet. Er definiert diesen als «jene Spanne
Zeit, die ein Lebewesen verwendet, um äußere Eindrücke als gleichzeitiges
Merkmal aufzunehmen» und sieht «die Ursache hierzu ... in einem inneren Rhythmus
des Zentralnervensystems, der bei verschiedenen Tieren große Unterschiede aufweist».
Man kann den Moment als den «Zeitraum» definieren, innerhalb dessen wir Reize,
unabhängig von ihrer objektiven Zeitfolge, als gleichzeitig empfinden. Untersuchungen
aus neuerer Zeit bestimmten die Dauer des Moments auf im Mittel 102 Millisekunden.
Die von Baer erschlossene Vorstellung lässt sich heute mit filmischen Mitteln
als Zeitlupe oder als Zeitraffer anschaulich machen. Ansätze zu einer
experimentellen Bestimmung des Moments bei verschiedenen Gattungen finden sich bereits
bei Uexküll. Wäre
unser spezifisches Zeitmaß ein anderes, sähe unsere Welt anders aus – dabei
sollte nicht übersehen werden, dass diese Unterschiede nicht nur einzelne
Gattungen betreffen. Je nach Lebensstil, Umweltanforderungen und Lernvermögen
fallen diese ‚Momente‘ schon für einzelne Individuen ganz verschieden aus, oft
genug treffen verschiedene Welten aufeinander, manchmal sogar in ein und demselben
Kopf.
Blumenberg unterstreicht in ‚Lebenszeit und
Weltzeit‘, dass unsere Welt anders aussähe, wenn das dem Menschen
eigentümliche Zeitmaß ein anderes wäre. Prinzip der Erfahrung
ist eine aus dem unendlichen Fundus der Materie hervorgehende Kosmogonie, die
ständig alle Stadien ihres Gesamtprozesses empirisch vorweist. Damit erst gibt
es eine Ausflucht des Menschen aus seiner theoretischen Fixierung
auf den Absolutismus der Zeit: die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen im Raum. Dieses Mittel der theoretischen Zeitraffung
dient der Darstellung des Ganzen im Nebeneinander seiner Relikte und
Möglichkeiten. Wenn er die Voraussetzung des spezifischen
Zeitmaßes in einer Form des biologischen
Funktionstauschs von Lebenszeit und Weltzeit komplementär betrachtet, in der Verlängerung
der Lebenszeit und der Verlangsamung des Standards Pulsschlag, ereilt ihn „ein
aufregender Augenblick des Gedankens“, der für meine Argumentation in jener
Gesetzmäßigkeit der Stillstellung der Kräfte des Individuellen durch ihre
Institutionalisierung mündet. Das ursprüngliche Programm der Neuzeit richtete
sich gegen das
auf Spekulationen
beruhende System der mittelalterlichen Scholastik. Als Realität galt der
Aufklärung nur noch das
mit den Sinnen Wahrnehmbare oder das, was sich mit menschlichen Mitteln auf das
Resultat von Druck und Stoß zurückführen ließ. Dennoch war es die Wissenschaft
selbst, die der
Unsinnlichkeit
wieder die Tore öffnete. Unsichtbares, überhaupt Unmerkliches führte
mit der Newtonschen Physik erneut dazu, Kräfte anzunehmen, für die der Mensch
kein Organ besitzt und deren Existenz lediglich aus geordneten Zahlenverhältnissen
zu erschließen war. Die durch keine Aufklärung
entkräftete
Bereitschaft, dem Nichtwahrnehmbaren alles zuzutrauen, wurde durch die mathematische
Interpolation abgeschirmt, die allein die Öffnung für noch Unbekanntes vertretbar
machte. Die Bandbreite der Erfahrungsformen der Lebendigkeit wurde Normierungen
unterworfen, die vor der Überflutung durch Magie und Spekulation schützen
sollten, aber die Pathologie der Normalität derart eng abzirkelten, dass
bereits romantische Künste bedrohlich wirkten, Erotik oder Traumerfahrung vom
Wahnsinn umwittert waren.
Wie tief
diese Formatierung angelegt ist, hat Hacking nachvollzogen, als er im Kapitel
‚Vor dem Gedächtnis‘ demonstriert, warum der Kulturimperialismus längst nicht
tot ist; heute wird er professionell von Psychiatern anstelle von dilettantischen
Missionaren betrieben. Statt von der Ethnologie zu lernen, wie sehr unsere
Erfahrungsformen im Prozess der Aufklärung reduziert und beschnitten worden sind,
werden westliche dissoziative Störungen nicht etwa als eine lokale und
spezifische Form von Trance angesehen, sondern die Trance wird als Untertypus
einer westlichen Krankheit der dissoziativen Störungen betrachtet. Schlimmer
noch: Die Psychiater verwandeln zentrale und bedeutungsvolle Bestandteile
anderer Kulturen in Pathologien mit der Rechtfertigung, während im Westen
multiple Persönlichkeiten auftreten, habe fast die gesamte übrige Welt die Trance.
Für Hacking ist das kein Grund, die Trance in eine Störung umzuwandeln, die der
dissoziativen Störung gleichkommt, die bisher eine nur dem Westen eigentümliche
Geisteskrankheit war. Tatsächlich ist von einem innerem Team auszugehen, das in
einer immer komplexeren Welt bei einer weichen, für verschiedenste Perspektiven
offenen Sozialisation lernt, vielfältige Aufgaben zu koordinieren. Wenn die
Erziehung zu einem Charakter, zu einem gepanzerten Ich, durch die
Beschränktheit dumpfer Deppen forciert wird, kann eine multiple Persönlichkeit
das Ergebnis sein. In jedem Fall fällt das Sendungsbewusstsein der westlichen
Normalitätsemphase auf uns selbst zurück: Was wir den anderen vorschreiben,
wird in Sozialisation, Schule und Ausbildung als Beweisfigur an den eigenen
Generationen durchexerziert. Die Empfangsbereitschaft für die Botschaften eines
der Lüge unfähigen Körpergeschehens wird gestört, die Basis einer
gattungsspezifischen Klugheit empfindlich erodiert. Nietzsche machte bereits das
Prinzip fehlerhafte Identifikation für Irrtümer verantwortlich, die aus dem wissenschaftlichen
Zurechtbiegen der erwünschten Ergebnisse resultieren; die vorausgesetzte
Gleichheit ist ursprünglicher als das Erkennen der Gleichheit: Die Projektion wird
so Voraussetzung des Denkens. Für die gesellschaftlichen
Funktionszusammenhänge des Westens zeigt Hörisch anhand des Geldes, wie
gültiges Erkennen zur Täuschung über den eigentlichen Sachverhalt wird, wenn
das Konstitutionsverhältnis der Erkenntnis ein Verweisungszusammenhang der
Verkennung ist. Die Komplexität des Geldes erklärt sich durch den Bezug auf ein
Symboldenken, das ursprünglich aus der Erfahrung des Heilig/Verfluchten erwächst
– das Symbol ist kein Werkzeug der Rationalität, sondern ein Kennzeichen des
Sakralen. Die Eigenheit des Geldes resultiert weniger aus dem Tauschwert, als
aus seiner Beziehung zur Macht, die den Bezug zum Sakralen vermittelt. Was als
Reichtum erstrebt wird, ist tatsächlich die Macht über Menschen, über deren
Arbeitskraft wie Leistungsfähigkeit. Die elementaren Formen des Denkens sind
Epiphänomene des Äquivalententauschs; sie machen damit eine Kritik der politischen
Ökonomie zur Kritik der unreinen Vernunft. Wir haben nicht nur
vergessen, dass es tatsächlich um das schmutzige Heilige im Leben geht, wir
sind sogar noch dazu verdammt worden, dieses Vergessen gründlich zu vergessen. Unsere Rationalität erweist sich als relativ, weil das für
den Wahrheitsanspruch postulierte Transzendentalsubjekt der universalisierten
Warenform gehorcht. Selbst eine Theorie des kommunikativen Handelns wäre nur
dann durchzuhalten, wenn wir von allen strategischen Sprechakten absehen – der
meisten Kommunikation liegt die Information nur am Rande zugrunde, während deren
Betätigungsfeld die Manipulation in den verschiedensten Varianten ist. Dieses
Abhängigkeitsverhältnis von Geist und Geld wird in den Führungsetagen zynisch
gehandhabt, während es die kriminellen Randzonen der Gesellschaft auf einen
Realgehalt reduzieren, von dem noch die Ordnungsmächte und das Finanzministerium
profitieren. Durch demokratische Parteien vertretene Herrschaftsverhältnisse,
die durch Geld und Macht korrumpiert werden, preisen eine Stabilität an, deren
Halt und Sicherheit sie vermitteln, und vor dem Hintergrund totalitärer Regime
haben sie sogar recht. Aber wenn eine Demokratie durch den konservativen Grundsatz,
dass neben dem Konsens über unverrückbare Werte alle über alles reden können, um
damit den Veränderungswillen und das Lernvermögen zu ermüden, wenn das Gerede
also vor allem dazu dient, alles wie gewohnt bleiben zu lassen, ist in einer
Zeit des enormen technischen Wandels, der dank der Globalisierung wandernden
Machtbalancen, höchstens ein kleiner Aufschub zu gewinnen. Was die subalternen
Parteigänger der Macht nicht beunruhigt, solange für ihre Bedürfnisse nicht
alles relativ ist, sondern Geld und Einfluss absolute Werte bleiben. Aufgrund
einer Position an den Schalthebeln der sogenannten Volksparteien bringen sie ihre
Schäfchen ins Trockene, sichern ihren Ablegern mit dem Einfluss des Namens die
Zugriffsmöglichkeiten, bei einem der nächsten Versuche, die großen
Institutionen zur Selbstbedienung zu verwenden und künftige Generationen standesgemäß
abzusichern.
Tatsächlich
führt die Relativität längst nicht zur oft genug befürchteten Haltlosigkeit,
denn sie setzt Lernvermögen und Flexibilität frei; jede Relation steckt in
universellen Bezügen. Wenn das Prinzip Relationalität in seiner ganzen
Tragweite umgesetzt wird, gibt es nichts, das nicht über alle möglichen Umwege
mit allem anderen verbunden ist – eine frühe Spur findet sich bereits bei
Platon, für den Eros als reine Relation gedacht werden soll. Schönheit hat
auf der hormonellen Ebene eine Wirkungsgewalt, die eine stringente Logik auf
der Ebene der Argumentation noch überholen kann – eben diese hormonellen
Auslöser synchronisieren Schönheit und Augenblick. Für Bohrer gibt die
Schönheit dem Augenblick den Charakter einer erschreckenden Erfahrung, verleiht
ihm eine Inkommensurabilität, die nicht nur die surrealistische Erotik prägte,
sondern bereits in Rilkes ‚schrecklichem Anfang‘ aufblitzt. Die Emphase des
Tuns, des Erlebens überformt das Subjekt, es verschwindet in einer Woge des
Mitgerissenwerdens. Wenn es heißt, die Faszinationskraft einer schönen Frau
werde durch ihre Dummheit nicht beeinträchtigt, höre ich nur das Ressentiment
der abgeschlagen hinterher hinkenden Konkurrenz. Wenn Mathematiker von der
Schönheit eines Beweises sprechen, ist dies beileibe keine Metapher, so abgestorben
und kalt manche Formel auch erscheint, transportiert sie doch einen Nachhall der
Beweiskraft der Schönheit. Aus unvordenklichen Zeiten hat sich die Ahnung
erhalten, dass Wahrheit eben nicht nur eine Funktion von Sätzen ist. Was
irgendwann einmal als abgehobene Funktion der Vernunft behauptet werden konnte,
ist der Intelligenz körperlicher Routinen nicht vorausgegangen, sondern verdankt
sich Abstraktion und Generalisierung, greift auf eine schlaue Kette von
Erfahrungsformen zurück, die nicht bewusst gewesen sein müssen, aber zu Handlungsanweisungen
taugten, weil sie passten, weil sie stimmig waren, weil sie ineinander griffen
wie die sexbedingte Zivilisierung männlicher Jagdbeuter durch die Erfahrungsformen
weiblicher Sammlerinnen. Als in der griechischen Philosophie die Verkleinerungsform
des Eros an die Stelle von Aphrodite getreten ist, haben wir es mit dem Beginn
jener grundlegenden Verleugnung zu tun, die die kulturschwule Vereinigung
konstituiert. Unter der Perspektive Virilios mag mit dem Frauenraub die
Domestizierung der Frau zum Lasttier begonnen haben, womit für den Mann eine
erste Freisetzung von unabhängiger Mobilität verbunden war. Während die Frau
für die Gepäckbeförderung sorgt, kann sich der Jäger zum Krieger entwickeln,
sich zum Männerjäger entwickeln und dem homosexuellen Duell widmen. Die
untergeordnete Rolle der Frau in den durch die Großreligionen geprägten
Institutionen entspricht der Selbstabgrenzung des Männlichen vom Weiblichen,
wie dies in Schultes ‚Philosophie der letzten Dinge‘ vorgeführt wird. Die Seel-
und Selbstsorge der Priester, Theologen, Philosophen und Theoretiker dient der
Pflege wie Optimierung des männlichen Selbstbewusstseins. Von den Frauen übernehmen
sie die Kompetenz für die letzten Dinge: Geburt, Tod und ewiges Leben – wobei
das Verschmelzungsbedürfnis der Mystiker, die Wonne des mütterlich-Numinosen im
Modus des Als-Ob in kulturellen Nischen gepflegt als auch entkräftet wird. Nicht
nur für Schulte weist Nietzsches Schlussfolgerung, die Wahrheit könnte ein Weib
sein, auf die fällige Rehabilitation des Verdrängten hin, das der Geschlechtsumwandlung
des Göttlichen zu verdanken ist. Wenn an anderer Stelle die Spuren von
Nietzsches Initiation durch einen älteren Mann verfolgt werden, sind
tatsächlich alle Konditionen der kulturschwulen Vereinigung auf den Nenner
gebracht – womit an dieser Stelle nicht ausführlich auf biographischen Abschweifungen
zum Thema päderastischer Verführungen zurückgegriffen werden muss. Für Virilio
ist bereits das domestizierte Weib die erste logistische Stütze zur Vorbedingung
einer Möglichkeit des Krieges, weil es die Sorge für den Nachschub übernimmt.
Sie ermöglicht die erste Revolution des Transportwesens und erlaubt dem von ihr
delegierten Jäger eine Spezialisierung auf die Entwicklung von Machtritualen
und Finten, von Strategien und Taktiken, um sich nicht nur im symbolischen
Schwanzlängenvergleich mit anderen Männern zu messen. Entscheidend für unseren
Zusammenhang ist die Genese jener weiblichen Körperschaften, die eine
gleichgeschlechtliche, männliche Elite der Bewegung und Innovation hervorbringen,
ohne die eine Akkumulation von Energie und Wert, die Kapitalisierung der Güter
und des Reichtums, unmöglich gewesen wäre. Gegen die Macht der weiblichen Magie
waren Logik, Rhetorik und Heuristik noch die harmlosesten Waffen – die gesellschaftliche
Abwertung der Frau war eine Langzeitstrategie, während ihre ursprüngliche Macht
in einem Prozess der gegenseitigen Domestizierung an dromokratische
Institutionen delegiert wurde. Im ‚Philosophischen Sperrmüll‘ tauchen bereits
jene weiblichen Körperschaften auf, die in der Verlängerung eifersüchtiger
Mütter agieren und reale Frauen ausschließen oder zu Wesen zweiter Wahl
verwünschen. Deshalb lautet der von Kittler formulierte Imperativ, mit dem
solche Institutionen über ihre männlichen Mitglieder verfügen: Bevor man eine Frau haben darf, hat man die mütterliche Körperschaft zu
begehren. Ein solch verordnetes, primordiales Begehren ist abgründig, weil es
in Konkurrenz zu den hormonellen Bindungskräften errichtet worden ist. Jeder
unbefriedigte Mann ist manipulierbar, aus diesem Grund resultiert die Macht von
Institutionen aus der Verfügung über jene göttlichen Energien, die die
Beherrschbarkeit garantieren. Die Gemeinde ist eine Frau, der Körper des
Staates ist weiblich – er vermag Männer leidenschaftlich zu binden, aber a
priori nicht zu befriedigen. Die drei großen archetypischen
Körperschaften, die Armee, die Kirche, die Universität sind Mütter und zwar Mütter, die diese ihre
Qualität kaum verschleiern, sondern in einen eifersüchtigen Machtanspruch
verwandeln. Erst mit der technischen Möglichkeit der Klonierung, für die es nur
eine weibliche Eizelle braucht, kann die Genealogie mit einer von Männern
entwickelten Technologie wieder aus der weiblichen Verfügung übernommen werden;
die Anfänge einer Weiblichkeit aller Sozialität würden damit narzisstisch reaktualisiert.
Aber soweit muss es nicht kommen, solange Mütter in den frühen Prägungsphasen
diesen Narzissmus mit der Partizipation an den Großinstitutionen ausleben. Wer
darauf achten wöllte, keine Kosten der geplanten Karriere mit einer Liebesbeziehung
verrechnen zu müssen, sollte rechtzeitig auf den Erfolg in solchen
Institutionen verzichten. Ähnliches gilt für die von Sennett getaufte „Kultur
der Kurzfristigkeit“, in der die geforderte Wandlungsfähigkeit,
Flexibilität und Mobilität, die damit
einher gehende ‚Hire-and-fire-Mentalität, auf die ohnehin fragliche Beziehungsfähigkeit
abfärbt. Wenn es bei Lacan heißt, es gebe kein Verhältnis der Geschlechter und
Bolz zur Begründung die Systemtheorie bemüht, so ist für mich das Wörtchen
„mehr“ zu ergänzen: Es gibt in vielen Fällen keines mehr. Die überformenden und
erdrückenden Besitzansprüche der Mütter mögen bei beiden Geschlechtern die
Bindungsängste motivieren; wenn allerdings die von Großinstitutionen ausgeheckten
Medien dazwischen kommen, werden biomagnetische Wirkungsfelder zwischen den
Geschlechtern in andere Sphären umgeleitet. Übergangsobjekte mögen eine
Bereicherung des Repertoires vorbereiten, doch wenn sie zum Rückzug auf
Ersatzobjekte werden, leitet dies bereits Verzicht und Resignation ein. Meine
Mutter hat Gunars Verführung durch einen Päderasten des Süddeutschen Rundfunks wohlwollend
ignoriert, weil ihr Bildungstick bestätigt und der Machtanspruch zugleich kaschiert
wurde: Sie hatte nicht vor, mich an eine andere Frau abzugeben. Die Mutter der
Kompanie, der Schoß der Kirche oder die Alma Mater ziehen ihre Kraft aus der
Entsinnlichung der Welt – von der Entgöttlichung der Qualitäten unserer Erfahrung
führt eine gerade Linie über die Desexualisierung der Körper zum Fetischismus
des Geldes. Innerhalb der psychischen Ökonomie verdanken wir mütterlichen
Körperschaften die homosexuelle Tradition des Geld heckenden Geldes. Der in
ihnen ausgebrütete Humanismus über Verschriftlichung und Säkularisierung, die
Reformation über Versprachlichung und Aufklärung, liefern alle wesentlichen Zutaten
einer protestantischen Ethik.. Religion geht bruchlos über in Ökonomie,
Ablasshandel wird Geldhandel, aus der Schuld vor Gott werden finanzielle
Schulden, das Gewissen des Gläubigen wird zur Selbstkontrolle des Bürgers, das
Ringen um ein gottgefälliges Leben zur hektischen Arbeits- und Betriebsamkeit,
das Auserwähltsein in Gott zum gesellschaftlichen Erfolg. Für die Präsenzkultur
eines Aristoteles war Geldmachen eine unnatürliche Perversion, die Wissenschaft
des Genießens hat dem Konsum von Gebrauchswerten, der Befriedigung der
Bedürfnisse zu dienen. Dagegen beansprucht der inhaltsleerste Signifikant Geld,
alles zu ersetzen, was den nichtkonventionellen Bindungskräften gehorchen
könnte. Wenn es dem Geld eigen ist, jenseits der Geschlechterspannung mehr zu werden,
gehorcht diese Vermehrung geheimen asexuellen Abfuhrphänomenen, die sich unter
der Hand in Akkumulationsfunktionen verwandeln. Das Sparen, die Anreicherung
von Resten, die Produktion von Mehrwert beruhen auf der Verselbständigung des
Tauschwerts, Zinsen führen die klassische, heute allerdings ins Unbewusste
abgedrängte Assoziation mit sich, perverse Kinder des Geldes zu sein. Das
Tauschmittel als abstrakte Gabe wird pervers, wenn es mehr als ein Tauschmedium
ist und sich auf Kosten der Triebregungen vermehrt.
Wir könnten
sehr viel mehr wahrnehmen, wenn wir nicht ins Korsett des gesunden
Menschenverstands eingesperrt wären, wenn uns das tragbare Gefängnis des von Müttern
und Bildungsbeamten konditionierten Ichs nicht davon abhalten würde, diese
Wahrnehmungen zu verarbeiten, für unsere Zwecke zu nutzen. Zur Kompensation wurden
die Institutionen Kunst und Sport mehr und mehr ausdifferenziert. Sie
entstanden als Nischen, in denen gewisse Fähigkeiten geübt und ausgeübt werden
durften, aber mit dem Unterhaltungswert, im Fortgang vor allem mit dem
Entstehen eines Marktes für den Massenkonsum, stellten sie zugleich den Rahmen
zur Verfügung, innerhalb dessen die Geistesblitze des Sinnenbewusstseins der
Inflation ausgesetzt waren, also entschärft wurden. Diese Schematik hat das
religiöse Empfinden vorgegeben, das in der Erfahrung von Not, Ausgeliefertheit
und Angst ein durchaus akzeptables Puffersystem zur Verfügung stellt: Wenn ein
Menschlein nicht mehr ein noch aus weiß, beginnt es zu beten – zur Erregungsabfuhr
und in der die Zeit streckenden Hoffnung, eine Antwort auf diesen Anruf aus
höchster Not zu bekommen. Aus diesem Grund bietet sich an, die exilierten
Qualitäten der Lebendigkeit von ihrem der Religionsgeschichte bedingten
Ausschluss zu befreien. Die Gewissheit, die der Mensch so besessen suchte, war
ein Resultat der Ausgeliefertheit und der Angst vor dem Tod – dabei ist der Tod
die einzige dem Menschen mitgegebene Gewissheit, der er Einzigartigkeit und
Unwiederholbarkeit verdankt. Die zwanghafte Suche nach absoluten Gesetzen
ewiger Dauer steht in der Nachfolge unsterblicher Götter, die einst dazu taugten,
die Furcht zu verkörpern und damit zugleich eine diffuse, objektlose Angst in
Schach zu halten. Was die Institution Kirche einmal als Sicherheit versprach,
prägte die verschiedensten Formen der Abwesenheitsdressur und hat sich mit der
Aufklärung in den wissenschaftlichen Anspruch verjüngt, zeitlose und haltgebende
Wahrheiten zu produzieren. Im Gegenzug wäre die an Modellen geschulte Logik von
Erkenntnisfunktionen tatsächlich ein brauchbares Vorbild für biographische
Improvisationen, für die an der Unbeständigkeit von Interpretationen sich
entlang hangelnde Freude an der Entdeckung und Erweiterung eines Repertoires
von Lebendigkeiten. Alle Zeitbestimmung ist das Ergebnis spezifischer Formen
der Verknüpfung von zu Zeichen gewordenen Ereignissen. Die Synthese, die das
Zeitempfinden des heutigen Menschen ausmacht, ist die späte Stufe einer langen
Reihe von Prozessen der Habitualisierung, an der vor allem jene großen
Institutionen beteiligt waren, die darüber entschieden, wie die Ereignisse in
der Zeit zusammenhängen. Dank gewisser technischer Entwicklungen haben uns die
Wissenschaften aber nicht nur die Absolutheit der Bombe, die Gewissheit der
Bevölkerungsexplosion und die Erwartung einer ökologischen Apokalypse beschert,
sondern als Nebenprodukte der Kriegstechnologie den Computer und die
multimediale Erweiterung unserer Erfahrungswelt zur Verfügung gestellt. Mit dem
Weltkrieg als Theodizee eines technischen Prothesengottes erodieren Erfahrung
und Erinnerung, unterstehen in der Folge den Massenmedien, die sie auf Archive
und Speichermedien angewiesen sein lassen. Rezipieren heißt, Schocks zu parieren
und Reaktionsformen in bewusste Routinen umzubauen. Die Informationsspeicher
setzen eine integrale Entfaltung der in den modernen Medien vorgegebenen
Wahrnehmungsformen voraus, die auf einer Einfühlung in die Gesetzmäßigkeiten
von Informationsflüssen und Datenverarbeitungen beruht – manche Nachvollziehbarkeiten
des Datenflusses stellen sich im Traum ein. Bolz begreift den Film im Anschluss
an Benjamins Schulungsgang als integrale Entfaltung der in den optischen und
akustischen Maschinerien präformierten Apperzeptionsformen, der es um keine
Sinndeutung mehr geht, lediglich um die Vertiefung der Apperzeption. Die
Argumentation geht allerdings knapp an Benjamins Emanzipationspotential vorbei,
das von der Sozialisation der weiblichen Lebenswelt bis zum Panoptikum
reichende Prinzip Augenüberwachung sei abzulösen durch anarchistische Nahsinne
wie das Tasten, Riechen, Schmecken. Nachdem Bolz in anderen Zusammenhängen das
Dictum Lacans, es gebe kein Verhältnis der Geschlechter, auf Ehe und Familie zu
applizieren wusste, um eben entgegen der Warnung Tucholskys: Fang nie was mit Familie
an! eine Geschlechtsgemeinschaft zwischen Männern und Frauen zu begründen, wogegen
nicht nur die Scheidungsrate spricht, wenn spätestens nach der Belastung durch
ein zweites Kind jede Freude am gemeinsamen Sex auf der Strecke bleibt. Gegen
den ganzen Kontext dieser Argumentation legt ein kultureller Umweg Blumenbergs nahe,
welche fruchtbaren Einsichten mit einem Plädoyer für ‚die Helden der Familie‘ ausgeschlossen
werden. In der ‚Beschreibung des Menschen‘ referiert er den Sachverhalt, dass
einzig unter den Säugetieren beim Menschen Orgasmusfähigkeit und
Gesichtszuwendung bei der Paarung korrespondieren, was den Idealfall mit sich
bringt, dass Orgasmen reziprok ausfallen. Wenn die Gleichzeitigkeit das Lustbedürfnis
beider Partner befriedigt, werde die Kategorie der Wechselwirkung durch den
Blick realisiert. Ein Kontrollverhalten, während dem das Männchen nicht nur den
eigenen Lustgewinn erziele, sondern seinen Erfolg bei der Partnerin
verifizieren könne. Diese blutleere Spekulation transportiert immerhin eine
Ahnung, warum beide Protagonisten des sexuellen Duells immer wieder den Erfolg
einer energetischen Gemeinsamkeit suchen. Das spricht gegen jeden Narzissmus, der
nicht nur kulturschwule Protzgebärden oder ernüchternde Ergebnisse der Untersuchung
‚warum Frauen Sex haben‘ offenbart, sondern unterstreicht auch die bescheidene
Einsicht, die sich in der Verballhornung ‚nichts gegen Frauenbewegungen,
solange sie schön rhythmisch sind‘ verbirgt. Wenn die Körper in biomagnetischen
Entladungen zu klingen beginnen, Hautkontakt und Taktilität gemeinsame Rhythmen
finden, in eine Resonanz prälogischer Stimmigkeiten einschwingen, geht
tatsächlich jeder Kontrollimpuls verloren. Wir müssen nicht mehr Herr über das
Chaos werden, es in eine Form zwingen, selbst sprachliche Übersetzungen oder
gestische Veranschaulichungen, irgendwelche Vorstellungen und Bildwelten verschwinden
in der sich aufbauenden Ekstase. In einem Nu der Unendlichkeit sind wir
eine gewaltige Schwingung der Schöpfung,
partizipieren an den mächtigen Strömen einer Einheit, die eine ungekannte
Verbindlichkeit von Sinn gewährt. Jede Echtheit ist den Nahsinnen des Körpers zu
verdanken, während der Fernsinn des Auges leicht zu täuschen ist und wenig zur
Verifizierung taugt. Das Auge ist der immateriellste unter den Sinnen, als
reine Durchlässigkeit ekstatisch außerhalb seiner Selbst und gerade deshalb
nicht selbstreflexiv. Wenn dagegen alle Sinne trainiert werden, gibt die Optik
ihre Führungsrolle an die Nahsinne ab, an Rhythmus und Taktilität, an Witterung
und Geschmack. Unter diesen Voraussetzungen bringt uns die Sensorik dazu, jenseits
des Bedürfnisses nach einem identifikatorischen Halt, der in den meisten Fällen
nur einen Selbstbetrug speist, in der Zerstreuung Diskontinuitäten zu parieren.
Diese Schulung stellt einen subliminalen Raum zur Verfügung, in dem wir ohne es
zu wissen schon immer an verschiedenen Medien der Geistesgegenwart trainiert werden.
Die leibhafte
Abstraktion einer haptischen Rezeption mag das Rückzugsgebiet der Innerlichkeit
zerstören, das scheinbar private Wahrnehmungsfeld zerstückeln, aber sie macht mit
Kittler das Inkommensurable der Individualität speicherbar. Genau das muss kein
Verlust sein, denn mit deren Reproduzierbarkeit sind ganz andere Möglichkeiten
zur Hand, Sinnenbewusstsein und Lebendigkeiten zu trainieren, anhand von nachvollziehbaren
Selbstobjektivierungen die narzisstische Verkapselung zu sprengen. Wir müssen
nur beginnen, die mit den Speichertechnologien verbundenen Erkenntnisse für uns
zu verwenden, Techniken als externalisierte Denkvorgänge jenseits der Institutionen
einsetzbar zu machen. Die Theologie hat die Menschheit, indem sie den Sinn unseres
Lebens auf ein Jenseits verlagerte, im Fortgang der Zeit um die Erfahrung der
Möglichkeiten eines authentischen Lebens betrogen. In ihrer Nachfolge entzieht
uns die Wissenschaft als Gewissheitssubstitution das Repertoire für ein immer
wieder in gewissen Begegnungen und Erfahrungen glückenden Lebens. Was Großinstitutionen
bestenfalls versprechen konnten, war ein Quantum Trost, doch darauf ist
geschissen, wenn wir uns mit der Vorstellung anfreunden, den Sinn dieses einmaligen
Lebens selbst zu ergründen. Der Weg einer allmählichen Erschaffung junger
Götter stellt immer wieder für Momente einen Sinn bereit, den keine Institution
verbürgen kann. Die psychische Notwendigkeit einer emphatischen Artikulation
konkreter Befriedigungen als Vorgriff auf die Einlösung unserer Hoffnungen und
Wünsche ist keinem institutionell verbürgten Rahmen unterzuordnen. Das ist gut
so, denn sonst pervertieren Sachzwänge und Gruppengesetzmäßigkeiten den Drive. Eben
weil die Bedeutung der sozialen Zeit in der Praxis des gesellschaftlichen
Zusammenlebens derart zugenommen hat, wird die in Jahrhunderten ausgeprägte Verkehrung
des tatsächlichen Verlaufs der Ereignisse immer deutlicher: Die theoretische Physik
strukturiert nur einen kleinen Ausschnitt der Möglichkeiten unserer
Zeiterfahrung. Obwohl sie dies mit der wissenschaftlichen Durchdringung der
Lebenswelt beansprucht hat, stellt sie längst kein ausreichendes Repertoire
natürlicher Zeiterfahrungen zur Verfügung. Gegenüber einer streng reduzierten
Konvention liefern verschiedene Selbsterlebensbeschreibungen der Eigenzeit ganz
andere Repertoires an Erfahrungsformen.
Die
Dynamisierung der Zeit zu einer Kraft der Geschichte hat mit Koselleck einen
gewissen Abschluss der Geschichte des Begriffs der Geschichte zur
Voraussetzung, den man als Übergang zur Ausbildung eines einheitlichen
Geschichtssubjekts ansehen kann: Den seit etwa 1780 auftretenden Kollektivsingular
von Geschichte. Nach Blumenbergs
Interpretation macht der Mensch nicht die Geschichte; aber er macht das Tempo dieser
Geschichte! Dieser zweite Satz ist in seiner Geltung vom ersten abhängig, denn
das Antreiben des Tempos setzt die anderweitig abgesicherte Zwangsläufigkeit
der Abfolgen voraus. Kein erbauliches Resultat; aber angesichts der Zukunftsdimension
das offenbar tröstlichste, wenn Blumenberg die davon ausgehende Faszination
betrachtet. Der Druck unter dem sich das Geschichtsbewusstsein als die Einheit
dessen konsolidiert, was treibt und getrieben wird, scheint das Resultat jener Dissoziation zu sein, in der die Weltzeit
hinter einer immanenten Lebenszeit hervortritt und sich die Geschichtszeit
assimiliert. Geschichte, als der Lebenszeiten und Generationszeiten übergreifende
Prozess, vereinnahmt die Individuen, stößt zugleich aber auf deren Unbehagen,
den Widerstand in die Theorie integrieren zu lassen. Was wiederum die Beschleunigung
zur Folge hat, die wie ein Kompromiss zwischen Weltzeit und Lebenszeit wirkt,
indem sie die Illusion einer erneuten Konvergenz erweckt. Bereits in
‚Säkularisierung und Selbstbehauptung‘ ist für Blumenberg entschieden, dass
Säkularisierung im eigentlichen Wortsinn keinesfalls als Verweltlichungsprozess
verstanden werden muss, denn mit der Moderne wurde keine jenseitige in eine
diesseitige Welt eingetauscht, genau genommen hat sie nicht einmal ein
irdisches Leben anstelle eines jenseitig-künftigen gewonnen, sondern die Menschheit
wurde bestenfalls auf ein beschränktes Leben im Hier und Jetzt zurückgeworfen.
Mittlerweile verfolgt
und relativiert Blumenberg den Gedanken der Beschleunigung unserer
Zeiterfahrung als Heilserwartungsrest. Die Geschichte als fortschreitende
Bewegung von der Schöpfung zur Erlösung ist eine Erfindung der Kirchenväter,
die bereits die Ursprünge des modernen Fortschrittsgedankens vergiftet hat. Blumenberg
bezieht sich auf Ernst Benz‘ Paradigma der Säkularisierung einer Heilsgeschichte,
deren Antrieb und Ablauf festgelegt ist. Die modernen Theorien der
Veränderung, der Revolution, des Umsturzes und des Terrors erscheinen als
säkularisierte Abarten der ursprünglich christlichen Akzelerationsidee. Die
christliche Erwartung des Heils vom Weltende kann für einen kürzeren Zeitraum
als Propaganda des Endes fungieren. Sie nützt jenen, die sich zur Kompensation
dieser Schrecknisse durch die Beschwörung der baldigen Wiederkunft des Herrn bereits
eine privilegierte Sonderstellung gesichert haben. Doch für die langen
Zeiträume, die dem wirklichen Prozess der Säkularisierung vorausgingen, scheint
die kultische Bitte um Aufschub viel wahrscheinlicher, also die entgegengesetzte
Bemühung um eine Verzögerung des Endes. Die apokalyptische Spekulation gab
einst Auskunft über die Bestandsdauer der Welt als eines reinen Wartestands; im
Status der Aufgeschobenheit wird die Eschatologie zur Quelle der Theologie, die
sich im Telos eines europäischen Geschichtsdenkens verpuppt. Auf dem kürzesten
Weg zu Ende gebracht, musste das Weltende durch das irdische Paradies, durch
das Ziel einer perfekten Welt ersetzt werden. Damit wird die Geschichte unserer
Herkunft in die unserer Zukunft verlängert, aus der imaginären Voraussetzung
eines höheren Entwicklungsstands entsteht der Antrieb, die Bewegung in die
Zukunft zu beschleunigen. Mit der Expansion neuer Märkte im Gefolge der
Kolonialisierung und der Abkopplung technischer Fertigkeiten im Umfeld der
protestantischen Ethik wird die Perfektionierung der Welt verabsolutiert,
während der Heilsgedanke nach einer Umleitung über den Imperialismus der
Erlösung durch den Konsum untersteht – auch Geld ist ein Aufschub, nicht nur
des unmittelbaren Konsums, sondern vor allem der Konsequenz unserer
Zielsetzungen. Wir kaufen, um die Signale der inneren Leere zu übertönen, jagen
einem Fetisch hinterher, weil der wenigstens für die Zeit seiner Neuheit die
Stabilisierung einer identifikatorisch arbeitenden Psyche gewährleistet. Als
Benjamin den ‚Kapitalismus als Religion‘ klassifizierte, ging er von der
Beobachtung aus, dass dieser dieselben Sorgen, Qualen, Unruhen befriedige, wie
die Religion, also mit dem Rückzug Gottes ins Privatleben zur Kultform geworden
sei. Aus dem religiösen Bewusstsein der protestantischen Ethik Max Webers, das
einmal den Geist des Kapitalismus prägte, ist mit dem Geld die präsente
Gottheit des täglichen Lebens geworden, die für Marx die Praxis bestimmt, ganz
nebenbei aber einen transzendenten Gott überflüssig macht. Blumenberg erinnert
an jene von einer verdrängten Todessehnsucht ausgehende Zwanghaftigkeit, der eine
zunehmende Beschleunigung gehorcht, denn das Bedürfnis nach einer Verkürzung
des Wegs zum Ende ist nicht einfach stillzustellen. Wenn der Durchschnittsmensch
meint, sich an Gewissheiten stabilisieren zu müssen, das einzig Gewisse im
menschlichen Leben aber der Tod ist, sorgt eben dieses Bedürfnis dafür, das
Angsterregende am Wunder des Lebens möglichst schnell hinter sich lassen. Als
philosophische Idee entwickelt er in der ‚Beschreibung des Menschen‘ die Eschatologie als strategisches Unternehmen,
um den grundsätzlichen Mangel einer Anthropologie auszugleichen, die keiner
Selbsterkenntnis entspringt und auch in keine solche zu integrieren ist. Der
Imperativ eines ‚Erkenne-dich-selbst‘ wird in dem Moment zur unverständlichen
Phrase, in dem als Bezug wirklich die Erkenntnis angezielt ist, also keine
Erinnerungen oder Erwartungen dafür einstehen. Was bietet sich an, wenn keine
moralische Selbstprüfung, keine Fähigkeiten oder Begrenzungen der individuellen
Kapazität darunter verstanden werden? Selbsterkenntnis müsste dann die Menschheit
in ihren Individuen in einer potentiellen Gesamtheit ihrer Handlungsbedingungen
zu erfassen und zu beurteilen vermögen. Erst unter dieser Idee wird deutlich,
was Erkenntnis über den Menschen jenseits seiner zufälligen biographischen
Verwicklungen aussagen könnte. Die subjektiven Künste, nicht nur das durch
Identifikation zu vereinnahmen, was das Subjekt nicht ist, sondern das, was es
als Gewesenes war und künftiges sein wird, für eins und identisch zu halten,
sprengen diesen Imperativ der Erkenntnis. Der Mensch kann kein reines
intentionales Subjekt sein, weil er die Einflüsse seiner Mitwelt durch
Distanzleistungen gelernt hat zu kompensieren. Dabei sind wir uns selbst zu
einem großen Maß undurchsichtig, es gibt keine Unmittelbarkeit zu sich selbst
als Form der inneren Selbsterfahrung – der anthropologische Rückzug auf die
Gesetzmäßigkeiten der sprachlichen Vermittlung beweist, wie diffus und
unbegrenzt der Bereich einer mittelbaren Selbsterfahrung ist. Aber kraft einer Delegation
von Zuständigkeiten trauen wir den anderen eher zu, ein Bild von uns zu
gewinnen, das unseren Ansprüchen genügen könnte. Das ist neben der Angst ein Motor
des Konformismus wie neben den Zwängen der Selbstdarstellung ein Zugang zu verschiedenen
Verführungen der Simulation.
Mit
Baudrillard ergeben sich für eine der Abwesenheitsdressur unterworfene psychische
Struktur folgerichtig Entmaterialisierung und Simulation als stimmige Ausweichbewegung
– damit aber der Verzicht auf eine materielle Erdung, einer biologischen
Ableitung jener panischen Impulse, die der von der Theologie ausgebeuteten
Entfremdung von unseren Ursprüngen zu verdanken ist. Dabei könnte der körperliche
Vollzug der Liebe in den biographischen Zusammenhängen bereits als eine umfassende
Verwandlung, damit als eine Form des Wunders erfahren werden. In dieser
Hinsicht ist die Bestimmung der Geschwindigkeit das zentrale Säkularisat, mit
dem das Verhältnis von Lebenszeit und Geschichtszeit auf eine mittlerweile
erzwingbare Konvergenz gebracht wird. Was sich als ursprünglicher Motor der Sehnsucht
nach dem Weltende darstellte, möglichst viele Menschen an einer Heilserwartung
des Endes teilhaben zu lassen, wird in der verweltlichten Gestalt zum
ungeduldigen Extrem des Terrors. Das zeigt, warum die Verzeitlichung des Heils
mit der Geschichtserwartung das Himmelreich als transzendentes Ziel aus den
Augen verloren hat. Aber der Institutionstheoretiker blendet die Konsequenz der
vielfältigen Entlastungen aus, die uns nicht nur das Leben erleichtern, sondern
uns um die Freude an den lebendigen Vollzügen betrügen, sie aus Angstbewältigung
ersparen. Transzendenz machte sanft, solange wir danach auf all das hoffen
können, was uns im Leben vorenthalten wurde, dagegen macht die Immanenz gewalttätig,
wenn wir davon ausgehen müssen, um was wir alles beschissen werden. Der
Aufschub mag eine entscheidende historische Erfindung des frühen Christentums
sein, aber niemand konnte davon ausgehen, dass es einmal notwendig sein würde,
den Aufschub unendlich lang dauern zu lassen. Wenn unsere letzte Wahrheit vom
Ende lautet, dass es nach menschlichen Maßstäben kein Ende gibt, weil selbst
der Wärmetod in anderen Dimensionen spielt, müsste die Notwendigkeit einzusehen
sein, sich in sinnvollen Betätigungen einzurichten. Wir sollten die nötigen
Routinen üben, um eine relativ stabile Wolke von Interdependenzen über die
Erotik mit unseren lebendigen Vollzügen zu verknüpfen. Das nötige Rüstzeug
steht zur Verfügung, wird aber zu gern einfach übersehen oder im Dienste der
Abwesenheitsdressur verleugnet.
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Mit dem Ende
der Dominanz linearer Zeitabläufe beschreibt Nowotny einen erstaunlichen
Wandel, der wie nebenbei die Chance mit sich bringen könnte, die zwanghafte
Fixierung auf ein Weltende und die damit verbundenen Todesrituale zu verabschieden.
Die Zeit ermöglicht die Erfahrung der Nichtidentität in der Identität als
Voraussetzung einer durch die Intersubjektivität verstandenen Erfahrung der Identität
in der Nichtidentität. Lebendigkeit ist keine Substanz, sondern ein
Fließgleichgewicht, das sich umso besser stabilisiert, umso mehr divergente
Bestrebungen integriert und genutzt werden. Wenn Gesellschaften als mehr oder
weniger stabile Ungleichgewichte neue Strategien erproben, um ihre immanenten
zeitlichen Widersprüche zu bearbeiten, um Lösungen für die immer drängenderen
Probleme ihrer Zeitnot zu finden, gehorchen sie einer ähnlichen Entwicklung wie
der, die Kittler an den technischen Medien beschrieben hat. Weil diese in der
Lage sind, das Reale aufzuzeichnen, können sie jene Autosuggestionen ausschalten,
die dem Imaginären gehorchen. Das ist eine enorme Chance, mittlerweile könnte ein
überkommenes System von Behinderungen vor der Verabschiedung stehen, wenn nicht
die Angst vor der ökologischen Katastrophe und die Fluchtbewegungen in
verschiedene Kriegsschauplätze zur Reaktualisierung obsoleter Geisteshaltungen
führten. Was sich der Behauptung der Nichtigkeit des Weltlichen gegenüber der
göttlichen Gegenwart verdankte, war ein Resultat von Angst und
Sicherheitsbedürfnis. Als Emanzipation von dieser imaginären Präsenz kann die
Gegenwart sowohl chronologisch-linear gedeutet werden, als auch als Teil von
wiederkehrenden Zyklen, die alle ihrer eigenen Zeitdauer und typischen
Verlaufskurve folgen – wenn wir für unsere Gegenwart und die aus ihr folgende
Zukunft verantwortlich sein wollen, ist die Selbstermächtigung nötig, eine
Einsicht in den Ausnahmecharakter der Präsenz mit der Verantwortung für eigene
Entscheidungen zu verbinden. Die auf den linearen Ablauf bezogenen Bezüge des
Terminkalenders treten zurück oder werden ergänzt durch die Orientierung an den
zeitlichen Rhythmen eines inneren Programms oder eines genetischen Codes. Damit
wird es möglich, Zeit für dringende Entscheidungen zu gewinnen, also die
Gegenwart zu dehnen, ihr Fassungsvermögen zu erhöhen, womit sich an der Eigenzeit
von Systemen ausgerichtete Komplementaritäten anbahnen, für die ihre Einordnung
in eine lineare Chronologie zu vernachlässigen ist. Die Pluralität der Zeiten
nimmt zu, wenn die Bedeutsamkeit in den Eigenzeiten der zusammenhängenden Ereignisse
und Prozesse, die ein System ergeben, wirksam wird. Der Prozess der
Zivilisation unterstreicht mittlerweile die Notwendigkeit, die mit der
Linearität verknüpften Lebensformen der Industrialisierung bewusst zu ergänzen.
Deren Übergewicht im sozialen Leben muss mit zyklischer Zeit und zyklischen Lebensformen
kompensiert werden, die Hysterien entkrampfen und Konflikte entdramatisieren. Die
Reziprozität ist fast zwingend ein Aspekt der zyklischen Zeiterfahrung, die
Verpflichtung auf Gegenseitigkeit bei gleichzeitiger Anerkennung der sich für
die Geschlechter unterscheidenden Erfahrungsmuster. Doch das ist alles andere
als selbstverständlich, nachdem Eroberer und Unterdrücker die Erfahrung einer
hunderte von Generationen haltenden Kette geprägt haben; die rücksichtslose
Ausbeutung der biologischen Ressourcen war das Erfolgsrezept für Macht und
Reichtum. Für Norman O. Brown resultierte die Psychologie des Gebens
ursprünglich aus der weiblichen Körpererfahrung, die des Nehmens und Besitzens aus
männlichen Kompensationsbemühungen der Schöpfungsinkompetenz. Genealogisch
gestaltet sich die Beziehung zwischen Zeit und Geld viel enger, als es dem
normalen Alltagsbewusstsein zugänglich ist. Ihre Grundlagen sind in den
biologischen Rhythmen des Zusammenlebens zu finden, die ein Repertoire der
sozialen Evolution bereitstellt – den Katastrophen des 20. Jahrhunderts
verdanken wir immerhin dieses Lernpensum, dass es nicht sehr lange derart
destruktiv weitergehen kann. Das Ziel sind neue Gewohnheiten und selbstlernende
Institutionen, die einer Gesellschaft durch ihre zyklische Wiederkehr keine
statische, sondern eine dynamische Stabilität verleihen. Auf der internationalen
Ebene wird dieses Lernprogramm sehr viel Schmerz und Geduld erfordern, denn
wenn von einem Ausgangspunkt der Unterdrückung und Hoffnungslosigkeit ausgegangen
wird, müssen die jeweils Mächtigen erst einmal die Erfahrung machen, dass die
Hoffnungslosigkeit, auf die sie aus eigener Macht zusteuern, noch viel
schrecklicher sein wird. Aber es ist nicht notwendig, nach Afrika oder
Südamerika zu schauen. Unsere Entwicklung seit Protestgeneration, Sexwelle,
Frauenemanzipation und ökologischem Wachwerden, ist nicht unbedingt
hoffnungsfroher. Schon das eigentliche Zentrum des gesellschaftlichen Motors,
das Verhältnis der Geschlechter, macht in diversen Zusammenhängen deutlich,
warum nicht nur diese Beziehung in den psychischen Strukturen sehr viel mit der
Ambivalenz von Himmel und Hölle zu tun hat, mit der Angst vor einer
unabwendbaren Abrechnung. Ganz pragmatisch wird die Entwicklung nachvollziehbar,
wenn Frauen auf einer neuen
Alltagskultur bestehen und zeitpolitische Forderungen erheben. Sie klagen
Rechte ein, um Zeitkonflikte zu bewältigen, die in allen Reibungsflächen
zwischen Markt und Staat, zwischen Arbeits- und Freizeit, unfreiwilliger und
freiwilliger, bezahlter und unbezahlter Zeit zum Ausdruck kommen. Ihre
Konflikte ergeben sich aus der Erfahrung einer arbeitsteiligen Gesellschafts-
und Zeitordnung, in der die Zeitökonomie der Männer niemals der der Frauen
gleich war. So haben sich unterschiedliche Zeitkulturen entwickelt, die weit
tiefer gehen, als pragmatische Anforderungen oder zugeschriebene
Arbeitsleistungen erwarten lassen. In diesem Konflikt entstand das Ringen um eine
neue Zeitkultur. Zutage treten strategische Kampfplätze, politische Arenen, in
denen es darum geht, besser zu verstehen, in welche Richtungen
gesellschaftliche Prozesse drängen, welche Optionen offen stehen. Die Uhr hat
einmal die gesellschaftliche Zeitökonomie revolutioniert, indem sie über
Transportsysteme und Maschinen zu einer Rationalisierung und Vereinheitlichung
der Erfahrungsmuster führte. Die Ausdifferenzierung verschiedener Zeitkonflikte
führt nun zu einem Wiederfinden verdrängter oder verleugneter Erfahrungsformen.
Die innere Zeiterfahrung mag eine Grundausstattung des Bewusstseins sein, aber
längst kein Apriori von Formen der Wahrnehmung, wie Kant postulierte, sondern
ein Aposteriori gesellschaftlicher Disziplinierungen.
Die Dominanz der
sich seit Descartes durchsetzenden linearen Zeitkultur, die mit Burckhardt
bereits in der räumlichen Konstruktion der großen Kathedralen beginnt – die die
Schwere überwindende, zum Himmel strebende, lichtdurchflutete Materie wird zu
einem Signum der Transzendenz – und mit der mechanischen Uhr unhinterfragbar
wurde, ist mit der theoretischen Physik aufgebrochen worden. Außerdem setzen die
sich an die Sinne wendenden Medienmaschinen des vergangenen Jahrhunderts eine
neue Aufmerksamkeit für menschliche Körper wie für Dinge der Außenwelt frei. So
behutsam und vorsichtig er seine Beobachtungen auf den Nenner bringt, wird bei Gumbrecht
diese Entwicklung Teil und Fortführung der biologischen Evolution mit
kulturellen Mitteln. Für Nowotny münden faszinierende Wiederkehr des Zyklischen
und Untersuchungen der Eigenzeit von Populationen und Systemen in der Aufeinanderfolge
technischer Artefakte, von Ideen oder von Kunstobjekten, in der Frage nach der systematischen
Orchestrierung dieser Zyklen. Die Suche nach der inneren Uhr, nach der
Eigenzeit von entstehenden, wachsenden und vergehenden Techniken und Entwicklungssystemen,
die schließlich von technologischen Neuerungen abgelöst werden, versucht die
Zeitdisziplin der zyklischen Wiederkehr ausfindig zu machen, um sie zu nutzen.
Jene Fraglichkeiten, die von der Linearität geleugnet oder an den Rand gedrängt
wurden, warten mit Lösungen auf, die den heutigen Problemen gewachsen sein
könnten. Der Rationalisierungsanspruch, der mit dem Beginn des
Maschinenzeitalters Methode, Organisation und Institution vorangebracht und
dann einer durchgehenden Beschleunigung unterworfen hat, erscheint also auf
einer höheren Entwicklungsstufe erneut – diesmal aber mit der Chance, in
stumpfsinnige Arbeitsabläufe eingesperrte Manpower weitgehend überflüssig zu
machen, um menschliche Unwägbarkeiten für kreative Prozesse freizustellen. Der
Eigenzeit einer technischen, wissenschaftlichen oder künstlerischen Innovationsfolge
oder eines Systems von Werken auf der Spur zu sein, könnte dazu führen, die in
solchen Regelmäßigkeiten enthaltene Zeitdisziplin zu funktionalisieren, bis sie produktiv in aktuelle
Entscheidungen einbezogen wird – kreisläufige Prozesse funktionieren um so
besser, um so weniger in sie eingegriffen wird. Eine umfassendere Workbalance
würde den Raum für zwischenmenschliche Bedürfnisse freisetzen, die in den
sogenannt normalen Lebensabläufen immer vernachlässigt werden müssen, obwohl
sie die Grundlage von Leistungsfähigkeit und Freude am Erfolg sind, für die
eine Kompetenz aber bisher nur auf der Ebene der Eigenarbeit erworben wird. Die
inhärente Spannung zwischen der Wiederholung als dem Bedürfnis, zu bekannten
Mustern zurückzukehren, und der Erfindung als dem Verlangen, durch Variationen
und Ausflüge ins noch Unbekannte der Gewohnheit zu entkommen, prägt die
symbolische Produktion ebenso wie die technische. Sie liegt dem komplementären
Verhältnis zwischen Linearität und Zyklizität zugrunde. Das Individuum mag von Institutionen
gegen ein Übermaß an Variationen durch vielschichtige Gewohnheiten geschützt werden. Aber schon als der Produktivitätsfaktor
Zeitökonomie entdeckt wurde, hat das Prinzip Wirtschaftlichkeit grundlegende Fragen
aufgeworfen, die mittlerweile ganz andere Maßstäbe setzen. Die extremen Formen
der Entfremdung von Sennetts „flexiblen Menschen“ objektivieren Lernprozesse, über
die hilflos geklagt wird, mit denen aber die Entfremdung der Entfremdung in
Angriff genommen werden kann, wie dies manche digitalen Nomaden bereits vorführen.
Gerade weil mobil zu sein in der sozialen Wertigkeit vieler Menschen die
Bedeutung von geistiger und körperlicher Fitness angenommen hat, werden sie mit
Fetischen der Mobilität beschäftigt und sogar ausgebremst. Tourismus- oder
Fitnessbranche, Auto- oder Unterhaltungsindustrie gehorchen vor allem dem
Systemprogramm, trotz zunehmender technischer Möglichkeiten und erreichbarer Geschwindigkeiten
nichts am Status Quo zu ändern. So könnte es sich anbieten, die Immobilität
eines auf das Auto setzenden Wirtschaftssystems zu verabschieden – das Auto ist
tatsächlich der Fetisch, mit dessen Hilfe eine umfassende Stillstellung
verleugnet und ertragen wird. Schon eine an diesem Detail ansetzende Variation würde
den Umbau des kompletten Systems nötig machen, zudem auch einige ökologische Fraglichkeiten
beseitigen. Daraus könnte ein Umbau des Systems der Bedürfnisse resultieren,
die bisher mit unbefriedigenden Surrogaten abgespeist werden und lediglich den
Marktmechanismus befeuern – für Befähigte auf der zwischenmenschlichen Ebene
und für die Massen in den digitalen Medien, wobei die Befähigung zur
Eigenarbeit auf breiter Front längst nicht ausgeschlossen ist. Selbst Gehlens
Erklärung der kulturellen Dynamik aus der Zunahme von Handlungsspielräumen, die
aus der durch Institutionen ermöglichten Entlastung von natürlichen Zwängen des
schlichten Überlebens resultierten, könnte gegen die Zwänge gesetzt werden, die
durch die Entlastung dank Institutionen entstanden und zu einer zweiten Natur wurden.
Wenn uns der Aufenthalt im Auto beim täglichen Stop and Go mehr Zeit und Nerven
kostet, als ein strammer Spaziergang oder eine kleine Radtour auf der gleichen
Strecke, sollte das zu denken geben. Die Zeit, die wir mit Hilfe von Technik
und Institution sparen könnten, wird absurderweise zum Großteil aufgezehrt, wenn
Behörden oder Institutionen, Updates, Sachzwänge oder Verfahrensordnungen derart
in unsere Zeitökonomie eingreifen, dass von Ersparnis nicht die Rede sein kann,
nur von zusätzlichem Stress, der eben nicht oder nur in wenigen Fällen durch
körperliches Abarbeiten und Ausagieren harmlos abgefahren wird. Tatsächlich ist
die Entlastung von körperlichen Belastungen und der Mangel an echten
Intensitäten wesentlich an der Auslösung von Zivilisationskrankheiten beteiligt
– die Verwalter des Elends haben ein viel zu großes Interesse an der
Bestätigung ihrer Existenzgrundlage. Die bereits mit der Verschulung angezielte
Stillstellung sorgt für Voraussetzungen, die ein ganzes System von Gesundheitsorganisationen
und an ihnen hängenden Schmarotzern am Laufen halten. Zynisch wird auch hier
das ökonomische Resultat als Erfolg zu reklamieren sein, denn die Verwertung
von Letztmaterie und selbst die Entsorgung der geschundenen Reste können noch
erstaunliche Umsätze in Bewegung setzen. Wenn für die Qualitäten des
Menschlichen gerade noch ein schmales Zeitfenster für Hobby und Zerstreuung
bleibt, hat sich das Prinzip Entlastung längst in sein Gegenteil verkehrt. Es
bietet sich also an, gewisse Entlastungen von der Entlastung zu kultivieren. Das
bereits in ganz verschiedenen Zusammenhängen thematisierte Glück des
Unvorhergesehenen könnte vom raschen kulturellen Wandel befördert werden, denn
Institution und Tradition sind nur dynamisch zu stabilisieren, indem das
Bewusstsein historischer Gewordenheit sich neuer oder erweiterter Medien der Reflexion
bedient, damit aber Weichenstellungen und Variationsmöglichkeiten freigibt, die
mit der Digitalisierung sinnliche Repertoireerweiterungen kultivieren. Wie
immer ist die Entwicklung dank einer technischen Revolution ambivalent: Wir
können daran wachsen oder uns mit geringerem Aufwand töten; wir können den
Sinnen und der körperlichen Selbsterfahrung ein ungeahnt offenes Terrain
bereiten oder den Körper als unnützen Ballast dank virtueller Welten hinter uns
zurück lassen. Bisher sorgt nicht nur ein wachsender Prozentsatz der dicker und
unbeweglicher werdenden Kinder für Mängel des überlasteten, schlecht
ausgestatteten Gesundheitswesens; adipöse Verwaltungen führen am anderen Ende
der Lebensskala zu immer höheren Kosten bei zunehmender Demenz. Eine einfache Form
von Führerscheinprüfung als Voraussetzung möglicher Zeugungsvorgänge würde die
Welt verändern, die Mittel vermehren, die zur Finanzierung einer gerechten
Chancenverteilung notwendig wären – mehr noch eine finale Beruhigungsdosis bei
fortgeschrittener psychischer Abwesenheit, wenn einfachste identifikatorische
Zuordnungen nicht mehr statthaben.
Der Renaissancephilosoph
Otto geht von der erst einmal befremdlichen Beobachtung aus, die Aufklärung
beginne nicht mit Descartes‘ Reduktion der Erkenntnis auf die mathesis
universalis, sondern mit einer neuen, ganz anders betonten Gewichtung zweier
Voraussetzungen der Erkenntnis: Der Erfahrung durch die Sinne, durch das Sehen
und durch das Hören. Damit ist eben nicht das Sehen um des Sehens, das Hören um
des Hörens willen gemeint, sondern sie werden zunehmend als Bedeutungsträger
erfahren, womit bereits ein zunehmender Abstand zur Welt einsetzte. Durch einen
reflektierten Gebrauch dieser Sinne galt es den Sinn des Wahrgenommenen zu erschließen
und somit eine vermittelte Kette von Interpretationen zu schaffen. Schon hier
deutet sich an, wie die Materialität der Dinge, die Spuren, die wir in der Welt
verfolgen, die Witterung, die uns führen kann, mit Hilfe von Spiegelungen und
Projektionen zugunsten kodifizierter Bedeutungen unwichtig werden. Wenn sich in
diesem Zusammenhang die Kritik Derridas einstellt, der Gebrauch von Zeichen
setze bereits einen Abstand zur Materialhaftigkeit der Welt voraus, ist mit
Kamper in der entgegengesetzten Richtung die Herkunft dieser Zeichen zu
befragen. Mit Sicherheit wurden die Erinnerungen an ihren Ursprung durch die
Verkettung von abstrahierenden und generalisierenden Vorstellungen nicht
vollständig gelöscht. Grundsätzlich tendiert eine sprachlich vermittelte Welt
dazu, anstelle der realen Welt ein Bild vernetzter Vorstellungen von ihr zu
setzen, dabei aber vergessen zu machen, wie dieses Bild zustande gekommen ist. Gerade
weil das Reale der Welt so unerreichbar ist wie Kants Ding-an-sich, beobachtet Kamper
an der Zirkulation der Zeichen ein Überhandnehmen von Hieroglyphen ohne Sinn. Folgerichtig
bietet sich der Versuch an, die zunehmende Verwirrung als Spiegel zu nutzen, um
durch reine Ausdrucksgestalten ein Sensorium für Sachverhalte auszubilden, die
allein auf sich beruhen, also der Auslegung durch ein Verstehen nicht bedürfen.
Wichtig für den später noch genauer zu thematisierenden Zusammenhang ist vor
allem ein Begriff der Zeit, der sich von der Anschauung löst, sich der Anhörung
nähert. Beim Umgang mit den Zeichen ohne Sinn stößt er auf eine Ebene, die von
rhythmischen Markierungen in einer Wirklichkeit des Zählens geprägt ist, die
keiner Dechiffrierung auszusetzen sind, sondern als Zeichen der Zeit die Male
und Kerben als schlagende Beweise einer zeremoniellen Ordnung nahelegen. An
unwillkürlichen Wirksamkeiten ist ein noch immer funktionierendes, vorgeschichtliches
Körpergedächtnis zu entdecken, das Lacan als Sprachordnung des Unbewussten
dechiffriert hat. Anstelle einer Rückreise in die Genealogie der Körper als
Gattungsgeschichte, um jene Materialität der Zeichen aufzusuchen, die Spuren
als Narben einer Einschreibung ins musikalische Sensorium zu verwenden, ist an
Parallelen zur frühen Spracharbeit Benjamins zu erinnern. Die riskante
Verbindung zwischen Wunden und Wundern, in deren zeremonieller Ordnung jene
Magie wirkt, die uns im Durchlaufen von ausgetüftelten Grausamkeiten für die
Grundrisse der Welt sensibilisierte, wurde bereits in den verschiedensten
Zusammenhängen angedeutet. Vor über vierzig Jahren habe ich gezeigt, wie das
Absehen von Bedeutungen und die Konzentration auf interne
Verweisungszusammenhänge reiner Ausdrucksgestalten als fundamentale Annäherung
an eine von Kant inspirierte Zeichentheorie verstanden werden kann. Benjamin
wie Peirce gingen von der Kritik der Urteilskraft aus, um ein zwischen den
Kritiken vermittelndes Kategoriensystem auszuarbeiten. Während Benjamin in der
Verkleidung einer mystischen Sprachtheorie über Ausdruck, Name und Idee
sprachimmanente Verweisungszusammenhänge einkreiste, die nichts bedeuten, als
Relationssysteme also jenseits der Semantik wirken, hat Peirce Fundamentalkategorien
einer Semiotik präpariert, mit denen die starre Entgegensetzung von Denken und
Materie hinfällig ist. Gezeigt wurde, wie nur verschieden akzentuierte Zwischenwelten
vermittelt werden: Es gibt keine Erfahrung einer materiellen Qualität ohne die
Verbindung eines indexikalischen Bezugs mit einem Repertoire von
Bedeutsamkeiten. Der Symbol-, Ikon- und Indexwert ist nie absolut gegeben,
sondern kontextabhängig bis konventionell, selbst die Unterscheidung von
analogen und digitalen Zeichen untersteht einer Vermittlung. In beiden Fällen
wird das Außersprachliche der Welt mit Hilfe eines Zeichenrepertoires
vermittelt; binäre Oppositionen erweisen sich bei genauerer Betrachtung als
Schnitte durch eine Skala analoger Übergänge. Nietzsche hat mit der
Kennzeichnung des Begriffs als einer Setzung, der nichts ganz entspricht, aber
vieles ein wenig, die Arbeitsweise unseres Erkenntnisvermögens genau getroffen;
mit eigens erfundenen Begriffen und Zahlen verfügt der Mensch über das Mittel,
sich vielfältiger Tatsachen zu bemächtigen und diese mit Zeichen dem eigenen
wie dem kulturellen Gedächtnis einzuschreiben. Die Überlegenheit des
Zeichenapparats beruht darauf, sich über Abstraktion und Generalisierung weit
von den einzelnen Gegebenheiten zu entfernen, um über ihre Gesetzmäßigkeiten zu
verfügen, über eine immer größere Menge von Dingen durch das geistige Vermögen,
mit Zeichen umzugehen, zu herrschen. Aber wenn die erste Sprache der physikalischen
und biomagnetischen Natur die des Ding-an-sich ist – dem Menschen schon immer
unerreichbar – geht seine Voraussetzung in die Irre; es gibt keine
Unmittelbarkeit unserer Wahrnehmung und Physiologie, die durch den
intellektuellen Abstand zur Welt immer weiter ausgedünnt werde. Auch Sinne sind
evolutionär entstandene, datenverarbeitende Apparaturen, die Zeichen und
Schlussfiguren verbinden – die sinnlich erfahrbare Welt ist in ihren
Erscheinungsformen immer abhängig von den Basisprogrammierungen oder Drogen,
die über die Formen der Wahrnehmung bestimmen. Wie Derrida anhand Freuds
Traumdeutung gezeigt hat, beschäftige sich diese weniger mit den Inhalten als
mit den Beziehungen des Traums, mit Funktionszusammenhängen, Situationen und
Differenzen – wenn wir gewisse biographische Gesetzmäßigkeiten unserer
alltäglichen Lebensumstände kapieren wollen, geht dies nicht anders aber
vielleicht nur so.
Wenn in der Renaissance
die Erfahrung durch das Hören zum Modell eines Denkens aus der Sprache wurde,
so mag daran die Verschiebung der Gewichtung der jeweiligen Relate deutlich
werden. Dem gesprochenen Wort weist dies eine kognitive Kraft als Ausdruck zu,
es bleibt nicht auf ein bloßes Abbilden des Begriffs beschränkt – von hier aus
erklärt sich die eminente Bedeutung der Metapher. Die Erfahrung durch die Augen
wird modelliert zum Konzept eines die Welt erschauenden, dabei geometrisch
messenden Verstandes. Wie nebenbei entwickelt sich daraus eine Philosophie des
Geistes, die alle seine Kräfte umgreift: die Sinnlichkeit, die Erinnerung, die
Phantasie. Diese Philosophie des Geistes hält die Kräfte nicht in Distanz zur
reinen Vernunft, sondern ordnet sie dem Ingenium zu, das sie in ihrem Zusammenspiel
trägt. Als Peirce im Kontext der Kantschen Kritiken überlegte, was tatsächlich Geist
sei, kam er auf das In-Beziehung-Setzen, doch bereits in der Renaissance wird
die Relation oder ein Gefüge von Relationen denkbar, wie dies später Leibniz systematisiert
hat. Ein Naturverständnis, das die Gegebenheiten der Natur im Spiel ihrer
Ähnlichkeiten betrachtet, wird vom reflektierten Gebrauch der Sinne gefördert.
Im Ähnlichkeitsdenken der Renaissance wird eine logische Kategorie entbunden
und zum Laufen gebracht, die von der Fesselung durch das Substanzdenken zur
Unbeweglichkeit verdammt war: Erst mit der Kategorie der Relation wird es
möglich, die Vorstellung einer unendlich beziehungsreichen Welt zur Darstellung
zu bringen. Die Welterfahrung eines magischen Animismus musste nur in die
entsprechenden funktionalen Relationssysteme übersetzt werden, wie dies mancher
Blockbuster bereits vorführt, um in den Prozessen des Computerzeitalters eine
Renaissance zu erfahren. Wenn Aleida Assmann die Faszination beschreibt, die in
der Renaissance von den Hieroglyphen auszugehen beginnt, legt sie eine
Besessenheit durch den Gedanken der Adamitischen Sprache nahe, der
Schöpfungssprache, die den Dingen die adäquaten Namen verliehen hat. Dabei werde
mit der sehnsüchtigen Suche nach Signaturen an den Dingen, nach ursprünglichen
Bedeutungsresten, immer wieder nur der schmerzhafte Abstand zu den Dingen
unterstrichen. Das Postulat einer Unmittelbarkeit von Sinnen und Sinn gehe fließend
über in die Erfahrung eines Verlusts an Welt – beides ist falsch, diese
Erklärung unterstreicht die Strategien der Macht, um den ihnen gebührenden Gehorsam
einzufordern. Gerade die Einweihungsriten der verschiedenen Geheimlehren machen
deutlich, wie viel Hokuspokus notwendig ist, um Macht und Überlegenheit der
Eingeweihten zu gewährleisten. In verschiedenen Zusammenhängen konnte Lacan
zeigen, warum es den großen Anderen nicht gibt, er aber im Feld der Überbauten
und Umwege eines Nichts instrumentalisiert wird, um rücksichtslose Vollzüge der
Macht zu gewährleisten. Tatsächlich steht ein zynisches Machtwissen gegen die
realen Zugänge zur Welt. Schließlich werden mit der Zurichtung durch die
Naturwissenschaften, die Francis Bacons Programm der Folter der Natur umgesetzt haben, die Gegenstände der
Forschung jeden Eigenrechts beraubt; das Ergebnis liefert nur Aussagen über Totes.
Auch die Macht des Stärkeren liefert auf Dauer keine Legitimierung für den
Mangel an Einfühlung oder die Rücksichtslosigkeit stumpfer Deppen. Die Zynismen
von Bildungsbeamten kaschieren die Angst vor den Gesetzmäßigkeiten des
Lebendigen; sie machen sich die Mortifikation zu eigen, reduzieren Wahrheiten
auf eine Eigenschaft von Sätzen. Daran zeigt sich das Unvermögen, die
Weltendinge aus einer intimen Kenntnis ihrer Relationen heraus zu verwenden
oder mit ihnen in einer Weise umzugehen, mit der sie ihre jeweilige Wahrheit offenbaren.
In den entscheidenden Zusammenhängen blicken selbst die Dinge uns an; ihr Blick
vermittelt mehr, als dies kodifizierte Bedeutungen je könnten, sie haben ein Gesicht.
Die Welt spricht zu uns, wenn wir in der Lage sind, sie durch den Lärm zu vernehmen,
den wir ständig selbst um uns verbreiten. Es kann das Gesicht der/s anderen
sein, in dem wir unserer Wahrheit begegnen; es kann der Anspruch und das
Versprechen sein, mit dem wir uns jenseits von Lüge und Verleugnung zu
situieren beginnen, es kann der performative Eid sein, mit dem uns erst einmal
klar wird, dass eine Wahrheit für sprechende Wesen wesentlich mehr ist, als eine
Funktion von Sätzen; in manchen Fällen ist es ein gesamter Lebenszusammenhang.
In den Erfahrungen der Wahrheit des Lebendigen gründet jene personelle Macht,
die die Institutionen schon immer als unlautere Konkurrenz diffamiert haben,
die sie mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln ins Imaginäre abdrängen oder
als Wahn verteufeln mussten. Gerade weil ihre Macht den unerwarteten Entscheidungen
ihrer Stifterpersönlichkeiten zu verdanken ist, überraschenden Erfolgen und dem
einhergehenden Charisma, gehört zur Bestandssicherrung der Institution die
Vorsorge, derartig unkontrollierbare, profane Epiphanien nicht noch einmal zu gestatten.
Allerdings wurde mit
Bacons ‚Novum Organum‘ auch jene Brücke von der Sprachmagie zur induktiven Schlussfolgerung
konzipiert, mit der alternative Kenntnisweisen jenseits der dumpfen Machtstrategien
von Institutionen möglich sind – die übrigens dank der Umwege von Außenseitern
und Eigenbrötlern beiderlei Geschlechts für die Verjüngung des institutionellen
Lernvermögens sorgen. Eine aktuelle Definition der Kultur ist nach Nünning der
von Menschen erzeugte Gesamtkomplex kollektiver Sinnkonstruktionen, Denkformen,
Empfindungsweisen, Werten und Bewertungen, der sich in Symbolsystemen
materialisiert. Hervorzuheben ist, dass in dieser Zusammenfassung auch die Empfindungsweisen
materialisiert werden, nicht nur das Universum des Wissens wird in einem
semiotischen Feld konfiguriert. Wer sich im Jahrhundertgeschäft der Semiotik auf
den Weg einer Physiognomie der Kulturen macht, den symbolischen Ausdruck zu
fassen sucht, den eine Geschichte in der jeweilige Sprache gefunden hat, ist
nach wie vor am magischen Projekt Bacons beteiligt, die Welt nach den
Bedürfnissen des Menschen umzugestalten – das läuft wahrscheinlich sogar
stimmiger und reibungsloser, wenn statt der Folter die Empathie bemüht wird.
Von Bacon stammt eine frühe Form der Ideologiekritik als Idolenlehre, zugleich auch
eine ursprüngliche Form des sapere aude: Habe den Mut, dich deiner eigenen
Sinne, deiner Geschmacksorgane zu
bedienen, ohne dich dabei von anderen bevormunden zu lassen. Sapere bedeutete ursprünglich
schmecken, bevor es zu Verstehen oder Wissen promoviert wurde. Als Leitspruch
der Aufklärung musste das Habe-den-Mut-zum-Wissen erst durch eine Geschichte
der Hermetiker, Alchimisten und Spinozisten hindurchgehen, bis sie mit Kant für
die Normalvernunft zurecht zu schustern war: Habe den Mut, deinen Verstand zu
gebrauchen – und das heißt etwas anderes. Dagegen beruhte noch Spinozas
materialistischer Pantheismus auf dem Prinzip, dass alles mit allem zusammenhängt
– also nicht darauf, dem Drill zu gehorchen, der einer beschränkten Weltsicht
den Gehorsam einbrennt, sondern den Mut oder das Selbstverständnis aufzubringen,
sich auf Wahrheiten jenseits der Herrschaftsverhältnisse einzulassen. Damit
sind wir wieder bei einer porösen Zeitkonzeption, die nach beiden Seiten
Benetzungen und Berührungen untersteht.
Das Thema des sozialen Todes
(Bilz) wurzelt in den Zusammenhängen einer symbolischen Verletzbarkeit des
Menschen, deren Voraussetzungen von Liebsch als ‚Subtile Gewalt‘
zusammengefasst werden. Hier werden vor allem die Schaltstellen gekennzeichnet,
an denen über ein Leben entschieden wird, damit aber ex negativo ein Repertoire
bereit gestellt, den Gewissheiten eines Schicksals zu entgehen. Die Kraft des
Sprechens hat jede/r erfahren, für die/den Worte sich in bestimmten
Zusammenhängen in einen stechenden Schmerz verwandelten. Tatsächlich haben wir
bereits alle als Kinder während der wohlmeinenden Erziehungsversuche erlebt,
wie Sprache kränkt und verletzt. Die prägende Wirkung wurde durch die
Sprechakttheorie auf einen Nenner gebracht; die gewaltsame Rede, mit Worten
unangenehmes oder böses zu bewirken, betrifft jedes leibhaftige Sein, das sich
als sprachlich affizierbar erweist, das sozial überhaupt nur vermittels seiner
Ansprechbarkeit und seines Anspruchs existiert. In dem Maße, wie diese in Frage gestellt sind, droht eine soziale Existenz zu verschwinden, der
Name nicht mehr zu zählen. Solange der Name im Spiel bleibt, nicht ausgelöscht
oder vergessen wird, ist der Inhaber des Namens als jemand ansprechbar und kann
Andere ansprechen oder in Anspruch nehmen, die eine Erfahrung vermitteln, wer er/sie ist. Die Kraft der Sprache geht hier so weit, jemanden in seinem
sozialen Sein zu halten oder die soziale Existenz zu verwehren. Mit Rosenzweigs
Einbrechen des Namens in das Chaos des Unbenannten wird auch deutlich, welche
Kräfte der Arbeit am Mythos hier konserviert wurden. Namen bringen Ordnung in
die Welt, aber sie transportieren auch den Schrecken der Bedrohung durch eine
Deterritorialisierung, die einen haltlos, ohne die gewohnten Identifikationen
zurück lässt. Die Sprache kann uns tödlich verletzen, weil wir erst unter ihren
Ordnungs- und Orientierungsleistungen geworden sind; wir bedürfen der Sprache,
um überhaupt zu sein.
Dabei sollte nicht übersehen werden, dass die Macht des Blicks dieser Okkupation
der Welt durch die menschliche Sprache vorausgeht. Es ist der Stolz in den
Augen einer Mutter, das Bewusstsein ein Leben geschenkt zu haben und über
dieses Leben in einer göttergleichen Form zu verfügen, die sich zur Sonne für
ein künftiges Menschlein verwandelt. Die Sprache prolongiert diese
ursprüngliche Ausgeliefertheit an die Anerkennung durch den Anderen auf einer abstrakteren
Ebene; sie schreibt sie dann aber in einer viel umfassenderen Form in alle
späteren Entwicklungen ein. Aus dem nur selten artikulierten, geschweige denn
wirklich bewusst gewordenen Gefühl der primordialen Abhängigkeit werden die
verschiedensten Variationen des Mythologems Muttermord hervorgegangen sein. Die
ursprüngliche Entfremdung eines biologischen Wesens durch die Sprache macht es
zu einem naturwidrigen Fremdkörper, sorgt zudem dafür, dass wir uns im Fortgang
der Geschichte immer mehr daran üben, die ökologischen Gesetzmäßigkeiten außer
Kraft zu setzen. Eine Objektivierung des jeweiligen Geschehens durch symbolische
Formen wie die Sprache katapultiert uns nicht nur aus der Natur heraus, sie
beinhaltet auch Chancen, die Folgen der ursprünglichen Abhängigkeit zu
bearbeiten, einem Souveränitätstraining zu unterstellen.
Aufgrund des Namens kann
ich sagen, wer mich ruft; und nur mit der Hilfe des Namens kann ich einen
bestimmten Anderen rufen – so sind beide in ihrer Existenz völlig der Sprache überantwortet. Die
Konstitution unseres Selbst startet mit der Namensgebung, ist aber niemals
abgeschlossen, auch nachträglich greifen diese Voraussetzungen in unsere soziale
Konstitution ein. Die Anerkennung durch ein menschliches Gegenüber mag unser
Selbstbild konstituieren, doch weil die Anrede der Anerkennung vorausgeht,
hängt unser soziales Leben bereits davon ab, wie und ob wir überhaupt angesprochen werden.
Anerkennbar ist nur, wer ansprechbar ist und Quelle von Ansprüchen sein kann.
Beides wird affirmiert durch die namentliche Anrede, in der sich wie in einem
Brennpunkt zeigt, dass wir für den Anderen überhaupt existieren. Das erklärt die
Sensibilität für eine Nennung, Deformation oder Leugnung des Namens. Weil es
schlimm ist, nicht zur Kenntnis genommen, nicht genannt oder angesprochen zu
werden, halten wir sogar an Diffamierungen fest, die uns weh tun: Sie bestätigen
immerhin eine gesellschaftliche Existenz, wir werden lieber erniedrigt, als
nicht angesprochen.
Die eigentümliche Drohung des
sozialen Todes liegt in dem Mangel an Abgrenzung gegenüber dem Anspruch, in den
Augen Anderer die eigene Existenz zu bestätigen. Wir wissen nicht, wo der irreversible
soziale Tod einzusetzen beginnt, das macht unsere fundamentale Erpressbarkeit
aus. Die Wirkung archaischer Ausschlussverfahren oder der durch einen Voodoozauber
bewirkte Vagustod zeigen, dass einen keine Namensnennung ab einem gewissen Grad
der Unsichtbarkeit wieder ins Leben zurückrufen kann. Weil die soziale Existenz
mit der Namensgebung bestätigt wurde, sorgt eine latente Angst vor der damit
gegebenen Widerrufbarkeit für Ausgeliefertheit und Willfährigkeit. Weder dass
wir als jemand existieren, noch dass es uns überhaupt gibt, erweist sich als unwiderruflich.
Nicht einmal die Tatsache, dass wir mit dem Anspruch bereits in unserer
Existenz wahrgenommen werden, bevor uns die soziale
Gemeinschaft aufgenommen hat, erweist sich als unanfechtbar. Um diese Widerrufbarkeit und Anfechtbarkeit
müssen Wesen wissen, die sozial nur als Ansprechbare und als Ansprechende
existieren, sich vermittels der Sprache als verletzbare zu begreifen haben. Wir müssen sogar akzeptieren, dass die Anhänglichkeit an Zusammenhänge
der sogenannt eigenen Welt am meisten wehtun kann, dass es die Verwobenheit mit
den eigenen Ansprüchen und Selbstdefinitionen ist, die tödliche Verletzungen ermöglichen.
Also sollten wir möglichst früh lernen, gegen den Konformismus eines auf Sprache
angewiesenen Menschen daran
zu arbeiten, immer in verschiedenen sozialen Kontexten, also in mehreren Welten
zugange zu sein. Distanz heißt das Zauberwort, nur dann können wir uns erlauben,
an den Intensitäten eines Augenblicks teilzuhaben, uns der unvermittelten Nähe
einer/s Anderen auszusetzen. Für den von Batesons Lernen 3 vorausgesetzten
Sprung, die Einsicht in die Gesetzmäßigkeiten des Kontextes unseres ‚normalen‘
Lebenskontextes, ist eine Variation der Erfahrung des sozialen Todes zu durchlaufen.
Als Folge einer fundamentalen Entfremdung fallen wir ins Schweigen, gehen durch
ein fundamentales Nein hindurch, erhöhen die Abstände, bis der
identifikatorische Sinn ausfällt. Erst dann wird eine unmittelbare, echte Nähe
zu den Gegenständen der Welt, vor allem aber zu einem lebendigen Gegenüber
möglich. Nur in solchen Zusammenhängen der Bedeutsamkeit trifft das Bolzsche
‚Stop Making Sense’ einen Sachverhalt, der seit der Kohl-Ära das
‚einen-Sinn-machen‘ mit wirtschaftlichem Erfolg und politischer Macht verbunden
hat. Solange wir unsere Lebendigkeit bewahren, stehen konventionalisierte
Bedeutungen und der durch Großinstitutionen verbürgte Sinn unter dem Generalverdacht
der Kolonisation der Lebenswelt.
Im Jahrhundert nach dem
Linguistik Turn, nach den verschiedenen Varianten der Sprachphilosophie, ist es
keine Selbstverständlichkeit, sich erneut auf die Sinne, das damit einher
gehende Sinnenbewusstsein, auf subliminale Wahrnehmungen zu berufen. Jegliche
bewusste Wahrnehmung beruht bereits auf abstrahierenden und generalisierenden
Formen, die einer präfabrizierte Muster liefernden Wahrnehmungsstörung
unterstehen – wenn wir den Unvorstellbarkeiten des Staunens auf LSD begegnen, setzt
dies vielleicht eine Ahnung frei, was alles aus der Wahrnehmung raus gefiltert
wird, damit das erwünscht normale Funktionieren möglich ist. Der Mensch lebt in
einer sprachlich strukturierten Welt, wird selbst fast vollständig von der
Sprache bewohnt; seine Wahrnehmungen und Erkenntnisse sind den sprachlichen Vorgaben
des kulturellen Kontextes zu verdanken – es braucht also enorme Routinen, bis wir bei alltäglichen Handhabungen und
Wahrnehmungen nicht mehr wiederholen, was uns eingepritscht wurde, sondern uns
von den Energien einer materialhaften Intelligenz führen lassen, also jenseits
der Geschwätzwelt auf ein Sehen, Hören und Spüren zurückkommen. Erkenntnistheoretisch führt dies in keine
mythische Wunderwelt, nur die kategorialen Grundlagen der Zeichentheorie werden
beansprucht. Wenn Nietzsche bei der erkenntnistheoretischen Fundierung seiner
Sprachtheorie nicht über die Frage nach dem Wesen gestolpert wäre, hätte er den
Sprung zur Relationsmetaphysik des 20. Jahrhunderts vorweg genommen. Wer unter
Wahrheit ein Mobile von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz Wahrheit
als eine Summe von menschlichen Relationen versteht, sollte daran festhalten,
dass das der Stoff ist, aus dem die Welt und das Denken gewoben wird.
Wahrheiten werden nicht durch die Relativität entwertet und zu Illusionen oder
Lügen, weil vergessen worden ist, dass ihre Begriffe nur metaphorische und
anthropomorphe Übertragungen sind. Erkennen ist ein Arbeiten in den geläufigen
Metaphern, also ein nicht mehr als Nachahmung empfundenes Nachahmen. Das ist
richtig und überzeugend, noch Benjamins Konzeption der unsinnlichen Ähnlichkeit
setzt die verschiedenen Relationssysteme, unter denen Dinge, Kunstwerke,
Menschen begriffen werden, in ein Beziehungsverhältnis. Für Russell war
Ähnlichkeit ein Verstehensbegriff, der sich
nicht weiter reduzieren lässt, Ähnlichkeit richtet sich ans Auge, muss gesehen
werden – dagegen sieht Benjamin im Traum mit den Augen des Körpers, zu Ähnlichkeiten
taugen biomagnetische Spannungszustände und psychische Besetzungen, nachdem die
Offenbarung vom Auge ausgehend den Umweg über den ganzen Körper genommen hat,
um sich in der Schrift zu betten. So ist Nietzsches Urteil, dass die Wahrheit
daraus entstehe, wenn die Genese der Sprache vergessen und jeder Begriff mit
dem Wesen der Dinge gleichgesetzt werde völlig richtig, in die Irre führt
lediglich die Behauptung einer alles entwertenden Relativität. Natürlich ist
alles relativ, weil es in relationalen Systemen begründet ist, damit
tatsächlich in einer Vielfalt von Beziehungen alles mit allem zusammen hängt –
wir sind eben nur in der Lage, kleine Ausschnitte nachzuvollziehen. Mit den als
triadischen Trichotomien verfassten Semiosen eines Peirce besteht keine semantische
Entität und kein materielles Geschehen mehr für sich, sondern in jedem Zeichen,
das als Zeichen wieder für ein Zeichen steht, das wieder ein Zeichen für ein
Zeichen ist, liegt immer ein Gebilde vor, in dem Materie, Relation und Geist in
verschiedenen Mischungsverhältnissen real und nicht nur gedacht vernetzt sind –
das eine ohne das andere ist ohne das dritte weder vorstellbar noch wirklichkeitsmächtig.
Die ganze Welt der Erscheinungen, von den einfachsten materiellen
Gegebenheiten, über handwerkliche Routinen oder binäre Operationen bis zu hochsublimierten,
kulturellen Produkten oder wissenschaftlichen Fortschritten ist ein Spiel
trichotomischer Triaden. Bereits die Materie denkt, Atome werden auf der
subatomaren Ebene durch semimateriale Bindungskräfte zusammengehalten, Beziehungen
sind geistige Prozesse – Natur ist, wenn wir uns von der Perspektive einer quantitativen
Zurichtung durch technische Wissenschaften verabschieden, ein subtiles Geflecht
energetischer Beziehungen, ein umfassender Kommunikationsprozess. Leben sichert
sich als momentane Reproduktion von Ordnungsstrukturen gegen Zerfall und
Dysfunktionalität durch Rückkopplungsschleifen von Zufall und Energiezerstreuung
eben dieser Störfaktoren: Selbsterhaltung ist als Kommunikationsprozess in
einem Netz von Rückkopplungen zu beschreiben. Noch die höchste Form geistiger
Produktion ist auf materiale Trägerelemente angewiesen, die die Formen
vorgeben, in denen Informationen transportiert, im günstigsten Fall in
Kommunikation transformiert werden. Es ist die Materialität der Zeichensysteme,
die jeweilige Eigenart des Signifikanten, mit der wir mehr über die transportierten
Bedeutungen oder Signifikate erfahren, als durch kodifizierte Konventionen – es
gibt nichts dahinter, reine Bedeutungen oder pure Materie sind immer nur
Epiphänomene. Mit dem aus den esoterischen Traditionslinien entwendeten
Symbolbegriff steht eine zeichentheoretische Konzeption zur Verfügung, mit der
wir mitten in der Materialhaftigkeit der Welt landen. Das Zeichen mag in der
Analyse Lacans selbst ein Motor der Abwesenheitsdressur sein, die Zeichentheorie
semiologischer Prägung eine Form von Ideologiekritik spiritueller Veranstaltungen.
Aber das muss nicht alles sein, wenn wir die Materialität der Welt wie die
Spiritualisierung der Materie als triadische Trichotomien handhaben. Die
Differenz zwischen einer Aktualität der Präsenz und ihrer Repräsentation in
Wahrnehmung und Bewusstsein muss nicht zu einem hoffnungsvollen Verpassen oder
zu einem wahnhaften Hinterherrennen gerinnen, wenn gewisse traditionelle Besessenheiten
zugunsten der Möglichkeitsspielräume postmoderner Medien verabschiedet werden. Die
Abwesenheitsdressur der Schrift wird durch multimediale Intensitäten des Jetzt
und Hier ausgehebelt, digitale Speichersysteme sorgen auf einer fundamentalen
Ebene dafür, dem Vergessen in einem umfassenden Maß vorzubeugen, das die
Revolution der Schrift nicht vorhersehen konnte. Haptische und rhythmische
Erfahrungsmuster führen in die Routinen der Präsenz zurück; unterschwellige
Wahrnehmungen, freie Assoziationen, unwillkürliche Erinnerungen befördern die
Fähigkeiten Achtsamkeit, Körperbewusstsein, Geistesgegenwart, die von
Abstraktionsleistungen und Generalisierungen der letzten Jahrhunderte ausgedünnt
wurden.
Die Formen der
Wahrnehmung, des Denkens und der Erfahrung hängen von den Medien ab, die das
jeweilige kulturelle Wissen transportieren. Die Bedingungen von McLuhans
Gutenberggalaxis tauchen bereits im 12. Jahrhundert durch neue Anforderungen an
Manuskripttexte auf, in denen systematisch verschiedene Ordnungskriterien beachtet
werden: Inhaltsverzeichnisse, Sachregister, Kapiteleinteilungen, die Trennung
von Text und Kommentar, die Verwendung von Papier statt Pergament. Doch erst
die Industrialisierung der Buchherstellung durch die Druckerpresse verwandelt
das laute gemeinsame Lesen in den Prozess einer auf das visuelle Erfassen und
leise Lesen entstehenden Lesekultur, die weitere Ordnungskriterien und
Gestaltungen der Drucke mit sich bringt, damit der Wissensvermittlung und dem
Meinungsstreit zuarbeitet. Mit dem Buchdruck entstehen Archive, die sich
unabhängig vom lebendigen Vollzug erhalten; typographische Speicher erlauben
die präzise Wiederholung eines einmal entwickelten Wissensbestands, befördern damit Induktions- und Abduktionsvorgänge,
die die Argumentation enorm erleichtern, in Gefilde führen, die ohne die
speziellen Notationen eines typographischen Gedächtnisses nicht mehr
nachvollziehbar wären. Die formale Logik, der Euklidische Raum, die moderne
Mathematik und die darauf aufbauenden Naturwissenschaften wurden durch das
typographische Gedächtnis erst ermöglicht; Kants nicht aus der Erfahrung
stammende Formen der Wahrnehmung sind tatsächlich ein Resultat der Grammatik jener
Medien, die unsere Sinne, unser Erkenntnisvermögen strukturieren. Schreiben und
Lesen verwandeln das Gehörte und Gesprochene in eine visuelle, damit räumliche
Sphäre. Die Druckerpresse hat nicht nur den Hörraum in einen Sehraum
umgegossen, sie ließ mit dem allgemeinen Wahrnehmungswandel das symbolische
System hinter dem visuellen Raum dessen wesentliche Eigenschaften übernehmen:
Kontinuität, Uniformität, örtliche Zuordnung.
Schriftlose, auditiv
ausgerichtete Präsenzkulturen richten ihren Bildvorrat an Ritualformen
kreisläufiger Wiederkehr aus; während die Wahrnehmung in literalen und medialen
Gesellschaften vor allem visuell strukturiert ist. Der Einschnitt im europäischen
Kulturraum war die Einführung der phonetischen Notation, die Übersetzung
gehörter Sprache in visuelle Formen als Abstraktionsleistung, mit der Möglichkeiten
der präzisen Aufzeichnung geschaffen waren. Jenseits der Erinnerung und der performativen
Vollzüge waren philosophische und dramatische Texte zu speichern, die zu einem
gesellschaftlich abrufbaren Wissen wurden, ein objektiviertes Denken außerhalb
menschlicher Gehirne, das Generationsketten überdauern konnte. Für
Kerckhoves ‚Schriftgeburten‘ führt eine gerade Linie vom Vokalalphabeth, das
die Analyse beförderte und die Abstände zur Welt erhöhte, zur Zerstörung der
Intuition für die Wirksamkeiten des Kontextes, damit in letzter Konsequenz zur
Kernzertrümmerung und der Herrschaft der Atombombe. Unter dieser Perspektive schließt
sich die Verwandlung der Welt in Bits und Bytes nur folgerichtig an – obwohl ein
sublimierter Analphabetismus Türen der entgegengesetzten Entwicklungslinie
aufschließt. Mittlerweile gibt es keine Notwendigkeit mehr, die uns daran hindern
könnte, eine kritische Hinterfragung des technischen Wandels für die
Emanzipation nutzbar zu machen. Das Repertoire liegt vor, seit mit den
digitalen Zugriffsmöglichkeiten des Computers ein offenes und unspezifisches
Medium in der Lage ist, über alle Medien zu verfügen, also richtig damit umzugehen.
Eine wichtige Parallele hilft uns dabei, denn die symbolische Realität der Zeichenverarbeitung
ist eine Maschine, die wie sensibilisierte Körper jenseits der Hermeneutik
funktioniert. Der Mensch musste sich einmal von den Zwängen der Natur
emanzipieren, mittlerweile sollte er in die Lage kommen, die Zwänge zu
verabschieden, die er als Gegengewichte selbst geschaffen hat. Wir haben nicht
zwingend den Gesetzmäßigkeiten zu folgen, denen wir eine Wirtschaft der Umweltvernichtung
oder eine Technik des Overkills verdanken. Sondern wir können mit den heute
vorliegenden technischen Möglichkeiten noch einmal auf die ursprünglichen
Fraglichkeiten zurückkommen: Den Motor der wuchernden Vorstellungen eines aus
der Natur herausgefallenen Untiers! Es sind genau diese Vorstellungen, die sich
im Laufe der Zeit in Prognosen und Berechnungen verwandelten, die den Menschen
aus seiner biologischen Umwelt ausschlossen und das Leben als Geschäft
kalkulierten. Eine Entwicklung, die mit der technischen Entwicklung allerdings
über sich hinaus gegangen ist und spätestens dann obsolet wird, wenn die Medien mit vielfältigen Gestalten der Suche nach dem Sinn,
der Orientierung in der Welt, einen umfassenden Mythenverbund inszenieren. Bolz
erinnerte daran, dass Blockbuster Selektionsmechanismen zur Optimierung von
Mythen zur Verfügung stellen. Ein idealer Inhalt der Medien sind Mythen, das
Ideal kultischer Kommunikation im Zeitalter ihrer universellen
Reproduzierbarkeit, damit die immer wieder neue Aktualisierung der Aufgaben-
und Fragestellungen, die wir der neolithischen Revolution verdanken. Selbst in
der Werbung verbirgt sich ein mächtiger Antitrend, denn ihre falschen
Versprechungen halten eine utopische Kraft virulent, die die Bilder von
Leidenschaft und Glück gegen die Folgen einer gesellschaftlichen Stillstellung
aufrichten. Nach Reich bezieht noch das verlogenste Pathos seine Kraft aus
einem Rest lebendigen Lebens, die gemeinsten Verlogenheiten werden gesucht und
genossen, wenn sie ein Funke Lebendigkeit speist. Nach Jahrzehnten der
Beschäftigung mit Fantasie und Imagination hatte Kamper die These aufgestellt:
Je tiefer im Imaginären, je näher am Realen. Nebenbei unterstreicht er aber in
den verschiedensten Zusammenhängen, warum für Menschen von Fleisch und Blut die
erhabenste Erfahrung die der Präsenz ist.
Seit der Frühromantik liefert der Nomade
Wunschvorstellungen des Intellekts; im Verhältnis von Labyrinth und Phantasie
sind Initiationsriten aufbewahrt, obwohl die ihnen entsprechende Wahrheit heute
nicht mehr zeigt, als in früheren Zeiten ein Getreidekorn. Nietzsche wollte mit
den Beinen denken und seit den Surrealisten ist der Dichter ein Gehender. Der
Weg sei das Ziel wird von Jahrtausende alten Weisheitslehren verkündet – tatsächlich
beginnt das Denken mit den Beinen, wie Leroi-Gourhan in ‚Hand und Wort‘ zeigt. Wahrscheinlich
ist die Thematisierung des Gehens, des Vorankommens in unseren Zeiten so
zwingend, weil bei den Simulanten der Selbstheit aufgrund ständiger
Selbstdementierungen fast nichts voran, bei Impotenten aber ständig vor und
zurück geht; die Statthalter des besseren Wissens sind häufig genug
Gehbehinderte, verkorkste Schreibtischtäter mit Machtfantasien. Der
Ordnung des Gehens, Vorantastens könnten die Gesetzmäßigkeiten eines Glücks des
Unvorhergesehenen entsprechen – und damit gegen den Imperativ der Stillstellung
und des seelischen Erstickungstodes in der verwalteten Welt Auswege bieten. Gehen
im Rhythmus des Herzschlags, der bilderlose Fundus einer taktilen Kreativität
richtet sich gegen die Macht des Panoptikums, gegen die Besetzung einer
Orientierung durch das Auge. Wenn wir nach der Einflusssphäre der von Foucault herausgearbeiteten
gesellschaftlichen Macht suchen, die gerade in den kleinsten biographischen Momenten
wirkt, ist an der Komplexitätsreduktion anzusetzen: Das Auge liefert für sich bereits
eine enorme Komprimierung der Daten, wenn 100 Millionen Sensoren in der Retina
lediglich durch fünf Millionen Anschlüsse mit dem Gehirn verbunden werden. Was durch
die Sortierfunktion dieses Flaschenhalses wegfällt oder unter die Wahrnehmungsschwelle
gerät, untersteht Gesetzmäßigkeiten, die den identifikatorischen Vorgaben einer
gesellschaftlich entwickelten Mikropolitik gehorchen. Sie sind jedoch mit dem
nötigen informationstheoretischen Hintergrund nicht mehr hilflos zu akzeptieren.
Alle sozialen Belange beinhalten normative Setzungen und transportieren ganz
selbstverständlich Differenzkriterien der Macht. Aus diesem Grund ist die Macht
als ubiquitäres Verhältnis mindestens so tief im gesellschaftlichen Leben verwurzelt,
wie die jeweiligen Werte und Normen, in vielen Fällen generiert sie diese
sogar. Für Bourdieu hat alle Macht eine symbolische Dimension, deren Effekte
sich in die Körper einschreiben, sich in der Haltung, den Gewohnheiten, selbst
in den Falten niederschlagen, vor allem aber die synaptischen Verknüpfungen im
Gehirn prägen. Der Orthodoxie der herrschenden Verhältnisse, die an einer
unreflektierten Anpassung interessiert ist, die mit Verleugnung und Schweigegeboten
an deren Vernebelung arbeitet, steht ein häretischer Diskurs gegenüber, der die
Gewohnheitsmuster, die Imperative des gesunden Menschenverstands aufzubrechen
versucht – auf die Dauer aber für die Verjüngung und Flexibilisierung dieser
Verhältnisse sorgt. Schon jeder Streit um Worte im symbolischen Feld ist
eminent politisch, denn die Worte organisieren die Wahrnehmungsweise und das
mehr oder weniger, oft nur zeitversetzte, gemeinsame Weltverständnis.
Das
Glück des Unvorhergesehenen bringt die Chance mit sich, mehr und anderes zu
finden oder zu erfahren, als dies unsere Erwartungsmuster und die dahinter
arbeitende Komplexitätsreduktion erlauben. Brüche und Diskontinuitäten in
unseren Biografien bieten sich an, um das Entstehen von Lernprozessen, psychischen
Wachstumsbedingungen, relativ einfach zu erklären, um gewisse Regelhaftigkeiten
aufzusuchen und zu optimieren, sie für andere zu verallgemeinern. Was liegt
näher, als ein fluktuierendes Reich der Semantik vorauszusetzen – ein
spannungsbalancierendes Fließgleichgewicht des symbolischen Tauschs. Der
Prozess einer sozialen Evolution steuert die Komplexitätsreduktion unseres
Wahrnehmungsapparats; in der Folge sind es die Traditionen, Konventionen und
Erwartungsmuster, die unsere Erfahrung strukturieren: Gelegentlich war von
morphogenetischen Feldern die Rede, hin und wieder heißt es, das Ganze sei mehr,
als die Summe seiner Teile, manchmal wird von einer guten Gestalt ausgegangen
und in ganz verschiedenen Zusammenhängen ist von Emergenz die Rede. Damit wurde
das, was sich den Erklärungen entzieht, mit schönen Namen getauft, bei denen
sich der Wille zum Wissen beruhigen darf, obwohl in der Regel nicht verstanden
wird, wie nah sich Katastrophe und Geistesblitz sind.
Das
älteste uns überlieferte philosophische Fragment stammt von Anaximander; es
umreißt die ursprünglichen Gesetzmäßigkeiten des ökologischen Tauschs: Die
Ursachen, aus denen die Dinge und Verhältnisse entstehen, liefern die Gründe,
warum sie auch wieder vergehen. Für die Übertretung, in die Existenz entlassen
worden zu sein, zahlen sie der Zeit eine Schuld ab, bis das Konto aus Geben und
Nehmen wieder ausgeglichen ist. Natürlich habe ich dieses Zitat modifiziert,
auf einen aktuellen Nenner gebracht – aber da das Original verloren gegangen
ist, nur Zitate von Zitaten überliefert wurden, liegt mir diese Vorgehensweise
näher als der unter biblischen Vorgaben entstandene Fluch auf der geschlechtlichen
Vereinigung: Der Tod sei der Sünde Sold.
Die
allgemeinste Gesetzmäßigkeit der Zivilisation beruht auf der Tatsache, dass die
Menschheit ökologische Zyklen durch Planung, Vorratshaltung und Technik außer
Kraft setzt – der Mensch wird damit zum naturwidrigen Fremdkörper. Diese in uns
pochende Fremdheit sollte nicht verleugnet werden, wie die Angst vor den
Forderungen der Toten. Die einem Schock, einem Scheitern, einer Desorientierung
verdankte schmerzhafte Selbsterkenntnis ist die wichtigste Grundlage von
Lernprozessen. Mit dem symbolischen Tausch versuchen wir für eine gewisse Zeit
immer wieder ein Gleichgewicht auszutarieren, eingedenk der Tatsache, dass der
Gewinn auf der einen Seite zum Verlust auf der anderen Seite wird. Ausgangspunkt
ist hier eine Anähnelung an ökologische Zyklen, die uns vor einer Homöostase
des Elends bewahren. Wer nicht bereit war, für das Bekommene Gleichwertiges zu geben,
hatte Grund zur Angst, in einer Abwärtsspirale hängen zu bleiben. Mit der Entwicklung
von abstrakten Handelsbeziehungen und einer Optimierungen unterstehenden Technik
wird dieser ängstigende Vorbehalt verdrängt; verabsolutiert werden nun die Gesetzmäßigkeiten
eines ökonomischen Tauschs, die den Wert einer Sache am Imaginären festmachen:
Etwas ist so viel wert, wie jemand unter dem Druck des Konkurrenzverhaltens bereit
ist, dafür zu geben. Das mag lange funktionieren, auch wenn in Vergessenheit
geratene Weisheiten für die Individualpsychologie als zwangsneurotische Rituale
wiederkehren oder gesellschaftliche Krisen das Wertsystem derart durcheinander
bringen, dass unter vergleichbaren Bedingungen einer konfliktuellen Mimetik immer
wieder einmal von vorne zu beginnen ist. Lange heißt allerdings nicht ewig –
und es macht einen Unterschied, ob die Ausgeliefertheit gegenüber den Folgen
eines unfähigen politischen Systems durch die Verlagerung auf
Stellvertreterkriege oder die Eroberung neuer Kolonien verarbeitet werden kann
oder ob der Planet restlos aufgeteilt ist und die Lösung eines Rückgriffs auf
Kriege nicht mehr zur Verfügung steht, weil die Waffentechnik mittlerweile der
Logik des Overkills untersteht. Die Verlagerung irgendwelcher Kriegsspiele in
die Dritte Welt oder die Regression gescheiterter imperialistischer Staaten auf
die Machtspiele des 19. Jahrhunderts kosten heute Ressourcen und wertvolle
Zeit, für die uns ein fieberkranker Planet seit geraumer Zeit Rechnungen
stellt, die wir nicht mehr begleichen können. Während die verschiedenen
unflexiblen und statischen politischen Systeme in irgendwelchen Formen noch
immer am Status Quo der Selbstzerstörung festhalten, könnte jeder Einzelne für
sich entscheiden, gegen die Imperative der Abwesenheitsdressur an den
Schulungsgängen der Präsenz zu arbeiten. Das könnte damit beginnen, auf eine
sinnlose Fortpflanzung zu verzichten, stattdessen aber die Erotik zu
kultivieren – es wird ihnen nicht gerecht, wenn Kinder als Mittel der
Erpressung dienen, mit denen man/frau den Lebensstandard sichert oder für Zuwendungen
und Nachsicht verwendet. Wer wirklich mit der Zeugung eines Kindes einen
persönlichen Sinn erwartet, nicht nur stumpfen Nachahmungszwängen gehorcht, sollte
den in verschiedenen Zusammenhängen geforderten Kinderführerschein vorlegen und
außerdem die finanziellen Mittel nachweisen, die einem Kind optimale
Entwicklungschancen garantieren. Das könnte zum nächsten dazu führen, sich von
Statusdenken und Fetischismus zu verabschieden, also keine entfremdende Arbeit
anzustreben, um den sinnlosen Konsumgütermarkt zu füttern, sondern sich in
Eigen- und Beziehungsarbeit zu üben, um eine beschränkte Lebenszeit mit
Sinnfülle zu laden – womit man/frau,
eben weil sie nicht ein Leben lang vor sich selbst weglaufen, sehr wahrscheinlich
keine Angst mehr vor dem notwendigen Ende haben werden.
Wenn wir das nicht planbare
Glück des Unvorhergesehen haben, im Hier und Jetzt der Präsenz anzukommen, funktioniert
mit den behutsamen
Annäherungen Gumbrechts noch immer jener magische Akt, durch
den eine zeitlich und räumlich entfernte Substanz präsent wird – obwohl Kairos als
Gott des rechten Augenblicks in der Gefahr des Verpassens mit einem Messer hinter
uns steht, was dann zu schmerzhaften Lernprozessen führt. Doch wie der
zeitliche Vektor suspendiert wird, geht es nicht mehr um Deutung und Interpretation,
sondern um die Vergegenwärtigung einer Gestalt im räumlichen Zusammenhang. Jede
Form von Kommunikation setzt in irgendeiner Weise die Produktion von Präsenz
voraus – die Präsenz ist eine Feldfunktion, die sich kompatibel zur Konzeption
der Seele als eines Feldes erweist. Schon deshalb greifen Präsenzerfahrung und
Spielfeld bei sportlichen Veranstaltungen ineinander, Gruppenphänomene und
Massenbewegung weiten dieses Feld, bis es das erfahrbare Geschehen jenseits
subjektiver Beschränkungen erfahrbar machen kann. Der von den Kommunikationsmitteln
herkommende Effekt der Greifbarkeit durch Bewegungen zunehmender oder
abnehmender Nähe und zunehmender oder abnehmender Intensität beeinflusst uns
als Kommunizierende, wir werden durch Nachahmungsneuronen in der Materialität
unserer Körper affiziert. Gumbrechts Rückgriff auf Aristoteles wäre noch stringenter,
wenn er die antizipierende Funktion künftiger Zustände durch die Teleologie einbeziehen
würde. Eine Funktion der Mimesis besteht darin, entfernte Zeiten und Orte zu
einer gemeinsamen Gegenwart zu verknüpfen. Für Ricœur vermittelt der mimetische Bezug zur Wirklichkeit
erkenntnistheoretisch die Möglichkeit, den mantischen Spielraum zwischen
Universalismus und Relativismus aufzufalten, also konkrete Erfahrungen in einem
Feld zwischen Idee und Einzelding zu vermitteln. Wie
nebenbei werden sich Personen, während sie kommunizieren, in spezifischen und
wechselnden Weisen berühren – es geht eben nicht nur um unverbindlichen warmen
Wind und wiedergekäute Sprechblasen. Der Raum, der währenddessen entsteht,
ermöglicht die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, damit die momentane
Suspendierung der Abwesenheitsdressur. Gerade der Bezug von Symbolbegriff und leiblicher Präsenz ist in der
Lage, die Willkür der konventionellen Setzungen auszuhebeln. Der Konstruktivismus
hat trotz wesentlicher Bestimmungen der Arbeitsweise des Erkenntnisapparats
jene Bodenhaftung verloren, mit der genealogische und historische
Gewordenheiten aufzuschlüsseln sind. Alle Wahrnehmungen werden bereits durch
die Filter der Symbolstruktur unserer kommunikativen Prozesse gesteuert, Gestalt
ist sinnerfüllte Wahrnehmung, Sinn ergibt sich immer erst aus dem Kontext, gewohnte
Bilder transportieren prospektive Erwartungen. Gerade diese Unterstreichung von
Sinn ist alles andere als willkürlich; erst wenn er verloren geht, weil
organische Abläufe gestört und ausgebremst werden, um sie für andere Zwecke zu
missbrauchen, wird die Sinnkrise als Mangel thematisiert, entstehen jene
verhärteten Konstruktionen, die sich mehr und mehr als Wahnsysteme erweisen.
Eine sinnerfüllte Wirklichkeit wird nicht thematisiert, wozu auch, wenn alles
wie selbstverständlich läuft. Schon im kultischen Tanz wird ein unbewusstes Wissen,
eine vorahmende Erfahrung über die Muskelinnervation übertragen; der Bezug auf
ein symbolisch verfasstes Weltgebäude wird durch diese Übersetzung geleistet,
ist also nicht als beliebig gesetzt. Damit haben wir eine Form des Wissenserwerbs,
die eben nicht auf bloße Konventionen reduzierbar ist – Konventionen allein liefern
mit Benjamin nur ‚objektive Verlogenheiten‘. Wenn die Wurzeln eines
sprachlichen oder tänzerischen Ausdrucks in ein und demselben mimetischen
Vermögen gefunden werden, muss bereits eine Form der Sprachphysiognomik vorausgegangen
sein: Unser Sprachvermögen ist ein spätes Resultat der Spurensicherung, der
Suche nach Zeichen und Hinweisen im mantischen Orientierungsraum von Wildbeutern
und Sammlerinnen. Die Konzeption des Wortes als Verweisungszusammenhang und die
ganzheitlich verstandene Seele beruhen auf dem gleichen Prinzip der Verwobenheit
mit dem umfassenden Ganzen. Die am Wort ansetzende ‚freie‘ Assoziation ist alles
andere eher als frei, mit der strengen Determiniertheit viel eher der treffende
Index einer Wahrheit, über die wir nicht verfügen. Diese Verwobenheit ist ein Korrelat
subliminaler Wahrnehmungen oder den Klarträumen Tholays und LaBerges, die Resultat
einer willentlichen Bewegung im Seelenraum sind.
Benjamin
hatte in den Texten zum ‚Passagenwerk‘ die gesellschaftlichen Verhältnisse in
einer Form dargestellt, mit der Erfahrungen zugänglich wurden, die unterhalb
der Schwelle des diskursiven Denkens im Bereich einer präsentativen Symbolik
ihren Ort haben. Mit der Technik der darstellenden Konstellation entfernt diese
sich von den Sphären der Repräsentation und der Norm (klassischer Rationalismus
und hermeneutischer Historismus). Die konstellierende Darstellung arbeitet
nicht nur mit einem impliziten Wissen, sondern nähert sich über die
performative Präsenz dem Jetzt der Erkennbarkeit an. Die unter dem Einfluss des
Surrealismus modifizierten Wahrnehmungstechniken hebeln den Reizschutz des
Bewusstseins aus, ermöglichen also von Neuem kleine Schockimpulse und erweitern
damit das Erfahrungsspektrum. Manche Einsicht, die Benjamins esoterischer Sprachtheorie
zu verdanken war, erwies sich im Rahmen des materialistischen Ansatzes als
ungeahnt fruchtbar; heute wird sie durch Sinnenbewusstsein und
Bewusstseinsphilosophie in ganz andere Sphären transportiert. Jedes implizite Wissen ist tatsächlich nur ein
kleiner Ausschnitt aus einem Repertoire an Wissensweisen, dem wir uns
anvertrauen, wenn wir uns nicht darauf kaprizieren, überall ein „Ich-denke“
ranzukleben. Sennetts Schlussfolgerungen über das Handwerk lokalisieren handwerkliche
Techniken in eben diesen Zusammenhängen: Was wir gut können, können wir ohne
Überlegung. Nach Spaemann realisieren wir das Telos eines Verfahrens oder einer
Kunst, wenn wir dabei nicht mehr überlegen müssen, sondern handeln, als sei
dies zu unserer Natur geworden. Jede materialhafte Intelligenz, die auf Übung
und Gewohnheitsbildung beruht, bringt uns dazu, dem Werkzeug zu folgen, die
Kräfte, die in einem Gegenstand wirken, für uns arbeiten zu lassen. Gumbrechts
Ausführungen über die Verwirklichung der Präsenz im Sport unterstreichen diese
Denkvorgänge außerhalb des Kopfes und gehen sogar noch weiter.
Spielerische Übungen in gewissen gesellschaftlichen
Nischen mögen relative Verfügungen ermöglichen, aber gewöhnlich haben Aufschub
und Umweg das Leben vor einem Absolutismus der Wirklichkeit zu schützen. Das
einfachste Mittel jenseits der Intoxinierung ist noch immer, die unter der Haut
brennende Suche nach irgendwelchen Sinnstiftungen mit Geld in den Konsum umzuleiten.
Anspruchsvoller ist bereits die Repertoireerweiterung, dank der Logik des
Signifikantennetzes den gleichzeitigen Aufenthalt in mehreren Weltausschnitten zu
managen, also die Möglichkeit zu kultivieren, an Varianten zu arbeiten, die über
die Vorgaben der herrschenden Verhältnisse hinauszugehen. Dabei darf nicht
übersehen werden, warum die Erfahrung von Präsenz als bedrohliche Verausgabung
gefürchtet wird, die mit Hilfe von Bahnung und Wiederholung hinausgeschoben werden
muss. So ist eine zusätzliche Motivation vonnöten, wenn in einer vernagelten,
von Lüge und Verleugnung verstellten Welt auf einmal ein Halt in fremden
Wahrheiten gesucht werden soll. Mit Gumbrecht wird es gerade der Rückgriff auf
Erfahrungsformen der Präsenz sein, mit denen wir am Erhalt unserer Lebendigkeit
und Erfahrungsfähigkeit zu arbeiten beginnen. Weil wesentlich mehr Daten auf
uns einstürmen, als wir wahrnehmen können, wesentlich mehr an Wahrnehmungsgehalten
zur Verfügung steht, als uns bewusst werden kann, ist es eben der Aufenthalt in
mehreren Welten und die Abkürzung vorgegebener kultureller Umwege, die es mit
sich bringen, dass wir auf einmal sehen oder hören, was wir nicht wahrnehmen
sollen. Die Komplexität selbst kann dafür sorgen, uns in manchem Nu mit einem Bewusstsein
zu konfrontieren, das der Augenblick des Verfahrens den vorgegebenen Denkbehinderungen
abtrotzt. Die Plötzlichkeit liefert nicht nur entscheidende Kriterien der
ästhetischen Erfahrung, sondern auch die Voraussetzung einer Standleitung zur
Präsenz. Die Herausbildung von neuen Eigenschaften oder Strukturen eines Systems aufgrund
des Zusammenspiels seiner Elemente lassen sich nach der nüchternen und fantasielosen Philosophie des Geistes nicht auf isolierte
Eigenschaften der Elemente zurückführen, aber wundersamerweise erklärt sie
das im Tank vor sich hin rechnende Bewusstsein als
emergente Eigenschaft des Gehirns. Tatsächlich
gibt es unter der Wahrnehmungsschwelle ein gespenstisches Leben, das manches
über die gesellschaftlich entstandenen Verarbeitungskapazitäten des
Wegstreichens, des Auswählens und Zusammenfassens verrät. Es gibt kein
isoliertes Sinnesdatum, wie es keinen vereinzelten Gedanken gibt, sondern es
handelt sich immer um Netze, die mit anderen Netzen verknüpft sind, um mehr
oder weniger dichte, wolkige Gebilde – Emergenz ist das Resultat rekursiver
Schleifen und alternativer Verknüpfungen. Außerhalb des Lichtkegels des
Bewusstseins finden vor- und unbewusste Prozesse statt, die strukturiert sind
wie die Sprache und in ihren Grundlagen auf topologische und mengentheoretische
Gesetzmäßigkeiten zurückzuführen sind. Bereits als expressives System ist die
Sprache erst einmal Aufschub und Umweg, schon in diesen Anfängen bringt sie der
Präsenz einen Riss bei, der nicht mehr zu schließen ist und den Abstand zur
Materialität der Welt und zu den Dingen hinter der Verarbeitungsqualität der Armatur
unserer Sinne weiter vergrößert. Aber zugleich ist sie ein Medium der Bedingungen
und Möglichkeiten unserer Erfahrung mit den feinsten Unterscheidungen, in das
unsere Geschichte mit all ihren Variationen, Schattierungen und Aromen
eingegangen ist. Die Vergangenheit mag vergangen sein, aber sie ist jenseits
der Zeugnisse und Dokumente nicht nichts, weil ihre Folgen unsere Gegenwart und
sogar unsere Erwartungen an die Zukunft prägen. Das Gedächtnis kann irren, ja
sogar täuschende Erinnerungen produzieren, die lediglich auf fehlerhaften
Identifikationen und Verleugnungen beruhen. Erinnertes und Gewesenes müssen
nicht miteinander übereinstimmen, doch
die Kräfte des Gewesenen haben in den verschiedensten Medien und Materialien
Spuren hinterlassen, die in the long run selbst gegenüber bewussten Fälschungen
der Geschichte den längeren Atem beweisen. Auch wenn diese für uns nie
erreichbar ist, können wir von der virtuellen Präsenz eines tatsächlichen
Verlaufs ausgehen, die verschiedenste Interpretationen anzielen oder umkreisen
– eine Logik der Forschung grundiert bereits einfachste Versuche, sich in der
Welt zurechtzufinden. Je besser wir mit der Sprache umgehen, je selbstverständlicher
die immateriellen Bedeutungen werden, je weniger wird uns noch bewusst oder
erfahrbar, was die Materialität der Sprache und damit ihre Verhaftetheit in der
Welt ausmacht. Das uns vertrauteste, die Bedienungsanleitung der Waffensysteme
unserer Sinne, ist uns nicht bewusst, die Bedingungen der Möglichkeit unseres
Bewusstseins können wir erst im Nachhinein rekonstruieren – aber die
Gesetzmäßigkeiten der Entfremdung von aller Unmittelbarkeit taugen dazu, einer
potenzierten Entfremdung von der Entfremdung zuzuarbeiten. Auf einmal landen
wir für Augenblicke im Jetzt der Wahrnehmung, die bereits Wahrheit
transportiert. Der Ich-Hier-Jetzt-Index kann in extremen Situationen zur
Unmittelbarkeit der Präsenz führen. Wir brauchen nicht an Aphrodite – deren
erste Erscheinungsform älter war, als die Götter des Olymp – zu glauben, genau
so wenig wie die Griechen, das hat Bruno Snell überzeugend gezeigt. Es ist
völlig ausreichend, zu spüren wie sie wirkt, wie es nicht möglich ist, ihren
Einfluss in Abrede zu stellen. Die Schönheit hat auf der hormonellen Ebene eine
Wirkungsgewalt, die der einer stringenten Logik auf der Ebene der Argumentation
noch überlegen sein kann – die Schönheit einer/s Anderen außerhalb unseres
Gehirns vermittelt die Teilhabe an einer Harmonie! Die uns wirklich betreffenden
Wahrheiten sind eben nicht auf eine Funktion von Sätzen zu reduzieren!
Sozialer Tod, Initiation und Wiedergeburtsmetaphern
kennzeichnen einen Raum, in dem wir die Losgelöstheit von sozialen Bindungen
und Begrenzungen des kulturellen Kontextes erfahren; in manchen Fällen wird eine
Neuformatierung des psychischen Geschehens möglich. Praktisch ist der soziale
Tod das Resultat eines Ausgrenzungsverfahrens, das menschlichen Ausschuss
produziert, weil es an den Initiationsregeln fehlt. Die Restbestände der
menschheitsgeschichtlichen Routinen einer Selbstimmunisierung haben spezifische
gesellschaftliche Nischen geprägt oder tauchen ad hoc als glückliche Funde
Einzelner auf. Es gibt die nichtalltäglichen Erfahrungen des Glücks, des
Rausches, der Ekstase, des Einsseins mit der Natur oder dem Anderen, die ein
neues Verhältnis zum eigenen Leben und zur Welt eröffnen. Sie liefern eine einmalige
Erfahrung von Nähe und Ganzheit: Eine maximal unwahrscheinliche Begegnung, in
der die unmittelbare Präsenz eines Gegenübers in einem Nu in ihrer Einmaligkeit
erfahren wird. Im Verhältnis zu unseren täglichen Verpflichtungen, in denen die
Gegenwart des Anderen einer kategorialen Abwesenheit untersteht, landen wir in
einer Robinsonade des Hier und Jetzt – einer Insel in der Zeit, in der die Zeit
zwischen Erwartung und Erinnerung stillsteht. Und das ist alles nicht neu, es
soll nur nicht bewusst werden, weil es unser Funktionieren als Rädchen in einem
Räderwerk stören würde. Die von Descartes herkommende Reduzierung lebendiger
Vorgänge auf maschinelle Prozesse mag die Grundlage des wirtschaftlichen
Wachstums der letzten Jahrhunderte sein. Aber sie hat auch die nötige Technik
und entsprechende Freiräume geschaffen, in denen wir an lebenswichtigen
Repertoireerweiterungen arbeiten können. So, wie in den magisch ausgerichteten
Gesellschaften mit ihren Initiationsriten bereits bewusste Eingriffe in die
vitale Zuständigkeit des Menschen vorgenommen worden sind, haben diese Aufgabe
heute Blockbuster übernommen. Mit ihren Zitatzusammenhängen verabreichen sie eine
homöopathische Dosierung der letalen Zwänge, sorgen damit für die regelmäßig notwendige
Immunisierung gegen den Sog des Nichts. Während die nüchternen Alltagszwänge mit ihrer
Zweckrationalität ständig dafür sorgen, die großen Fragen des Lebens und die
damit einhergehenden Fraglichkeiten zu verdrängen, entstehen kleinere und
unverbindliche Ableger in den Asylen der Kunst oder Unterhaltung – dort können
sie in einer brutalen Glaubensintensität oder der Kraft einer überzeugenden
Präsenz zu neuem Leben erwachen. Kitsch und Pulp-fiction transportieren
theologische Fragestellungen weiter, die aufgrund ihrer für den menschlichen
Verstand unlösbaren Seinsmächtigkeit aus den gegenwärtigen Diskursen
ausgegrenzt worden sind. Technische Erfindungen sind selten Zufälle, sie sind
viel eher der fortschreitenden Entwicklung des Materials zu verdanken. Aber sie
sind immer auch symbolische Zusammenhänge, mit denen ungelöste Fragen wieder
neu angegangen werden. Die Ausdifferenzierung und Wirkungsmächtigkeit eines
Mediums folgt den Gesetzmäßigkeiten, die den inneren Bedürfnissen des
unermüdlichen Sinnsuchers, der der Mensch nun einmal ist, gehorchen. Nachdem
keine Metaphysik mehr die Sinnstiftung für unser Leben garantieren kann, ist es
die Technik, die zu einer neuen und unerkannten Metaphysik geworden ist, die
einen Wirkungsmechanismus unserer Welt zur Verfügung stellt und die symbolischen
Zusammenhänge in einer fast unmittelbaren Form vergegenwärtigt. Computer verwirklichen
ein digitales Alphabet, das in der Lage ist, das Reale durch digitale
Signalverarbeitung in seiner materiellen Zufallsstreuung zu manipulieren. Sie bearbeiten
Bilder, Worte und Klänge in der identischen Codierung, was die Schrift als
bisher umfassendste Technik der Objektivierung nicht kann und machen das
Individuelle speicherbar, damit aber wieder abruf- und bearbeitbar. Das wäre
gegen den Kittler von ‚Grammophon, Film, Typewriter‘ einzuwenden: Es geht nur
nebenbei darum, Sinnesdaten in Bits und Bytes zu verwandeln, viel eher darum,
flüchtige Augenblicke eines menschlichen Lebens festzuhalten, die
Inkommensurabilität des Lebendigen mit Sinn zu laden, über Speichermedien an
diesem Sinn zu arbeiten.
Doch
der evolutionäre Sprung, eine zeitlich beschränkte, kategorial einzigartige
Version eines unwiederholbaren Lebens mit der Lust am Widerstehen zu laden,
ergibt sich, ähnlich wie bei früheren Sprüngen, erst unter Schmerzen. Sie waren
das Resultat einer Verzweiflung, die uns von allem Trost verabschiedet, in
einer Haltung des Jetzt-kommt-es-auch-nicht-mehr-darauf-an, am Computer zurückgelassen
hat. Doch gerade weil die Maschine etwas kann, was unser sprachliches Vermögen
der Objektivierung nicht mehr einholt, beginnt das Lernvermögen einen mit der
Mensch-Maschine-Synergie einen Status der interesselosen Distanziertheit zu
erobern. Es setzt als wesentliche Voraussetzung die Fähigkeit frei, den Zufall
für uns arbeiten zu lassen und die Vielzahl der Welten wahrzunehmen, in denen
wir uns bewegen. Die Selbstbezogenheit eines mit seinem Nabel das Zentrum der
Welt beobachtenden Subjekts fällt weg – dafür lernen wir zu unterscheiden, ob standardisierte
Surrogate weiterhin unsere Kraft und Aufmerksamkeit beanspruchen dürfen, oder ob
wir in der Lage sind, uns den Ansprüchen einer unnachgiebigen, rücksichtslosen
Liebe zu widmen. Das ist kein harmloses Spiel: Es ist immer ein Duell, ein
Messen der Fähigkeiten, ein Auskitzeln und Wissenwollen, mit wem wir es
wirklich zu tun haben. Aber ohne diesen Todeslauf sind wir nicht in der Lage,
die Verlogenheit einer Friede-Freude-Eierkuchen-Mentalität aufzusprengen, familiäre
Abhängigkeiten hinter uns zu lassen, die in einer nicht-diskutierbaren
Konkurrenz zum Partner stehen. Die Fähigkeit, auf jemanden einzugehen, sich
ohne Netz und doppelten Boden seinem Urteil auszusetzen, setzt voraus, dass der
Ich bereits einen Prozess durchlaufen hat, in dem er sich von dem entfremdenden
Selbstbild, das ihm innerhalb der familialen Homöostase aufgedrückt wurde,
verabschieden konnte. Durch diesen Lernprozess entstehen Inseln in der Zeit,
Eklektizismen des Erkennens prägen die Gabe, zu verstehen, ohne den Partner
nach unseren Vorstellungen zu modellieren oder zu manipulieren. Wer sich als
Resultat der Beziehungsarbeit selbst genug ist, hat es nicht mehr nötig, sich
unter den entfremdenden Vorgaben eines Selbstbildes ständig mit anderen zu vergleichen
– das ist ein Wechselspiel: Erst wenn uns eine vorbehaltlose Aufmerksamkeit für
Augenblicke von der konfliktuellen Mimetik befreit, beginnen wir uns selbst
genug zu sein; erst nachdem wir uns völlig im anderen verloren haben, sind wir ohne
Vorbehalte oder insgeheime Strategien offen für eine/n Partner/in. Angepasstere
Variationen beweisen vielleicht, warum für ein verstümmeltes Ich die einzigen
Lüste noch die sind, die sich aus der Zerstörung und Unterwerfung der/s anderen
abziehen lassen. Oder sie empfehlen die kurzfristig harmlose aber längst nicht
ungefährliche Form, derzufolge es nachgemachte Menschen schaffen, durch
inhaltsleere Konventionen nebeneinander her zu leben, ohne sich erst auf die
Chancen und Risiken einer unter die Haut gehenden Beziehung einzulassen.
Fraglich
erscheint mir, warum Gumbrecht seine Präsenzerfahrung immer in einem Kontext
des Lesers, Betrachters oder Konsumenten zum Tragen kommen lässt – sie wird bei
ihm zu einem Lebenssinnsurrogat. Wenn ich gewisse Erfahrungen in-the-zone gemacht
habe, bin ich um mein Leben gerannt oder habe um einen großen Einsatz gespielt.
Im Augenblick verfügte ich über eine blitzschnelle Auffassungsgabe, die
körperliche Reaktionsfähigkeit war enorm beschleunigt – und zugleich stand ich
als interessierter Beobachter neben mir, schaute zu, wir der Musik wieder
einmal jemanden ins Leere laufen ließ, kommentierte das Geschehen im inneren
Monolog, vermittelt Einsichten und Tricks der Präsenz. Das konnte gelingen,
weil ich nicht mit mir allein und der Abwesenheit ausgeliefert war. Das
Erlebnis der Präsenz war im actus purus zu erfahren, weil die innige
Verschmelzung meines Körpers mit einem anderen Körper die Intensitäten eines
gemeinsamen Jetzt und damit Kräfte freisetzte, die mir als Einzelnem ohne
Eigentum nie gegeben worden wären. Diese Gesetzmäßigkeit macht nachvollziehbar,
warum Abwesenheitsdressuren der wesentliche Mechanismus zur Herstellung von
Subalternität und Untertanenmentalität sind. In den aktiven Fähigkeiten, an einer
Präsenz teilzuhaben, scheint ein wichtiger Unterschied zur
Lebenssinnersatzproduktion zu liegen, der nicht aus den Augen verloren werden sollte.
Die Präsenz, die der Sportkonsument vermittelt bekommt, ist ein Surrogat und
die der Kriegsteilnehmer, die begeistert in den Tod marschieren, eine Perversion
– aber beide verweisen auf ein Echtheitszertifikat, ohne das sie wirkungslos wären.
Noch die feinste Sublimation
geistiger Produkte ist auf materiale Trägerelemente angewiesen, die die Formen
vorgeben, in denen Informationen transportiert und im günstigsten Fall in
Kommunikation transformiert werden. Es ist die Materialität der Zeichensysteme,
die jeweilige Eigenart des Signifikanten, mit der wir mehr über die transportierten
Bedeutungen oder Signifikate erfahren, als durch die kodifizierten Konventionen
– auch hier gibt es nichts dahinter, die reinen Bedeutungen sind immer nur ein
Epiphänomen. Was liegt also näher als die These, mit dem aus den esoterischen
Traditionslinien entwendeten Symbolbegriff stehe eine Konzeption zur Verfügung,
mit der wir dank der Relationsmetaphysik mitten in der Materialhaftigkeit der
Welt landen. Das Zeichen mag in der Analyse Lacans selbst ein Motor der Abwesenheitsdressur
sein, der Begriff ein Mord an der Sache – wenn aber der Tod zugleich jenen
Aspekt der Lebendigkeit ausmacht, dem ihre Besonderheit, Unabhängigkeit,
Individualität zu verdanken ist, sollte die Verleugnung als Angstbewältigung
nicht das letzte Wort haben. Wenn für Lacan Feld der Sprache und mathematische
Topologie des Subjekts einen Symbolbegriff ergeben, der im strikten Gegensatz
zum analogischen Denken und in Ablehnung der Reduktion der Zeichenbezüge auf
einfache Signale konzipiert worden war, so stehen damit Handeln und Erkennen in
einer umfassenden Wechselbeziehung. Er nähert sich im erkenntnistheoretischen
Sinne einer trirelationalen, pragmatischen Zeichenkonstitution, wie sie von
Peirce entworfen wurde, um dann doch auf de Saussures Dichotomien zurückzugreifen.
Mit dieser Verkürzung gewinnen die Zeichen in der Sprache ihren Wert nur aus
dem wechselseitigen Verhältnis, sie resultieren aus der Abwesenheit der Sache,
prägen ein prekäres Verhältnis zur Präsenz. „Ich denke, wo ich nicht bin, also
bin ich, wo ich nicht denke.“ Diese semiologische Reduktion gibt sich mit einem
verkürzten Wirklichkeitsbezug zufrieden, verpasst die Einsicht, dass Sprache,
Sache und Handeln tatsächlich nur im Kontext verschiedener Thematisierungen der
Zeichenhaftigkeit zu verstehen sind. Nach Kampers Interpretation führt das
Schicksal des Subjekts zwischen der Kunst des Möglichen als Anpassung und der
Anstrengung, das Unmögliche zu begehren, auf die Notwendigkeit des Symbolischen,
die der Unmöglichkeit des Realen entspricht. Die Selbstbehauptung, das Reale
als das unbestreitbar Wirkliche anzunehmen, landet im zwingenden Verhängnis
eines Imaginären, während es als unmöglich Erfahrbares den kulturellen Umweg
über das Symbolische zu nehmen hat, um diskontinuierliche Brüche und Sprünge zu
Routinen einer klugen Lebenspraktik zu verwenden.
Die semiologischen
Theorien liefern keine zwingenden Argumente gegen den Aufenthalt in konstruktiven
Höhlen oder künstlichen Welten. Tatsächlich haben wir nur zu akzeptieren, dass
die Materialität der Welt nicht weniger aus triadischen Trichotomien zusammengesetzt
ist, als die Spiritualisierungen der Materie. Zeichen als Zeichen dieser Welt
sind graduell in ihrer Materialität verwurzelt. Die Eigendynamik des Alphabets
als Schriftsystem, das nicht mehr auf die Verkörperung der Vokale durch
Stimmton und Präsenz angewiesen war, erschwerte es in zunehmenden Maß, das
Schriftsystem selbst beim Vergessen seiner körperlichen Wurzeln zu ertappen – schließlich
setzte erst die Ausblendung der Materialität unser Kommunikationsmittel die
immaterielle Wucherung von Bedeutungen frei. Die Verdrängung der Körperlichkeit
der Zeichenphänomene markiert den Beginn der abendländischen Philosophie, an
dem Platon noch über die Ambivalenz klagen konnte, die Schrift bewirke die Minderung
des lebensdienlichen Wissens, weil die Objektivierung es erübrige, sich dieses
zu merken. Während er kritisierte, sie lege die Gedächtniskunst lahm, wird
zugleich deutlich, wie die Schrift dank der Speicherung und Erweiterung des
Wissens tatsächlich die abendländischen Episteme fundamentierte, ihm also mit
der auf Dauer gesetzten Archivierung eine relative Unsterblichkeit garantierte.
Komplementär dazu liefert die Fabrikation von
Präsenz den Standindex von Geltung und Selbigkeit – nur wenn wir das Hier und
Jetzt mit Geistesgegenwart laden, sind wir überhaupt in der Lage, uns auf die
Wirklichkeit einzulassen. Je mehr die Archive gewachsen sind, die Vorkämpfer
des Wissens entfernteste materielle und logische Provinzen erobert haben, die
Zugriffsweisen beschleunigt wurden, desto mehr wurden uns Zugriffsformen auf
die Wirklichkeit zur Verfügung gestellt. Mittlerweile setzt das Zeitalter der
Digitalisierung die Fähigkeit zu Selbstverantwortung und Eigenarbeit in einem
früher unbekannten Maß voraus. Denn nur unter dieser Voraussetzung werden in
den entscheidenden Situationen die richtigen Entscheidungen gefällt, für die
kein Chef und keine Hierarchie bürgen können, weil sie zu weit weg vom Schuss
sind. Die vorausgesetzte Informalisierung funktioniert allerdings nur,
wenn das notwendige Wissen und die entsprechenden Formen des Lernens verinnerlicht
worden sind – Strammsteher und Mitläufer werden auf diesen gesellschaftlichen
Level zu Ballast. Erst unter ähnlichen
Voraussetzungen ist der User in der Lage, sich auf Werte zu beziehen, die sich
der kreativen Eigenarbeit verdanken. Wir müssen für uns die verbindlichen
Bedeutungen geschaffen haben, mit denen es dann möglich wird, relativ sicher in
den Weltzusammenhängen der Information zu navigieren. Im besten Fall profitieren
wir also von den wirtschaftlichen Forderungen eines Zeitalters, das für seine
Zukunft auf Präsenz und Geistesgegenwart angewiesen ist. Unterhalb
der Verführungsmacht der Bilder gibt es einen bilderlosen Fundus der
Geistesgegenwart, aus dem alle kreative Eigenarbeit gespeist wird. Impulse und
metonymische Verweisungen setzen menschliche Möglichkeiten frei: Zur Lippe hat
mit den Techniken des Sinnenbewusstseins verschüttete Wege zu einem Fühlen,
Handeln und Denken in kreisförmigen Bewegungen gezeigt; Macho hat anhand von
'Todesmetaphern' vorgeführt, was Kreativität als Umkehrung eines verdrängten
Opferkultes leistet; Sloterdijk hat die Aufdeckung der Leibhaftigkeit des
Denkens vorgeführt; Kamper rehabilitierte die Einbildungskraft. Das zugrunde liegende
Schema ist nicht auf Interpolationen beschränkt, mit denen wir unsere
geschichtliche Erfahrung herstellen. Gerade in den medialen Zusammenhängen gibt
es eine Zeiterfahrung, die von der Differentialrechnung imprägniert worden ist.
Unsere Gegenwart ist kein alleiniges Resultat der Vergangenheit, sondern sie
hängt an einem teleologischen Index, der aus der Zukunft auf uns zu kommt. Wenn
wir die nötigen Informationen in die digitalen Prozesse einer Turing-Maschine
einspeisen, wird die Eigenzeit in beide Richtungen durchlässig.
Das Symbol,
das genau das ist, was es repräsentiert, vermittelt ein unmittelbares
Einswerden von Wissen und erkanntem Gegenstand. Im Rahmen positivistischer
Forderungen an die Wissenschaft ist dieser Symbolbegriff nicht einzulösen, dagegen
entlässt ihn die für ein Verhältnis der Geschlechter nötige Beziehungsarbeit in
die Wirklichkeit. Die Erfahrung des Symbols verfügt über eine gedoppelte Perspektive,
offenbart eine Aktivität und Passivität verschmelzende, androgyne Wahrheit.
Noch für den jungen Nietzsche kennzeichnet die Schönheit das Weltbild der griechischen
Tragik, weil sie das Leben mit der Verzweiflung versöhnt – dabei ist nicht
allein an das Scheinen der Idee (Hegel) oder an die Brücke zur Ewigkeit (Plotin)
gedacht. Wir verdanken diese Augenblicke nach Nietzsche der Gnade jener göttlichen
Gewalten, die sich in einer Wahrnehmbarkeit materialisieren. Durchaus
vergleichbar ist die Erfahrung des Ich in der Katastrophe auf genau jenen
Quellpunkt der Macht bezogen, an dem die traumatische Belastung zu einer
extremen Aktivierung des limbischen Systems führt, vor allem der Amygdala, die
eine wesentlich enerviertere Aufmerksamkeit und sensiblere Reaktionsformen als im
normalen Alltag bewirkt. Die dem
sensorischen Bombardement und der Reizüberflutung verdankte Selbstlosigkeit eines
Ich begegnet der Konstitution eines Gottes: Gott ist ein Peptid! Doch diese aus
einer Kette von Aminosäuren bestehenden Proteine sind auf Botenstoffe
angewiesen, biogene Amine wie das Dopamin wirken als Neurotransmitter im
Nervensystem. Alles erscheint dann höchst bedeutsam, je nach biographischen
Voraussetzungen mit dem Ergebnis von Euphorie oder psychotischen Schüben, extrem
gesteigerter Libido oder Zwangshandlungen, der Verwandlung der Umgebung in eine
Welt voller Symbole, die in einer Hochstimmung beglückende kreative Schübe freisetzen
oder eine überzogenen Religiosität, die sich durch Opferverhalten und
Selbstkasteiung zu stabilisieren versucht. Nichts davon ist auf meinem Mist
gewachsen, doch besonders alt ist die Einsicht, dass es jene Schönheit ist, die
den Vollzug und die Verheißung nicht nur verspricht, sondern befördert: Der
Neurotransmitter Dopamin kurbelt nicht nur das sexuelle Begehren an und das
Verlangen nach einem Andauern und Steigern der Lust, sondern verstärkt die
Ausschüttung des Neuropeptids Oxytocin, das zusammen mit dem verwandten
Vasopressin den Abbau von Anspannung und Belastung befördert, indem sie das Stresshormon Kortisol
beseitigen. Entscheidend ist an diesen Wirkungsgewalten, dass ein guter, auf
gemeinsame Orgasmen abgestimmter Sex die Aktivierung der Amygdala angesichts
angsteinflößender Signalsysteme und Erfahrungen unterdrücken kann, dass er die Einfühlungsgabe
in die Gemütslage des/der Partner/in erhöht, Vertrauen und Verbundenheit
bewirkt. Die sexuelle Verkörperung des Symbols ist in der Lage, uns für
Augenblicke der Unendlichkeit einer unfassbaren Totalität mit den göttlichen Strömen
kurzzuschließen. Der Realismus eines Symbols, das keine toten Erinnerungen mit
archetypischen Bedeutsamkeiten füllt, keine allegorischen Verweise für den
Begriff bereitstellt, liefert die konkrete Sprache für die Erfahrung einer Vereinigung,
dessen mühsamer und ausgedünnter Abklatsch dann in den Abstraktionsformen des Allgemeinen vermittelt wird. Während Ricœur an hermeneutischen Unterscheidungen von
Metapher, Metonymie und Symbol laboriert, konstatiert er, dass Symbole in einem
vorlinguistischen Boden verwurzelt sind; sie sind langlebiger als die Metapher,
weil in ihnen dauerhafte Gegebenheiten des Lebens, des Gefühls und des Universums
heimisch sind. Symbole des Heiligen – das nach Eco per definitionem unaussprechlich
ist und deshalb immer wieder zur Sprache gebracht wird, das zu den
unsichtbarsten Dingen überhaupt gehört und deshalb das Bedürfnis freisetzt, es
zu sehen – sind an eine Ganzheitserfahrung des Kosmos gebunden, während
Metaphern freie Erfindungen innerhalb eines Diskurses sind, das Gleiten der
Metonymie entlang von Bedeutungsverschiebungen aber an den Ganzheitserfahrungen
partizipiert.. In der psychoanalytischen Interpretation entsteht das Symbol in
der Traumarbeit an der Gabelung von Trieb und Diskurs, also an der Grenze
zwischen Bios und Logos, während die Metapher ins gereinigte Reich des Logos gehört.
Obwohl die Metapher semantische Synthesen des Symbols repräsentieren kann, geht
das Symbol eben nicht ganz in Metaphern auf; es transportiert neben den
sprachlichen auch nichtsprachliche Aspekte einer ursprünglichen Einheit, deren
implizite Semantik erst durch die Metapher zur Sprache zu bringen ist. In
unsere Zusammenhänge übertragen strebt das Symbol nach keiner idealen Sphäre,
die uns für die prosaische Unwirtlichkeit unserer Welt entschädigen soll oder
die Flucht in die Abseitigkeiten des schönen Scheins anbietet, sondern ganz realistisch
beschreibt das Symbol die lebendige Offenbarung des Unergründlichen. Es ist in
der Lage, uns die Augen zu öffnen für das, was in Wahrheit ist – für die
Erfahrung, wie das Unergründliche in den gemeinsamen Orgasmen vom Unergründlichen
erfasst werden kann. Die unergründliche Gabe des Menschen ist die Liebe – aus
diesem Grund wird gerade in verschiedensten Texten, die sich der Affirmierung
der Institution Kirche widmen, an jene Stelle der Heiligen Schrift verwiesen: „Was bleibt sind Glaube, Hoffnung und Liebe. Doch am
höchsten steht die Liebe“. Das ist der auf einen Felsen gebaute Betrug,
der die Liebe in jener Verleugnung beschwört, die ägyptisch inspiriert, das
Leben durch Versteinerungen vor dem Verlöschen zu retten vorgibt, sich aber
tatsächlich einer Angst vor aller Lebendigkeit verdankt. Wenn Nietzsche das
kulturelle Gedächtnis auf den Schmerz einer gewaltsamen Einschreibung zurückführt,
so bietet die komplementäre, körperliche Beziehungsarbeit einen stimmigen
Ausweg an: Jeder gemeinsame Orgasmus befreit von diesem Schmerz gestauter
Bindungsenergien, macht zugleich in der Erfahrung des Paars die der Präsenz als
Intensität erfahrbar, in den Kontakten eines Haut-Ichs genießbar. Wenn das
Gut-dass-es-dich-gibt stärker wird, als der kleinliche Egoismus des
Selbsterhaltungstriebs, setzt das Kraftwerk der Liebe Energien frei, die mit
dem Vermögen der Präsenz noch ganz andere Merkfähigkeiten bewirken. Göttliche Energien
resultieren aus der Intensität der unmittelbaren Erfahrung. Wenn wir dem
Schaukeln des Augenblicks hingegeben sind, uns selbstvergessen im Behagen des
Hier und Jetzt bewegen, geht die Zeit verloren, für Augenblicke haben wir mit
Huxley das Paradies wiedergewonnen. Es ist
erstaunlich wie dessen buddhistische Einflüsse einer Relationsmetaphysik
nahekommen, in der der Zeitverlauf die Innenseite der Wirklichkeit nach außen
zu drehen in der Lage ist, wenn das Maß der Dauer paradoxerweise zur unendlich
stetigen Vertiefung des Augenblicks wird. Tatsächlich bringt erst die Verleugnung unangenehmer
Wahrheiten jene Fixierung an die Vergangenheit mit sich: Wer die ganze Zeit nur
vorgeben muss, wie selbstbestimmt und stolz und befriedigt und erfolgreich das
Leben bewältigt wird, untersteht dauernden Gesetzmäßigkeiten der Abwesenheitsdressur.
Dann ist für die mit einer/m Partner/in geteilte Gegenwart wenig Kapazität
frei, der Wiederholungszwang reproduziert in Gegenwart und Zukunft nur immer
vergangenheitsverhaftete Fixierungen in der Form von Surrogaten. Dagegen
resultiert die Präsenz aus selbstverständlichen Routinen, die in jene Zeit vor
dem konsistenten Ich zurückreichen, obwohl sie den körperlichen
Reaktionsformen, dem Flow beim Aufgehen in einer eingeübten Tätigkeit, zu verdanken
sind. Wenn wir „in the zone“ in der Lage sind, nicht zurück zu schauen und
nichts zu erwarten, ergibt sich eine Kapazität des Lassen-Könnens, eine unangestrengt
schwebende, nicht gerichtete Aufmerksamkeit und damit die Fähigkeit, an keinem
Augenblick zu haften, keine objektivierende, mortifizierende Vergegenwärtigung
im Hier und Jetzt nötig zu haben. Eben das lehrt uns jeder zu einer gemeinsamen
Entgrenzung ausufernde Orgasmus. Das sympathetische Fluktuieren des
Signifikantennetzes liefert eine Aktualisierung jenes uralten
Menschheitswissens, das noch vor der Schrift Erzählungen zu verdanken war, ohne
Abgrenzung der Generationen, niemals eindeutig und identisch, die sich jeweils
den aktuellen Erfahrungsmustern anschmiegten.
Das mit der
Heilsbotschaft Lacans konzipierte volle Sprechen ist vergleichbar der in diesen
Zusammenhängen entstehenden symbolischen Rede: Für ihn gibt es nichts
Eigenständiges an Wahrheit außerhalb unser sprachlichen Äußerungen. Einzig das
hier und jetzt gesprochene Wort bezeugt in der talking cure der
psychoanalytischen Situation die Wahrheit des Ereignisses, ist damit begründet
mit der Gegenwart eines Sprechens, das ein Sprechen zu einem anderen ist.
Benjamin ging von einem Zeitkern der Wahrheit aus, der sich als Schlüssel historischer
Fraglichkeiten anbietet, denen ein kathartisches Zitat Gerechtigkeit und
Versöhnung wiederfahren lässt. Durchaus vergleichbar bindet Lacan Wahrheit an
das Hier und Jetzt einer gegenwärtigen, sprachlich strukturierten Situation. Der
Zeitkern des Subjekts und seiner Geschichte erschließt sich einem Akt der
Unterbrechung; das Lesen der Bilder des Imaginären ist ein aktiver,
umgestaltender Prozess, der das Begreifen im rechten Augenblick stillstellt. Tatsächlich
geht es auch bei den damit verbundenen sprachlichen Mitteilungen nicht um
Informationen, sondern als volles Sprechen um die Annäherung an eine Enthüllung,
eine Performation der entsprechenden Wahrheit in der Rede. Wenn Redende selbst
sind, wovon sie sprechen, werden sie mit den Winken des Körpers in der
Intensität des Augenblicks jenseits der dementierenden Veranstaltungen des
Bewusstseins in einer spezifischen Medialität präsent. Wie die indexikalische
Geste verweigert diese jegliche Erklärung, wird mit der Ablehnung subjektiver
Selbstdarstellungen in ein Spannungsfeld versetzt, in dem das Bedürfnis sich auszudrücken
durch das nach Authentizität gelöscht wird. Eine symbolische Handlung
verkörpert, was uns umtreibt, der ganze Körper spricht, das Gesicht wird lesbar
– das macht das Lesen hin und wieder sehr gefährlich. So wie die Musik selbst
ist, worüber sie spricht, wird die Präsenz nicht bezeichnet, sondern gegenwärtig.
Die
Fähigkeit, sich auf die Arbeit der Sinnensysteme einzulassen, sich von ihr
tragen zu lassen, liegt erst einmal diesseits der Hermeneutik, wie auch die umfassenden
Zeichenprozesse nicht einfach auf die Semantik reduziert werden können. Vom
Ergebnis her haben wir allerdings den Sinn, stellt sich die Bedeutung ein, die
nun rückwärts buchstabiert werden kann und in diesem Nachvollzug zu den Wahrheiten
jenseits von Unredlichkeit, Lüge und Verleugnung führen. Was Aleida Assmann als
„Mystik der Moderne“ bezeichnet, tauchte in der Sprachphilosophie und
Kunsttheorie auf, um nach und nach die Relevanz für Sinnenbewusstsein,
Geistesgegenwart und Präsenz zu erweisen. Thematisiert werden
Ausdrucksphänomene und eine Form der Wahrnehmung, die auf die Sprache der Dinge
gerichtet ist. Die Konzeption der Sprache als ein immanentes und
konventionelles System untersteht der Rationalisierung, doch auf der Rückseite
dieser Auffassung blieb eine unvermittelte Wirklichkeit als mystische Sphäre verborgenen
Seins erahnbar. Tatsächlich aber gibt es noch ein Drittes, das diese starre und
trennende Entgegensetzung aufhebt und vermittelt: Performation, alle Arten von
Ausdrucksphänomenen. Die Dinge der Welt haben ein Gesicht, nicht nur die
Menschen haben eine Physiognomie, sondern alles kann uns berühren und anschauen.
Ein ursprüngliches Lesen, das noch vor der Sprache entstanden ist, weil unsere
Körper ein Teil dieser Welt sind, ist in Aromen und Spuren zu erfahren.
Dabei
sollte nicht übersehen werden, dass es der Ausdruckstheorie eines Bühler oder
Klages um Bedeutungen geht, der Ausdruck ist eine semantische Kategorie –
während Benjamin mit Ausdruck, Name und Idee Verweisungszusammenhänge innerhalb
der Sprache kennzeichnet, die auf syntaktischen Beziehungen beruhen, auf ein
Jetzt der Erkennbarkeit bezogen sind: Die Deixis arbeitet sich an der
unsinnlichen Ähnlichkeit der Verweisungszusammenhänge ab. Ein Index ist in
letzter Hinsicht, auch wenn er als Index eines Indexes eines Indexes ad infinitum
wirkt, ein Verkehrszeichen in der materiellen Vorgegebenheit der Welt: Das
Da-Da-Da krallt sich am Gegenstand fest. Der Leib verbürgt die Geistesgegenwart,
der Standindex des Ich, Universalsignifikant und Index in einem, ist das Jetzt
im Sinne eines ekstatischen Zeitverhältnisses, die Idee schließlich die
Generalisierung dieser unsinnlichen Ähnlichkeiten. Gumbrecht beklagt den vollständigen
Mangel an Begriffen, die es uns gestatten, mit der Materialität der
Kommunikationsmittel umzugehen, um die Formel »Produktion von Präsenz« mit
Hilfe der entsprechenden Terminologie zu entfalten. Er betont, dass das Wort
»Präsenz« in diesem Zusammenhang vor allen Dingen im Sinne einer Bezugnahme auf
Räumliches aufzufassen ist. Was uns präsent ist, befindet sich (ganz im Sinne
der lateinischen Form prae-esse) vor
uns, in Reichweite, für unseren Körper greifbar. In ähnlicher Weise verwendet
er das Wort »Produktion« gemäß seiner etymologischen Bedeutung. Producere heißt buchstäblich
so viel wie vorführen oder nach vorn rücken und damit streicht die Formulierung
»Produktion von Präsenz« heraus, dass der von der Materialität der
Kommunikation herrührende Effekt der Greifbarkeit und Berührbarkeit zugleich
ein in ständiger Bewegung befindlicher Effekt ist. Hervorgehoben wird also die
Performativität einer Begegnung und damit das Ereignis, in dem Subjekt und
Gegenstand für einen Moment zu einer Einheit zusammentreten. Schon Benjamin hat
im Rahmen seiner materialistisch umgesetzten Erkenntnistheorie gezeigt, wie die
Taktilität andere Erkenntnisformen aufschließt. Sie ist den Erfahrungen in der
Zerstreuung gewachsen, weil hier die Trennung von Subjekt und Objekt in einem
Kontinuum von Impulsen aufgehoben wird: Reiz und Reaktion erscheinen als
unvermittelte Einheit. Die Produktion von Präsenz impliziert den Einfluss des
von den Kommunikationsmitteln herkommenden Effekts der Greifbarkeit und
Ergriffenheit durch im Raum stattfindende Bewegungen zunehmender oder
abnehmender Nähe und Intensität. Jede Form von Kommunikation impliziert eine
solche Produktion von Präsenz, berührt durch ihre materiellen Elemente die
Körper der kommunizierenden Personen in spezifischer und wechselnder Art und
Weise – dieses Faktum ist von der abendländischen Theoriebildung vielleicht
schon dank seiner Trivialität ausgeklammert und schließlich aufgrund der Nähe
zu den verschiedensten Ketzererfahrungen vergessen worden. Wer tatsächlich
mehr über die Erfahrungsformen der Präsenz wissen will, ist notwendig auf jene
begriffliche Tradition angewiesen, die sich seit der aristotelischen Philosophie
mit Substanz und Raum befasst. In der Nikomachischen Ethik lautet die grundlegende
Konzeption „energeia“, die wirkende Kraft, die sich in jeder Aktivität äußert. Jedes
Streben ist eine mehr oder weniger genaue Ausrichtung auf die Vollkommenheit. In
ihrer Bewegung ist sie eben noch unvollkommen, denn die vollkommene Aktivität
ist eine ohne Veränderung oder Bewegung. Proportional entsprechen Bewegung und
Zeit einander, deshalb ist Vollkommenheit eine Aktivität jenseits der Zeit, ein
Nicht-Tun. Die Lust beruht für Aristoteles auf einer unbehinderten Aktivität
der leiblichen Sinne, die keine Veränderung nötig hat, denn den Sinnen fehlt nichts,
das ergänzt werden müsste, um sie zu vervollständigen. Ein lustvolles Ganzes wird
zu keiner Zeit vollkommener, nur weil die Lust länger andauerte, deshalb findet
sich die Glückseligkeit jenseits der Rastlosigkeit. Zum Maßstab einer vollkommenen
Aktivität wird damit eine den Lebenssinn tragende Lust. Die unentwegten
Versuche, Vermögen zu bilden, Macht auszuüben, sind Ersatzleistungen für den
Mangel an Erfüllung, also eine dauernde Resonanz der Befriedigungsunfähigkeit. Wenn
überhaupt etwas Wert hat, dann nicht, weil es zu beweisen oder zu erobern ist.
Wenn es einen Gradmesser gibt, mit dem dieser Wert eingeschätzt oder geschätzt
werden kann, dann stellt ihn die dem Körper eigene Säftelehre bereit. Die
Energeia liefert in gewissen Augenblicken ein verkleinertes Modell der für den
Menschen unerreichbaren Wahrheit – auch wenn es nur ein Modell ist, so prägt es
doch eine Methode, sinnvoll mit der zur Verfügung stehenden Zeit umzugehen. Aus
Angstbewältigung ein System von Verführungen und Ersatzbefriedigungen zu
akzeptieren, gehört sicher nicht dazu.
Wobei
mit Gumbrecht nicht extra betont werden muss, warum die Wiederentdeckung von
Präsenzeffekten und das Interesse an der Materialität der Kommunikation, die
Produktion von Präsenz also keineswegs die Dimension der Interpretation und
der Sinnproduktion abschafft. Der Bezug auf ein Diesseits der Hermeneutik steht
quer zur Tendenz, die Materialität des Signifikanten in einer Sinnkultur zu vernachlässigen.
Obwohl die triadische Zeichenkonzeption eines Peirce den Materialcharakter
eines Zeichens, seinen Weltbezug und den semantischen Rahmen, gleich gewichtet,
hören Materialität und Weltverhaftetheit des Zeichens in den über Jahrhunderte
geprägten Gewohnheitsmustern auf, Gegenstand der Aufmerksamkeit zu sein, sobald
der zugrundeliegende Sinn identifiziert ist. Der Beschleunigung unserer
Zeitverhältnisse verdanken wir das immer schnellere Vorbeihuschen der konventionalisierten
Einheiten des Sinns, je weniger wir uns um die Eigenheit des Zeichens kümmern –
aber auch die umgekehrte Erklärung stimmt: Je weniger wir auf die Materialität
der Zeichen achten, je schneller geht die Zeit vorbei. Deshalb wird der Weltzugang
im Laufe der letzten zweitausend Jahre immer ausgedünnter. Der Motor unserer
Weltflüchtigkeit wird von jener Separatwelt der Bedeutungen befeuert, die den
Verführungen und Intoxinierungen perverser Ideologien ausgesetzt ist.
Gumbrecht
bezieht eine sehr viel weniger vertraute Form des Zeichens ein, die mit Hilfe
des typologischen Gegensatzes zwischen Sinnkultur und Präsenzkultur besser
vorzustellen und verständlich zu machen ist. Sie ähnelt der aristotelischen
Zeichendefinition, wonach ein Zeichen die Verknüpfung einer Raum verlangenden
Substanz mit einer Form ist, die es der Substanz ermöglicht, wahrgenommen zu
werden. Dieser Zeichenbegriff unterliegt noch nicht der Konzeption einer
intelligiblen Sphäre, sondern ist ein Teil der Welt, in der sich die Menschen
bewegen. Für ihn existieren die beiden Seiten dessen, was im Zeichen zusammengebracht
wird, nicht im Sinne der Unterscheidung zwischen dem rein Geistigen und dem
rein Materiellen. Das passt in den Rahmen seiner Unterscheidung von Leib und
Seele, wobei sich die Seele aus zwei Teilen zusammen setze, deren einer als
Geist vernunftbegabt sei, der andere zwar nicht an sich, aber immerhin fähig,
auf die Vernunft zu hören: Der erste äußere sich im Überlegen und Erkennen, der
andere Teil zeige sich im Begehren und Streben. Der Körper ist seinem Werden
nach früher als die Seele und stellt als erstes Forderungen. Er unterliegt
einer Formung, muss umsorgt, um der daraus folgenden Differenzierungen der Seele
willen, konditioniert werden. Es ist nur stimmig, wenn es unter diesen
Voraussetzungen beim Zeichenbegriff keine Seite gibt, die verschwinden wird,
sobald der Sinn gegeben ist. Die Reichweite des aristotelischen Zeichenbegriffs
beschreibt eine Welt der Präsenzkultur, in der die Menschen in ein Verhältnis
zur sie umgebenden Kosmologie treten, indem sie als Körper in die Rhythmen
dieser Kosmologie eingeschrieben sind. Der Wunsch, diese Rhythmen aus dem
Gleis zu bringen oder zu verändern, gilt in einer Präsenzkultur als Zeichen
menschlichen Wankelmuts, unbeabsichtigte Veränderungen als eine Form von
Verfehlung und Sünde. In einer Sinnkultur hingegen halten die Menschen die
Verbesserung und Verschönerung der Welt tendenziell für ihre wichtigste
Aufgabe, die Vergrößerung und Beschleunigung, die Steigerung um der Steigerung
willen, werden zu Surrogaten des verabsolutierten Sinns. Dem Handlungsbegriff
der Sinnkultur kommt in einer Präsenzkultur der Begriff »Magie« nahe, also die
Praxis des Präsentmachens abwesender Dinge oder die der Entfernung präsenter
Dinge. In diesen Zusammenhängen kann die Seele bereits als Funktion begriffen
werden, nicht als Substanz, sondern als relationales Geschehen der
Wechselwirkung, die in den Prozessen der Anverwandlung oder der Überschreitung
zuhause ist. Diese Magie setzt keinen Besitzanspruch, keine Verdinglichung des
Geschehens voraus, sie verlässt sich nie darauf, auf einem von Menschen
produzierten Wissen zu beruhen, sondern sie erfordert, sich auf ein Geschehen
einzulassen, weil Geist und Natur als notwendige Einheit erfahren werden. Die magische
Praktik scheint einer Partitur zu folgen, um entsprechend der Rhythmen
gewähren, mittels der mimetischen Anverwandlung geschehen zu lassen. Sie macht also
dank der subliminalen Partizipation präsent, was zu den unveränderlichen
Bewegungen einer Kosmologie gehört, als deren Bestandteil sich Menschen in
einer Präsenzkultur selbst empfinden. Kamper weist darauf hin, dass mit dem
Mimesisbegriff bereits die Technik der Vorahmung auf den Nenner gebracht wurde,
also das Vermögen, mittels körperlicher Gesten eine Wirkung zu erzielen. Aus
diesem Grund sind magische Praktiken, die einer sehr tiefen Handlungs- und
Ausdrucksebene des Menschen angehören, ständig an der Erzeugung von Wirklichkeit
beteiligt.
Wie
in verschiedenen Zusammenhängen angedeutet, hatte Benjamins Relationsmetaphysik
mit der Thematisierung der Sprachmagie Erfahrungen zugänglich gemacht, die
unterhalb der Schwelle des diskursiven Denkens im Bereich einer präsentativen und
performativen Symbolik ihren Ort haben: Der vielfältigen Ausarbeitungen
unterstellte Symbolbegriff ist immer an einer Organisationsform von Präsenz ausgerichtet:
In den frühen Arbeiten ist es die Idee als totalisierter Verweisungszusammenhang,
zur Zeit des Trauerspielbuchs die sprachliche Vergegenwärtigung der Sache
selbst, während der materialistischen Fundierung des Passagenwerks die Konzeption
einer durch den Körper geleisteten Geistesgegenwart. Mit der Technik der
darstellenden Konstellation entfernt sich die Organisation von Erfahrung von
den Sphären von Repräsentation und Norm, sie nähert sich über die performative
Präsenz dem Jetzt der Erkennbarkeit an. Eine Kritik der Repräsentation als
Perversion setzt bereits am Sündenfall der Sprache an, deren Verweisungszusammenhänge
zugunsten kodifizierter Bedeutungen aufgegeben werden; sie reicht bis zur
Kritik der Repräsentation des politischen Systems einer formalen und parlamentarischen
Demokratie, deren Rechtsbegriff sich zugunsten der Mehrheit von dem der Gerechtigkeit
verabschiedet hat. Es ist ein wesentlicher Unterschied, ob man von
Gerechtigkeit als einem System der Rechtsprechung oder als einer
rechtsprechenden Macht ausgeht. Gegen diesen Widerspruch in den Fundamenten des
Rechts ist auf andere Wahrnehmungsweisen zurückzugreifen. Psychoanalytische
Schlussformen oder die unter dem Einfluss des Surrealismus modifizierten
Wahrnehmungstechniken hebeln den Reizschutz des Bewusstseins aus, ermöglichen
also von neuem kleine Schockimpulse, erweitern damit das Erfahrungsspektrum
durch taktile und visuelle Tiefenschichten des Unbewussten. In diesen Rahmen
fügt sich selbst seine Beobachtung ein, dass Manie und Sucht in einer undurchschaubaren
Wirklichkeit das Leben durch Ritual oder Droge erleichtern, weil sie eine Pragmatik
befördern, die die notwendige Komplexitätsreduktion bewerkstelligt.
Für
das von Cassirer thematisierte mythische Denken ist der Körper das Koordinationszentrum
der Welt; für Gumbrecht wird eben dieser in einer Präsenzkultur der wichtigste
Gegenstand des Selbstbezugs. Schon aus diesem Grund muss der Raum, als jene
Dimension, die sich im Umkreis der Körper konstituiert, der eigentliche Bereich
sein, in dem das Verhältnis zwischen verschiedenen Menschen und das Verhältnis
zwischen den Menschen und den Dingen dieser Welt ursprünglich austariert
werden. Dagegen sorgt die Unüberschaubarkeit einer komplexen Welt mit ihren
selbstlaufenden Funktionen und unerkennbaren Strukturen für eine Domestizierung
durch den Sinn, sie werden um ihre Komplexität reduziert – auch wenn wir dabei Gefahr
laufen, uns um die Möglichkeiten authentischen Erfahrens zu betrügen. Wenn also
die Materialität des Signifikanten in einer Sinnkultur aufhört, Gegenstand der
Aufmerksamkeit zu sein, sobald der von ihm transportierte Sinn identifiziert
ist, so deutet sich schon hier die Möglichkeit an, einen kleinen Grenzverkehr
zu kultivieren. Denn wenn der Raum die maßgebliche Dimension ist, durch die in
einer Präsenzkultur das Verhältnis zwischen Menschen, d.h. zwischen
menschlichen Körpern konstituiert wird, wird nachvollziehbar, wie die Präsenz
sich durch Momente der Intensität entfaltet. Primäre Wahrnehmung ohne die
Filtersysteme des Sinns wird zu einer einmaligen Operation mit Ereignischarakter,
weil sie noch nicht durch eine vorgegebene Differenzierung in eine Schablone
gepresst und damit wiederholbar geworden ist. Wir erfahren uns im flow besonders
deutlich, wenn wir einen hohen Grad des Funktionierens eines unserer
allgemeinen kognitiven, emotionalen und physischen Vermögen spüren. Der
Unterschied, den diese Momente ausmachen, beruht auf etwas Quantitativem – und
passt gut zu Gumbrechts Argumentation, den quantitativen Begriff »Intensität«
mit dem in dem Wort »Momente« enthaltenen Bedeutungselement zeitlicher Fragmentierung
zu verbinden. Es gibt jenseits der Intoxinierung keine zuverlässige, keine
verbürgte Möglichkeit, Momente der Intensität hervorzurufen, sondern sie
ereignet sich aus einer Unverfügbarkeit heraus. Es ist sinnlos, an ihr festzuhalten
oder ihre Dauer zu verlängern, denn die Plötzlichkeit
als spontaner Einbruch einer anderen Seinsordnung und die Selbstentgrenzung, die
Überwindung der persönlichen Gewohnheitsmuster in einem ozeanischen Gefühl,
unterstehen keinem Wollen, sondern erwarten ein Gewährenlassen. Vielleicht sehnen
wir uns eben deshalb nach solchen Momenten der Intensität, weil sie keine
erbaulichen Inhalte oder kategorischen Effekte zu bieten haben! Sie nehmen uns
mit, ersparen die Frage nach dem Sinn, die vollendete innere Leere liefert die Armatur für die
Entfremdung von der Entfremdung – als Folge der Distanz zum vereinfachenden
Blick der Gewohnheit. Solche Augenblicke der Intensität prägen eine sinnliche
Evidenz; sie springen aus dem Gleis der Zeit, dehnen sich zur Ewigkeit in einem
Raum, der dank der unendlichen und
stetigen Vertiefung des Augenblicks alles zugleich beherbergen kann. Ihr
Merkmal ist die Unverfügbarkeit, entsprechend jener Zeitlosigkeit kann man sie nicht
bewusst und zielorientiert beeinflussen. Die Kunst besteht darin, sich bereitzuhalten
für die Harmonien einer kosmischen Teilhabe, für die unmittelbare Erfahrung
des Mitklingens, des Gewahrwerdens eines anderen, immer wieder ungewohnten
Ausdrucksgeschehens. In diesen Augenblicken steht die Kürze der Empfindung in
einem gewaltigen Missverhältnis zur Umfassendheit des universalen Einblicks.
Im Anfang
unserer Welt finden wir die Distanzleistung gegenüber der Überwältigung durch
affektive Impulse – ein Motor der Kultur ist die symbolische Verlängerung und
Pufferung des Reflexbogens. Bilder und Symbole entstehen
als performative Akte, mit denen das Ich seine Erregung ausdrückt und zugleich objektiviert. Das
Gedächtnis speichert zum einen die phobischen Reflexe, zum anderen die sprachlichen
und bildhaften Ersatzproduktionen, die als Kompromiss- und Abwehrfiguren
fungieren. Sie werden mit Warburgs Konzeption symbolvermittelter Ordnungen zu
Energiekonserven, transformieren gewaltige Affekte, die später in der Kunst die
Augen aufschlagen, ohne den Betrachter zu verletzen; sie werden zu Speichern
von Lebenskraft, die in bloßer Unmittelbarkeit das Ich überwältigen würde. Die
aus diesem Entwicklungsgang entstandenen Techniken der Autoimmunisierung balancieren
die Abstände aus. So muss es nicht verwundern, wenn in Zeiten, in denen die
Imperative dauernder fehlerhafter Identifikationen durch Sensation und
Massenunterhaltung auf uns einprasseln, Allergien und Autoimmunerkrankungen
zunehmen. Für Warburg sind die Ursprünge der Religion in diesen Zusammenhängen
zu typisieren. Dem phobischen Reflex entspricht mit Totem und Fetisch die
Bildform, welche die magisch-animistischen
Kulte kennzeichnet. Sie stehen also am Anfang der rituellen Fernhaltung
und Vergegenständlichung des Erregungsobjekts im Bild. Es handelt sich bei
dieser Bildtheorie um einen Versuch, auf einer ästhetisch-symbolischen Achse
jene Verarbeitungsmuster der Immunisierung zu verorten, die nach und nach zu
Zeichensystemen geworden sind, mit denen wir unsere Welt strukturieren, um in
ihr und über sie zu kommunizieren. Warburg konzipiert
einen Mittelraum zwischen Affektfluten der Angst, des überwältigenden Glücks,
der Besessenheit einerseits, der affektneutralisierten Abstraktion einer
apathischen Vernunft andererseits. Zwischen den Extremen Magie und Mathematik
werden Bedingungen der Möglichkeit von Besonnenheit ausgefaltet, zwischen
Fetisch und abstraktem Zeichen öffnet sich ein Raum des Symbolischen, der die
Schwingungsbreite einer Kultur, einer Epoche, einer Person ausmacht.
Allerdings können
Lebenslust und unsublimierte Kraft auch jenseits der Asyle von Kunst und
Wissenschaft durch das Kraftwerk der Liebe an Quellen der Schöpfung teilhaben. Für
das Interesse an den daran beteiligten Rhythmen ist an Thales oder Kroton zu
erinnern; jede Harmonie dient der Bildung seelischer Bereiche, in denen Triebe
und Affekte zu Hause sind. So wie mit Freud wieder deutlich wurde, wie vorpersonell
Triebe sind, wie Affekte von außen ins Innere aufgenommen werden, erscheint es
ein frommer Wunsch, von einem Privatbesitz der Innerlichkeit auszugehen. Für
Platon war der Mensch in der Triebsphäre kein Individuum, sondern ein Schnittpunkt
anonymer Einflüsse. Ein wenig vor den Sublimationsanstrengungen der platonischen
Philosophie finden wir einen geschichtlichen Ursprung der Lehre von den Trieben
in den dämonischen Mächten der alten Religion, vor denen der Mensch sich zu
schützen versucht und denen er immer wieder ausgeliefert ist. In diesem
Zusammenhang bekommt die Musik eine universelle Bedeutung, die in allen
magischen Kulturen zu finden ist. Sie hat die dämonischen Gewalten, aus denen
die Götter der Hochreligion nach und nach gebildet wurden, zu beschwören, zu
bannen, anzurufen oder abzuwehren. Nach Picht verdankt der Mensch der Musik in
diesem Sinne eine heilende Macht durch die Sicherung eines humanen Bereichs,
der ihn vor der Übermacht anonymer Gewalten bewahrt. Für ihn haben die Griechen
in einem enormen Prozess der Vergeistigung dafür gesorgt, Urgewalten ihres
dämonischen Wesens zu entkleiden, um daraus Seelenvermögen zu machen. Die Musik
als Rhythmik sorgt in der Verbindung mit Gymnastik für eine Wohlgestimmtheit
von Leib und Seele. In der Gestaltung von Zeit ist sie unmittelbar mit der
Vernunft verbunden, denn Zeit ist das Andere der Ewigkeit und zugleich in der
sinnlichen Welt ihr Stellvertreter im Sinne des ‚war‘, ‚ist‘ und ‚wird sein‘. Jener
Bereich, den wir in der Tradition der Mystik als Innerlichkeit erleben, aus dem
die Selbstversicherung des bürgerlichen Ichs hervorgegangen ist, ist nichts
anderes als das gebannte Pandämonium der alten magischen Religionen. Wenn das
aber erst einmal erkannt ist – das Freudsche Unternehmen hat wesentlich dazu
beigetragen –, wird klar, dass es keinen großen Unterschied macht, ob der
Mensch die Gefahren, die ihn bedrohen, als innere oder als äußere Gewalten
erfährt: Es ist die gleiche Erfahrung der Überwältigung. Eine unüberschreitbare
Grenze trennt die Sprache als Medium einer gewollten und bestimmten Mitteilung
von der Musik als dem Ausdruck des Schwebenden, Fließenden, das nie genau zu
umschreiben ist. Gerade weil die Musik einen Bezug zur Zeit hat, gestaltete
Zeit ist, impliziert sie mit Blumenberg einen Ansatz, der sich gegen den
Platonismus wenden lässt: Die reine Idee hat keinen irgendwie gearteten Bezug
zur Zeit, sie wird geschaut, während die Musik ihn nicht nur zufällig, sondern in
der Unmittelbarkeit des Wahrgenommenen notwendig hat. Das Sehen ist ein
Distanzsinn, das Hören einer der Nähe und Partizipation – die Metapher des sich
der Musik widmenden Sokrates verweist auf jene Eigenarbeit, aus der das
Philosophieren entstanden ist. Vielleicht deshalb spricht sie unseren Sinn für
Ganzheiten präzise an, weil sie das Geheimnis des Lebens auf der Ebene der Formen
nachspielt, ohne es platt auf einen Nenner zu bringen. Damit huldigt sie dem
Geheimnis im Schweigen, ohne der Verführung nachzugeben, es durch eindeutige
Begriffe auszulutschen. Harmonien, die uns bewegen, die mühsam erworbene Gewohnheitsmuster
aushebeln, dienen der Ersparung von Erfahrungen. Sie schließen uns kurz mit
einem kosmischen Geschehen, das unsere Fassungskraft übersteigt, dem wir nur
gerecht werden, wenn wir uns sprachlos behutsam dem Geheimnis öffnen. Echten sinnlichen
Genüssen ist bereits die Bedrohung der personalen Autonomie beigemengt – sie
bringen die Haltestricke des Ich ins Gleiten, tricksen die Sicherungssysteme
des sei-du-selbst aus, und jedes Suchtverhalten beweist, was damit alles durcheinander
geraten kann.
Dagegen ist für
Blumenberg jeder Distanzgewinn, den der Mensch erreichen kann, eine Leistung
seiner Begrifflichkeit. Das erklärt den Verlust der Zugänge zur Welt der Präsenzkultur,
legt aber zugleich die Kompensation der entstandenen Mängel in den ästhetischen
Nischen nahe. Schon deshalb konstatiert er, je
brutaler die Geschichte mit dem Menschen verfahre, je nachgiebiger stehe dieser
ihr mit der Kunst gegenüber. Schließlich meine er die Geschichte in der
Spätphase einer langen Entwicklung zu machen. Dabei treiben die freigesetzten
Kräfte der Beschleunigung mittlerweile sinnlos über die gesetzten Beschränkungen
hinaus ins Unbekannte; nichts wäre mehr zu fürchten, wenn es nicht längst aus
dem Blick geraten wäre. Je zweifelsfreier die Unaufhaltsamkeit in der Theorie
erscheint, je mehr verlegt sich die Praxis auf ästhetische Ausweichmanöver. Sie
arbeitet an der Verschönerung des Nebensächlichen, an einer Expansion des
Unterhaltungswerts. Wenn schließlich das Angebot ästhetischer Genüsse mit dem Gewinn
an Freizeit durch Fortschritt nicht mehr mithalten kann, wird auf die Ästhetik zugunsten
von Krieg und Selbstzerstörung zu verzichten sein, bevor das Leben wirklich
schön geworden ist. Aus diesem Grund ist es nur
sinnvoll, auf die ursprünglichen Formen der Distanzleistung vor den Zwängen der
Begrifflichkeit zurück zu kommen. Schon die distanzschaffende Form
mortifiziert, der Ausdruck leitet die Erregung ab. Sie setzen Denkvorgänge in
Bewegung, ohne den Kontakt zum Dargestellten zu verlieren, ahmen nach, ohne dem
Zwang zur Nachahmung zu verfallen. Gumbrechts ‚Lob des Sports‘ zeigt
gerade anhand der rhetorischen Figuren des Lobs – die nach Kittler in einer Anrufung
der Götter wurzeln, einer performativen und nicht-fiktionalen Form von
Literatur –, dass nichts an der Sinnproduktion, an der Sinnidentifikation
auszusetzen wäre. Tatsächlich wird sie erst fraglich, wenn sie als metaphysisches
Paradigma die Vorherrschaft sinnbezogener Fragen gegen ekstatische
Erfahrungen durchsetzt. Damit führt sie zur Preisgabe von Phänomenen
und Fragen, die es gestatten, in einem Augenblick jenseits der linearen Zeit
auf die »Materialität der Kommunikation« einzugehen, um im Jetzt und Hier anzukommen.
So ist es mit Hörischs ‚Brot und Wein‘ nur stimmig, wenn nach dem Ende einer
ungebrochenen Ästhetik des Lobes, des Rühmens und der Affirmation ausgerechnet
die Werbung zum funktionalen Äquivalent einer vormonetären Ästhetik der
Affirmation, der dionysischen Dankbarkeit wird. Die hohe literarische Rede,
die mit dem Rühmen zu tun hatte, war besessen von der Darstellung eines Jetzt
der Präsenz. Die vakante Position des affirmativen Sprechens und Dichtens wird
durch die Werbung besetzt, die über den Umweg der Unterhaltungsindustrie
Identifikationslinien stiftet. Sie kann das leider nur, indem sie einen Double-bind
transportiert: Noch das Lob und die Verklärung werden, wenn Geld der
schlechthin geltende Code ist, erst dank der Beschwörung und Unterstreichung des
Mangels möglich. Werbung schafft systematisch Mangelerfahrungen; in vieler
Hinsicht hat sie die Bedürfnisse zu kreieren, von denen sie zu erlösen verspricht.
Böhmes Fetischinterpretation schließt einen
weiteren Zugang zur Präsenz auf, indem er Aspekte dieser Materialität der
Kommunikation aus der Perspektive ‚Fetischismus und Kultur‘ auf einen Nenner
bringt. Wir müssen fähig sein, Essen, Mode und Bilder zu Ereignissen
werden zu lassen, die uns widerfahren, uns mitnehmen, ja auch überwältigen:
Wenn dies nicht gelingt, wickeln wir das Leben freudlos ab, getröstet
allenfalls durch soziale Erfolge und anschwellende Bankkonten. Zugleich müssen
wir fähig sein, all die magische Bezauberung räumlich und zeitlich einzugrenzen,
zu reflektieren und okkasionell zu handhaben; anderenfalls konfundieren das
Reale, das Symbolische und das Imaginäre, wir verlieren uns im Irrgarten der
Lüste und Süchte. Im Verhältnis zu den
politischen Idolatrien geht es nicht anders zu. Tatsächlich ist es illusorisch,
diese Paradoxie zu der einen oder der anderen Seite hin aufzulösen: Entweder
man erstarrt in zwanghaften Rationalisierungen einer Pseudo-Aufklärung, oder
man versinkt in den Pathologien der Sucht, die in der Macht ebenso wirkt wie in
der Mode, im Bann der Bilder oder in den Tabuisierungen des Essens oder der
Sexualität. Fetisch und Totem bezeichnen anfängliche Kultur-Objekte auf der
Grenze zwischen der vernichtenden Präsenz des Objekts und dem phobischen
Reflex. Sie entsprechen den «Augenblicksgöttern» Useners, die durch magische
Identifikation entstehen. Die Dinge haben überall Leben, die augenblickliche
Empfindung legt die unmittelbare Nähe einer Gottheit nahe, nur die lebendige
Kraft ist dabei auf die Seite der magischen Dinge gezogen, ohne dass der Mensch
Spuren der seinen eigenen Energien verdankten Beseelung wahrnehmen könnte. Der
Fetisch ist gegenüber dem Angstobjekt eine umrissgebende Lokalisierung der Objekte
von Kraft in einem diffus überwältigenden Feld von Reizen – doch um den Preis
der Ich-Losigkeit. Angstbewältigung und
Machtausübung stehen in einem direkten Verhältnis, je weniger sich der Mensch gegenüber
der umgebenden Wirklichkeit sicher sein kann, je ausgeprägter melden sich
Herrschaftsbedürfnis und Kontrollzwang. Mimetisch-sympathetische Magie
funktioniert aufgrund von Ähnlichkeitsbeziehungen, die auf Übertragung
beruhende, kontagiöse Magie dagegen als Ansteckungsprinzip: pars-pro-toto.
Beide Formen charakterisieren keineswegs nur archaische Kulturen. Im Europa der
Renaissance begründen sie die Wissenschaften, der Fetischismus ist von Beginn
an ein synkretistisches Konzept. Die Magie
probt verschiedenste Versuchsanordnungen, die Welt zu kontrollieren, noch der
massenhafte Konsum und das multimediale Recycling der großen Fragestellungen
der Menschheit simulieren den Erfolg dieser Autosuggestion. Fetische sind Kraftwirkungen und
Kultobjekte – sie zeigen eine performative
Struktur, bringen die in Dingen eingeschlossenen Mächte zur Entfaltung und
bannen das Subjekt, heben die Distanz auf, führen mimetisch zur Verschmelzung
von Ich und Ding. Der Warenfetischismus wird zur Antriebskraft, bei der die
Bereitschaft zu zahlen nicht von der Rationalität begrenzt wird, nicht zahlen zu können, sondern
vom Begehren, mit der Verheißung der Ware zu verschmelzen – also für eine Bedeutung
zahlen zu wollen. Während
der Code Zahlen/Nicht-Zahlen das ökonomische System des Erwerbs reguliert, wird
die Dynamik des Erwerbs von der Aura der Ware mit dem Motor angetrieben, den
der Code Sein/Nicht-Sein speist: Es geht wirklich um das Sein! Lust, Glück,
Partizipation, Schönheit, Sinn sind jene Qualitäten, welche der Fetisch Ware
als Suggestionen inkorporiert, obwohl sie das Jenseits der Ware sind. Der
seltsame Doppelstatus der Ware hält als Fetisch, gleichzeitig Ding und Symbol,
das ökonomische System auf Touren, ihre theologischen Mucken vereinen Immanenz
und Transzendenz. Diese transzendental-ökonomische Bestimmung macht noch heute den
geheimen Antrieb der Überflussgesellschaft aus.
Die
Präsenz liefert den Fundus, Peptide sind der Motor, während die Metapher versucht,
das Göttliche in der Welt dingfest zu machen. Folgerichtig überträgt für Lacan die
Metonymie, das Gleiten entlang der Signifikantenkette, die Kräfte des
energetischen und hormonellen Geschehens auf die körperliche Wahrnehmung. Damit
empfiehlt sich ein Polytheismus der Augenblicksgötter
als Grundlage einer umfassenden Hermeneutik jeglicher Eigenarbeit. In Mattenklotts ‚Blindgänger‘ wird gezeigt, wie das Heilige zur sentimentalischen
Transformation des Heiligen in einem
System von Zeichen und Bedeutungen wurde. Was Otto anhand der Erfahrung des
Numinosen beschrieben hat, ist demnach lediglich die Spiritualisierung einer
Abstraktionsleistung, die von der realen Person, die etwas Unerhörtes, die
Regeln unseres Weltverständnisses sprengendes bewirkt hat, absehen lässt. Sie erspart
uns Schauder und Angst, die mit der Tatsache verbunden sind, dass der/die
Heilige zugleich ein/e Verfluchte/r ist, also der Kategorie des Opfers untersteht.
Das Vermögen, auf das Unerhörte mit einer Stellvertretung zu reagieren, statt
vor dem Tremendum zu verstummen, löst eine Maske vom individuellen Heiligen ab
und ermöglicht zugleich die Präsenz von etwas Unsichtbaren mitten im Leben, wie
das Ertragen der Abwesenheit der wesentlichen Vollzüge. Seit Anbeginn
resultieren Medien aus der Funktion, das Erotische als grundlegende Antriebsenergie
des Menschen aus der ineinander verschlungenen körperlichen Präsenz zu lösen,
in Zeichensysteme und Vorstellungen zu überführen. Das war immer mit einem
Verlust an sinnlicher Intensität verbunden – schon Reich bestätigt die Regel,
dass faszinierende Bilder die Intensität der Orgasmen beeinträchtigen, selbst die
vor dem inneren Auge lenken noch von der unmittelbaren Präsenz ab; dagegen
stimmen Hautkontakt und Taktilität auf die Rhythmen ein, bis eine gemeinsame
Schwingung irgendwelche Vorstellungen und Bildwelten in der Ekstase ausblendet.
Tatsächlich wird die Abwesenheitsdressur immer durchgreifender, je mehr Wahrnehmungsweisen
und Gedächtnisleistungen durch Medien übernommen werden – und dabei ist mit
dieser Feststellung bereits alles genannt, um Entwicklungen in der
entgegengesetzten Richtung anzustoßen.
Aus einer ganz anderen Richtung stößt der
konservative Skeptiker Spaemann auf einen vergleichbaren Wirkungszusammenhang.
Seine Erörterung der sekundären Tugenden am Beispiel der Disziplin führt ihn
auf die berühmt-berüchtigte Lehre Platons, dass Tugend Wissen sei. Dieses
Ineinssetzen haben Fetisch und Symbol gemein. Es handelt sich um ein Wissen,
das nicht als bloß kognitiver oder intellektueller Zustand wirksam wird,
sondern als jenes unmittelbare Einswerden mit der erkannten Sache von Grund
auf, die jeden Zweifel unmöglich macht. Die ursprüngliche Symbolerfahrung des
körperlichen Erkennens transportiert eine mystische Evidenz: Das Wahre einzusehen
heißt, eins mit ihm zu werden, ihm ohne Abstriche oder Überlegungen zuzustimmen.
Das Gute wirklich zu verstehen heißt, es immer wiederneu verwirklichen. Was mit
dem Beginn der Verschriftlichung der Philosophie eine in der Vergangenheit des
Mythos verklingende Weisheit ist, wird schließlich zum Versprechen innerhalb
einer durch den Fetisch stabilisierten multimedialen Welt. Wenn Hörisch in
‚Kopf oder Zahl‘ vorführt, warum dem Fetischisten das Desiderat des Symbols
nicht genug ist, geht er über Böhmes Affirmation des Fetischismus hinaus. Neben
der einfachsten Lösung des actus purus, die vor lauter Abwesenheitsdressur nur noch
Wenige zu einer Erfüllung führt, gibt es unendlich vielfältige Anstrengungen,
den Bruch, den qualitativen Unterschied zwischen Bedeutetem und Bedeutendem zu
kitten, zu einer semantischen, aber eben doch nie realisierten Einheit zusammenzufügen.
Wenn diese Form des sprachlichen Symbols die ontosemiologische Einheit von
Bedeutendem und Bedeutetem darstellt, damit aber lediglich von der Seite der
Zeichen her die Einheit zu leisten verspricht, so gibt sich der Fetisch als die
Einheit von der Seite des Seienden her aus. Die Logik des Seins und die des
Sinns werden in einer systematischen Form identifiziert – mag es paradox sein,
sich einem Kategorienfehler verdanken, so ist doch festzustellen, dass die
fehlerhafte Identifikation wirkt. Der Fetisch wird damit zu einem Supersymbol,
er ist die Sache selbst, die er bedeutet – die Phantasmagorie der Ware wird zum
Surrogat jener sexuellen Vereinigung, der alles Glücksversprechen zu verdanken
ist. Ein materielles Ding, das über die Magie verfügt, Übernatürliches zu
bewirken. Ein bedeutendes Ding, das an der bedeuteten Sphäre nicht nur teilhat,
sondern diese zu gestalten und zu verzaubern vermag. Marx‘ Charakterisierung
des Warenfetischismus präsentiert ein sinnlich-übersinnliches Ding; keine
Repräsentation, keine Stellvertretung, sondern ein Ding, das paradox genug das
vermeintlich Unbedingte zu bedingen vermag. Hier zeigt sich eine Parallele zu
Lacans Subversion des Subjekts: Ein Signifikant repräsentiere ein Subjekt für
einen Signifikanten. Die Gesetzmäßigkeiten der Warenwelt entsprechen also den
Spiegelungen der Selbstidentifikation! Ich verlasse mich darauf, dass Du dich
darauf verlässt, dass ich mich auf dein Verlassen verlasse – wenn wir am
falschen Ort oder in der Ungunst der Stunde ein wenig Pech haben, erfahren
beide, wie allein und verlassen wir in der Welt sind. Das ist keine theologische
Spitzfindigkeit, erst Recht keine metaphysische Mucke, sondern das Fundament
unserer Wirklichkeit. Nicht umsonst kommt der Fetisch in sexueller und
religiöser Doppelgestalt daher. Der Waren- und Geldfetisch komplettiert dieses
Double zur Heiligen Dreifaltigkeit von Potenz, Glaube und Geist: Sexualität und
Bedeutsamkeit bedingen einander. Doch nur eine erregende Schönheit verbürgt den
Wahrheitswert jener Intensitäten, die schon immer mit dem Namen der Götter belehnt
worden sind. Sie nehmen uns auf ihren Schwingen mit, wenn wir in der Lage sind,
die nötige Erregung/Begeisterung freizusetzen. Als Foucault fragte, wie es zur
Übertragung der Religiosität auf den Sex kommen konnte, war er im Zentrum eines
Wirkungszusammenhangs angekommen, der nur invers buchstabiert werden muss: Die
Amalgamierung der Erregungen Angst und Sexualität staute nach Reich biomagnetische
Energien, bis sie nicht mehr auszuhalten waren. In den Riten und Bedeutsamkeiten
von Fetischen und Wiederholungszwängen mussten Körperspannungen abgeleitet
werden, um in religiösen Institutionen zu münden, die subjektfremde Ursprünge
der Macht setzten. Mit Foucault wird die Gewalt ins Fundament institutioneller
Ordnung gefügt; Diskurse haben sich als Praktiken gebildet, die systematisch
die Gegenstände konstituieren, von denen sie zu sprechen ermöglichen. Sie sind
nicht auf Sprache zu reduzieren, denn sie benutzen die Sprache für mehr als nur
zur Bezeichnung der Sachen. Dieses Mehr wird von Benjamins Symbolbegriff
umkreist, wenn er von einer Sprache der Schöpfung inspiriert einer verloren
gegangenen Ordnung des Seienden nachspürt, von der wir nur Trümmer wahrnehmen,
die sich immer schneller von ihrem Ursprung entfernen.
Am
Anfang der rituellen Fernhaltung und Vergegenständlichung von Erregungsobjekten
stehen nach Warburg Fetisch und Totem. In der Nische der Kunst wird diese
Entwicklungslinie aufgehoben und gepflegt, noch die Ableger in den
verschiedensten Bildwelten transportieren ihre Spuren. Diese Bildtheorie typisiert
Verarbeitungsmuster auf einer ästhetisch-symbolischen Achse, die den
Wirkungsmechanismen von Religionen zugrunde liegt. Die Unterscheidung, Religion
stelle eine Gehorsamsbeziehung dar, Magie ziele dagegen auf die aktive
Beeinflussung der Dinge und Verläufe, verliert damit jegliche Stringenz. Der Vorwurf
der Manipulation diente oft zur Abwertung
jeglicher Magie, doch die
Hochreligionen versuchen nicht weniger, das Schicksal, die Zukunft oder das
Jenseits zu beeinflussen. So ist es nach den asketischen Imperativen der
Selbstbestrafung mittlerweile angebracht, auf das in Fetischen transportierte
emanzipatorische Potential zurückzugreifen. Strategien der Entfremdung von der
Materialität unserer Welterfahrung durch Figuren der Entäußerung und Verdinglichung
mögen Forderungen nach Authentizität bedingen, doch als Strategie der
Verjüngung sorgt diese Kritik für die Modernisierung der Entfremdung. Wenn wir
erst einmal akzeptieren, warum sich unterhalb der Distanzleistungen des Geistes
eine Entfremdung von den Resultaten der Entfremdung abspielt, zeigt sich mit
Böhme eine komplementäre Entwicklungslinie: Ihr Ziel ist nicht, uns aus den
Verdinglichungen zurückzurufen, sondern gerade solche Verdinglichungen zu suchen,
in denen die Dinge, in die wir entäußert sind, uns unser Selbst gestärkt,
stabil und leuchtend zurückgeben. Wird auf der einen Linie der Geist
fetischisiert, so auf der anderen die Dinge des Draußen. Beides gehört zum Imaginären
der Moderne. Die Dinge, die wir heilig halten, sollen uns davor schützen,
selbst zu Dingen zweiter Ordnung zu werden, deren Schicksal nichts als ihre
Brauchbarkeit und Äußerlichkeit ist. Doch weil die heiligen Dinge jene
wesentliche Struktur und unteilbare Würde zeigen, nach der wir uns sehnen,
beinhalten sie als Produkte der Imagination bereits eine Bedienungsanleitung für
authentische Erfahrungen jenseits der vielfältigen Als-obs des Imaginären.
Die
Diagnose vom Tod Gottes war nicht weniger als das Resultat eines Kategorienfehlers;
was nie gelebt hat, wird auch keinem Tod begegnen. Karl Barth hat darauf
bestanden, dass nur die Interpretation der Schrift als Offenbarung die Trinität
begründet, wie umgekehrt die Trinität den autoritativen Charakter der Schrift.
Der Begründungszirkel des christlichen Dogmas benötigte die Trinität als das
Vermittelnde zwischen der Offenbarung Gottes als Sohn, Vater, Geist in einer
Einheit Gottes, die nur nach der Schrift dargestellt wird. Von den
ursprünglichen Intensitäten der Augenblicksgötter, die dem körperlichen
Sensorium zu verdanken waren, bleibt mit der institutionellen
Abwesenheitsdressur lediglich das hermeneutische Ergebnis einer Offenbarung
durch die heilige Schrift. Türcke hat in ‚Vermittlung als Gott‘ dargestellt,
wie die Absolutheit der Dreieinigkeit auf einem um das Nichts kreisenden
Relationssystems beruht, weil die Differenzierung der göttlichen Protagonisten
ausschließlich eine der Relation ist. Der Vater wird durch seine Beziehung zu
Sohn und Geist zum Vater; der Sohn wird durch die zu Vater und Geist zum Sohn;
der Geist wird durch die zu Vater und Sohn zum Geist. Die spezifische Differenz
der Dreieinigkeit beruht nicht nur auf den wechselseitigen Relationen, sondern
sie ist nichts als Relationssein, nichts als – wie in einer triadischen Zeichenkonzeption
– drei aufeinander gerichtete Relationen: Was den Machtansprüchen von Klerikern
billig war, sollte zum Nutzen der Selbstdichtungen des Menschen umzufunktionieren
sein. Es gibt tatsächlich nichts, woran die einzelne Relation haftet, sie richtet
sich nur an Relationen, die sich wieder an Relationen richten. Das immerwährende
Subsistieren der Tautologie Gottes in sich erweist sich als ewige Relation von
Nichts zu Nichts. Wie nebenbei wird damit ein realistisches Bild der Struktur
eines Menschen gezeichnet, der nach dem Bilde Gottes geschaffen wurde,
damit aber zu einem unerbittlichen
Sinnsucher, der verdammt sein könnte, vor keiner Selbstzerstörung halt zu machen,
wenn er nicht mit einem sinnesfreudigen Körper ausgestattet worden wäre. Das Bedürfnis
der Sinnstiftung hat sich, nachdem die unseren Sehnsüchten und Ängsten
entsprungenen Augenblicksgötter längst aus den Antiquitätenläden der Religion
verdrängt wurden und als Idole der Unterhaltung und des Marketings
wiedergekehrt sind, in der Entwicklung der modernen Medien eine eigene Bahn
gegraben. Nun wird als Erlösung angepriesen, was das Begehren steigert, ein
Dauerkonsum, der das Suchtverhalten durch die Befriedigungsunfähigkeit
verstärkt, damit aber die theologische Verworfenheit des Begehrens erneut ins
Recht versetzt. Geld ist geil, alles Mögliche wird positiv als geil tituliert,
weil die ursprüngliche Erfahrung, unter dem Sog der Hormone nicht mehr über den
eigenen Willen zu verfügen, der Verdrängung durch dauerndes Zerreden, der
Verleugnung mittels omnipräsenter Multimedia untersteht. Die mittlerweile immer
fraglicher gewordene Problematik des Menschen lautet, ob es die authentische
Erfahrung einer unmittelbaren und vollen Gegenwart gibt oder ob es sich dabei
nicht nur um eine angstbesetzte Konstruktion handelt – wobei eben die
Dauerbeschäftigung mit den Kompensationen einer unerfüllten Sexualität jene
fundamentale Lebenslüge erst schafft, die um die Verleugnung der enormen Leere
der Befriedigungsunfähigkeit kreist. Wir streben nach Daseinsfülle als Sinn,
nach Wahrhaftigkeit unserer Zeichensysteme, doch die Angst vor dem Versagen,
vor der Vergeblichkeit aller Anstrengungen, leitet das Begehren um in absurde
Ersatzleistungen. Semiotische Betrachtungs- wie metaphysische Begründungsweisen
können sicher nicht miteinander verschmelzen. Aber sie werden in einer
trirelationalen Zeichenkonzeption jenseits der semiologischen Verkürzung durch
die Verweisungsstruktur, sei es der Handlung, der Mantik oder der Performation,
derart auf einander bezogen und verklammert, dass die mit Sinn aufgeladenen
Spuren des Wunsches nach Präsenz, ebenfalls teils sinn- und teils präsenzorientiert
sind: Wenn das Leben gelingen soll, geht das eine nicht ohne das andere. Bevor
der Mensch zum Nachlassverwalter und Schadensbereiniger des einen Gottes degeneriert,
sollte als wesentliche Aufgabe anzuerkennen sein, die Augenblicksgötter immer
wieder einmal beim Training von Kräften der Selbsterlösung ins Hier und Jetzt
der Präsenz zu überführen. Das Glück als Glücken des Unvorhergesehenen hat vor
allem eine orgiastische Potenz; der Koitus ist die praktische Grundlage der
transzendierenden Kapazität des Glücks. Seine Rhythmen pflanzen die biomagnetische
Stringenz bis in die feinsten erkenntnistheoretischen und ästhetischen
Verästelungen unseres Weltwissens fort.
Es sind die Sinne, die die Unmittelbarkeit der
Präsenz verbürgen, gerade dann, wenn sie zu schweifen beginnen, also nicht nur
in Dienst genommen, einem fremden Zweck unterstehen. Begegnen sie aus einer ganz
natürlichen Funktionslust heraus reflexartigen Reaktionsformen des körperlichen
Geschehens, springen Antriebe an, mit denen sich Gesetzmäßigkeiten einer leibhaften
Aufklärung offenbaren. Es sind die unterschwelligen Wahrnehmungen, die „freien“
Assoziationen, die unwillkürlichen Erinnerungen, dank denen wir Wahrheiten begegnen,
die jenseits dessen angesiedelt sind, was wir wissen sollen, was uns bewusst
werden darf. Wir benötigen mehr Informationen, als das Bewusstsein liefern
kann, gerade weil es eine halbe Sekunde von jener Fülle der Daten entfernt ist,
der wir alle Erkenntnisse verdanken, wenn wir sie im Nachhinein und unter der
Folter unseres Begriffsapparats aus der Welt ableiten. Das Bewusstsein kann
über die verschiedensten Rekonstruktionen den Weg zu den Sinnesdaten freilegen,
oft genug trainieren wir die Sinne in vom Ernst des Lebens suspendierten Nischen
sogar, um uns ihren Gesetzmäßigkeiten zu überlassen und dann zu Ergebnissen
kommen, die in unserem Begriffsapparat noch nicht vorgesehen waren. So
stumpfsinnig dies für den Außenstehenden wirken mag, tatsächlich setzt die Disziplin
unentwegter Übungen das Feld der Improvisationen frei, damit aber die Offenheit
der Welt, das Glück des Unvorhergesehenen. Der Körper kann nicht lügen, dafür
ist seine Bandbreite zu groß, Lüge und Verleugnung sind sprachlich kodierte
Oberflächenphänomene. Die Missachtung der entscheidenden Wahrheiten resultiert
immer aus dem verkrampften Klammern an überkommene Beruhigungsmittel, seien es
Identifikationslinien des Selbstwertgefühls oder eingepaukte Stillhalteparolen.
Das Ziel sollte also sein, erkennen zu lernen, was wir nicht wissen und in die
Zukunft des Gewesen-sein-Werdens vorzugreifen. Die Aufmerksamkeit überstreicht nur
einen bedingten, recht kleinen Ausschnitt der Präsenz, deshalb übernehmen den ganzen
Rest andere Instanzen, auf die wir uns erst einmal einlassen, die wir kommen
lassen müssen. Dank der subliminalen Wahrnehmungen, der nicht bewussten
psychischen Aktivitäten kann die Verbundenheit des Menschen mit der Welt viel
enger sein, als es die Theoretiker des „Ich-denke“ wahrhaben konnten. Dann bleiben
wir nicht mehr an die hinterhältige Delegation des Sei-du-selbst gebunden, sind
nicht mehr zu linken oder zu verführen. Statt dessen stellt sich eine
tänzerische oder am Kampfsport ausgerichtete Disziplin des Körpers ein, in
weichen und runden Bewegungen anwesend zu werden, die Imperative einer
fehlerhaften Identifikation und der daraus resultierenden widerstehenden
Wirklichkeit zu umspielen, zu unterlaufen oder durch geschickte Eingriffe im
Gewebe des Lebendigen aufzutrennen, ihre Haltepunkte durchs Verflüssigen zu
beseitigen. Auf dem Weg dorthin wird eine um ihrer selbst bis zur wohligen
Selbstvergessenheit gepflegte Tätigkeit gelangen, mag es eine konzentrierte
Arbeit sein oder ein kreatives Eingehen auf die Gesetzmäßigkeiten eines
Materials. Jede Tätigkeit, während der wir lernen, diese Regelmäßigkeiten zu
empfinden, führt uns über die engen Begrenzungen hinweg – ein Kribbeln am
Rücken, ein Ziehen in den Augenwinkeln, eine Verschiebung des Wahrnehmungsfelds
kündigen an, dass wir ein Quäntchen Zeit oder einen minimalen Raum neben uns
getreten sind… Aber das ist längst nicht alles. Es braucht außerdem befriedigende
Körpererfahrungen, über einen langen Spannungsbogen aufgebaute, einander durchdringende
Orgasmen, die das Begehren für eine gewisse Zeit löschen. Das hilft vor allem
in Ausweglosigkeiten – wenn die Körper zum Klingen und Jubeln zu bringen sind,
stellen sich ganz andere Wege ein. Von einer fundamentalen Bejahung ausgehend,
öffnen sich Türen, die unter normalen Bedingungen nicht da sein dürften: Es
gibt ein Glück des Unvorhergesehenen, das an den Fersen des lustvoll erfüllten
Augenblicks haftet. Jene Kategorie des Findens verbündet sich im Nu mit der
Gunst der Stunde, mit der Heilsamkeit des rechten Augenblicks. Schon im Rahmen
verschiedener Körper- und Ekstasetechniken finden sich verschiedenste Tricks,
das Denken stillzustellen oder besser, dafür zu sorgen, dass die von außen
angekitzelte Hysterie nicht in einer Katastrophe der Selbstzerstörung mündet.
Die Löschung des inneren Monologs ist erst ein Anfang, von da an dürfen die
gebundenen und pervertierten Kräfte des körperlichen Geschehens in einer
behutsamen Weise zu entfesseln sein, damit die materielle, in der Welt
verhafteten Fühlfäden des Selbst eine positive Verstärkung erfahren. Wer die
ganze Zeit mit Negationen beschäftig ist, kann nicht erwarten, dass ihm das
Glück über den Weg läuft. Doch die größte Gefahr ergibt sich immer, wenn frisch
gewonnene Freiheiten so wenig vertragen werden, dass stolze Überheblichkeit und
narzisstische Selbstgefälligkeit an ihrer Abschaffung arbeiten.
Ein Jetzt der Erfahrbarkeit ist nicht nur eine
Reminiszenz an die Traumzeit oder lediglich unter den Imperativen
halluzinogener Drogen zu realisieren, sondern es wird gegenwärtig, wenn wir
erfolgreich mit der Materialität der Kommunikationsmittel umgehen. Je genauer
wir ein Wort ansehen, je fremder schaut es zurück – der Grad der Entfremdung
steigert die Möglichkeiten des Lernvermögens. Das Bonmot von Karl Kraus legt
nahe, die Verfremdung auf die konventionalisierten Bedeutungsträger zurück zu
biegen, die oft genug das Leben durch Gewohnheiten erleichtern, um uns um
seinen Gehalt zu betrügen. Tatsächlich leistet der Leib eine Vergegenwärtigung
des Geistes, die Herstellung von Präsenz findet immer im Umfeld des Körpers
statt. Die Präsenz untersteht der räumlichen Verfügbarkeit und wird
gegenwärtig, wenn wir wie selbstverständlich Teil eines Ensembles sind, wenn uns
ein Gegenstand ergreift und wir uns entsprechend der taktilen, olfaktorischen, akustischen
oder visuellen Impulse in einem gemeinsamen Raum orientieren. Der von der
Materialität der Kommunikation herrührende Effekt der Greifbarkeit und
Berührbarkeit befindet sich in einer ständigen Virulenz. Nicht nur das magnetische
Feld der Seele gehorcht je nach Medium verschiedenen Ausdehnungen, auch die
Körper sind raumlösliche Phänomene und verwirklichen sich in einem Repertoire
von Präsenz – schon in den Anfängen der griechischen Philosophie findet sich der
Ansatz, nicht der Körper sei das Zuhause der Seele, sondern die Seele beherberge
den Körper. Dagegen ist der unausgesetzte Entzug von Präsenz eins mit der
Arbeit am Begriff, mit dem gegen das Schwinden ankämpfenden Vollzug der
Verleihung von Bedeutsamkeiten an ein thetisches Konstrukt. Diese Dialektik von
Entzug und Vollzug konstituiert die lineare Zeit, während die Zeit der
symbolischen Ordnung der Performativität einer Begegnung untersteht und sich
aus einer Reziprozität ergibt. Die symbolische Ordnung der Zeit wird durch das
Ereignis hervorgerufen, in dem Subjekt und Gegenstand für einen Moment zu einer
Einheit zusammentreten. Der Körper ist das Koordinationszentrum der Welt; für
die von Gumbrecht dargestellte Präsenzkultur ist er der wichtigste Gegenstand
des Selbstbezugs. Schon aus diesem Grund prägt der Raum, damit jene Dimension,
die sich im Umkreis der Körper konstituiert, den symbolischen Bezug, in dem das
Verhältnis zwischen Menschen und das Verhältnis zwischen den Menschen und den
Dingen dieser Welt durch topologische Bezüge ausgehandelt werden: Sie berühren
sich, sie überlappen sich, sie arbeiten auf eine Identität hin oder sie haben
nichts miteinander zu tun.
Die
Gesetzmäßigkeiten der sozialen Evolution menschlicher Verhaltensweisen werden stimmig
beschreibbar, wenn wir den Reputationsbegriff der Spieltheorie mit einer
Ökonomie der Aufmerksamkeit verbinden. Kurzfristig mag eine Lüge Erfolg
versprechen, blenden, tricksen und Gewalt anwenden ein Gegenüber ausspielen
oder plattmachen. Auf die Dauer aber zählt eine relative Rechtschaffenheit,
solange wir es nicht mit Psychotikern an der Macht zu tun haben. Wenn wir uns
auf ein Spiel einlassen, dessen Einsatz unsere Zuverlässigkeit ist, setzen wir auf
das Vertrauen des anderen auf unser Vertrauen. Aus diesem Grund misstrauen wir allem
strategischen Verhalten, obwohl genau die Motivation der Reputation die
Strategie in eine Ebene zweiter Ordnung erhebt. Im Laufe der Zeiten sind – von
der Kathedrale, die die Materialität mit einem Drive Richtung Himmel versieht,
führt ein kurzer Weg zum Bankpalast, in dem eine umfassende Entmaterialisierung
praktiziert wird – die traditionellen Werte der Reziprozität, der Frömmigkeit,
des Maßes und der Stabilität durch abstrakte und individualistische Bezüge
verdrängt worden, deren einziger Bezug im Endeffekt das Geld geworden ist. Der
Gott der modernen Zeit wurde damit zu einem neuen, flüssigen Medium für Reputationsspiele,
die unsere Sicherheiten auf eine abstraktere Ebene transportieren.
Wenn Geld als Resultat eines Systems von Verleugnungen die
Schematik des abstrakten Denkens bereitstellt, ist dieses Denken nicht nur
hinsichtlich seiner Gegenstände, sondern auch hinsichtlich seiner internen
Verfassung das Resultat geschichtlicher Tricksereien, Lügen und Erpressungen. Ein
fundierendes Afortiori der Sprechergemeinschaft transportiert nicht nur diese
Deformationen der menschlichen Kapazität, sondern auch die Verzweiflung, den
Widerstand, die Ausweichversuche, die Hoffnung auf eine Besserung – die Menschheit
weiß offensichtlich nicht wirklich, wo sie hin will, sie weiß aber mit Bestimmtheit,
wovon sie weg will! Alles Historische geht, gegen die Argumentation der
Institutionsapologeten, nicht etwa von den Akten und Archiven, sondern von den
leiblichen Vollzügen aus, ist fundiert in den biomagnetischen Besetzungen der
Materialität des vergangenen Geschehens. Mit Sohn-Rethels Ansatz sind die
entscheidenden Paradigmenwechsel des Denkens analog zu den Paradigmenwechseln
der Tauschsphäre verlaufen. Aus dem theologisch fundierten Streben nach einer Erlösung
der Seele wird die von allen Kräften gespeiste Gier nach dem Erlösen von
materiellen Einschränkungen. Wenn es darum geht, die Vernunft über sich selbst
aufzuklären und damit zu zeigen, dass sie eben dort, wo sie am vernünftigsten
zu sein scheint, nicht bei sich selbst ist, wird deutlich, warum Marx die Logik
als das Geld des Geistes gekennzeichnet hat, warum Geld die bare Münze des
Apriori, also der Geist der Logik ist. Das generalisierte Tauschmedium funktioniert
nach wie vor aufgrund der ursprünglichen Gesetzmäßigkeiten des symbolischen
Tausches: Achtung und Vertrauen. Die Stabilität des Werts, die Reziprozität der
Bezüge und der Bezug auf das rechte Maß entsprechen der Bedeutsamkeit des
verhandelnden Gegenübers, der Aufmerksamkeit, die wir ihm reservieren. Sie
können vergessen, übersehen oder mit Füßen getreten werden, wenn Abstraktion
und Generalisierung die Ablösung von den realen Vollzügen durchgesetzt haben,
aber sie verschwinden nicht aus der Welt. Ihre Stimme ist leise, aber
unerbittlich, sie verjüngen sich mit jeder großen Liebe von neuem, denn jene
erfüllte Lücke des Ge-lücks verwirklicht sich, wenn wir uns ohne Vorbehalt und
Berechnung verschenken, ohne Rest mit der Wirklichkeit des Gegenübers
verschmelzen, nicht mehr an unser Begehren denken, sondern nur an eine
begnadete gemeinsame Zeit. Dieser Prozess setzt göttliche Funken frei. Die
archaischen Wurzeln des symbolischen Tauschs beruhen auf einem reziproken Geben
und Teilen, sind keine Instrumentalisierung einer Mittel-Zweck-Relation.
Schenken dagegen untersteht als kleiner Ableger der Opfergaben für die Götter den
Gesetzmäßigkeiten von Prestige und Macht, ist damit bereits ein Um-Zu-Schlüssel
des Sakralen. Der Austausch von Geschenken wird durch eine Nötigung zur Gegenseitigkeit
bestimmt, ist damit nicht unbedingt ein Akt der Solidarität, sondern häufig
einer der Verpflichtung. Wenn es beim Opfer noch der Versuch ist, die Götter zu
beschwichtigen, zum helfenden Eingreifen zu bewegen, ist es der Natur gegenüber
ein Vorahmen ihrer Freigebigkeit, während es beim Potlatch eine nötigende
Machtausübung ist, mit der in Einzelfällen der Ruin des Gegenübers bewirkt
wird.
Wenn maximal unwahrscheinliche Voraussetzungen eine
Liebe befördern, die die herrschenden Stillhalteabkommen nicht zur Kenntnis
nimmt, das Verhältnis von Simulation und konfliktueller Mimetik aufsprengt, die
Akkumulation von Resten überflüssig macht, damit zugleich aufdeckt, auf welche
kleinlichen Berechnungen das ganze Theater beruht, verwundert das Konkurrenzverhältnis
der geisteswissenschaftlichen Institutionen nicht. Ein funktionierendes
Verhältnis der Geschlechter stellt den Modus vivendi von Simulantinnen und
Nichtskönnern infrage, die sich mit Verhältnissen des Verzichts und der Ersatzbefriedigung
arrangiert haben. Die Ansprüche und Imperative der Institution sind bei Kittler
oder Hörisch überzeugend dokumentiert. Ihre eigentliche Funktion beruht auf Aufschub,
Umleitung und Entschärfung der verborgenen Kräfte des Menschlichen – diese
Energien fließen in die entsprechenden Körperschaften, garantieren den Bestand
einer Institution, die die Werke und Entdeckungen ihrer Mitglieder als
kulturelle Besitztümer vergesellschaften. Weil jedes große Kunstwerk zur Energiekonserve
werden, jede gelungene mathematische Formel die Sprengkraft einer Granate
transportieren kann, werden Wissenschaften und schöne Künste schon deshalb in
der Nachfolge theologischer Ansprüche gepflegt, denn so sind sie am besten zu
entladen und zu kontrollieren. Erst einmal muss ein Begehren nach diesen Themen
erzeugt werden, schließlich hat ein Bewerbungsapparat jene herauszufiltern, die
dank Antrieb und Begabung in die Lage kommen könnten, ein System von
Behinderungen zu durchschauen. Als gezeichnete Beauftragte der Stillstellung bereiten
Geisteswissenschaftler für jene Wenigen, die die stillschweigenden
Voraussetzungen der Alma Mater übergehen, ihrem Imperativ nicht gehorchen, ein
gefährliches Minenfeld auf. Wer dem Imperativ Folge-mir-nach-und-werde-mir-ähnlich
nicht gehorcht, wird mit der unbarmherzigen Gesetzmäßigkeit bekannt gemacht,
dass unter der Regie einer Institution auf die Qualitäten des Menschlichen
geschissen ist. Ihre Delegierten sind nicht nur Spezialisten für geistiges
Krisenmanagement, sondern vor allem Löschkommandos beim Auftreten von Eventualitäten
der menschlichen Inkommensurabilität.
Für eine überzeugende Grundlegung der philosophischen
Anthropologie hat Fellmanns ‚Das Paar‘ gezeigt, auf welche Weise Eros der
Funktion untersteht, ein Verhältnis der Geschlechter herzustellen. Dagegen variiert
der Bezug der Macht auf das Verhältnis der Geschlechter nur die Wahrheitswerte
des Verzichts und der Surrogate. Wenn die Akkumulation von Macht vom Verzicht
auf eine entgrenzende Lustpolitik abhängt, bietet sich die Frage nach den
Grundlagen der Gesetzmäßigkeiten des Paares an. Wie Max Bense gern unterstrich,
müssen wir nur immer wieder bis drei zählen können. Für die Semiotik ist die ursprüngliche
Einheit die Triade! Eros steht in der Funktion der Drittheit einer Vermittlung
zwischen den Geschlechtern. Wie Fellmann geduldig und für den akademischen Diskurs
überzeugend zeigen konnte, ist die Wirklichkeit
der erotischen Liebe reicher als fremdbestimmte Sinngebungen, und sie entzieht
sich dem zweckrationalen Handeln. Sie braucht keine Rechtfertigung, kein
fremdes Ziel, weil sie ihr eigener Beweis ist. Noch dazu ist die Lust die
einzige Sprache, die beide Geschlechter unmittelbar verstehen, weil sie die
Erfahrung vermittelt, dass jeder Subjekt und Objekt zugleich ist. Eros
erscheint als der einzige Weg, die narzisstische Einkapselung des Menschen zu
überwinden, es braucht den Schutzschild des Dritten gegen die verinnerlichten Besitzansprüche
der Mütter, die dafür sorgen möchten, dass keiner/m der Zugriff auf ihren
Ableger gelingt. Schon in realer Nachgeburt und imaginärem Doppelgänger ist, wie
Sloterdijks umfangreiche Abschweifungen in den ‚Sphären‘ erweisen, diese Instanz
präfiguriert. Gegen das klassisches Identitätskonzept der Monomanie ist mit
Harmonien zu operieren, also mit dreiklängigen Relationssystemen, die jenseits
des imaginären Einen und der Eins wirksam sind. Erst durch eine/n Partner/in
werden wir in die Lage versetzt, wirklich ins Leben zu treten. Was plausibel
klingt und nach Dux universell über alle Völker und Zeiten als Liebe angestrebt
wurde, war die Koppelung der Lebendigkeit beider Geschlechter in einer
aneinander gesteigerten Selbsterfahrung wie der Erfahrung ihrer Welt. Im
christlichen Wirkungsbereich wurde genau dieses Bedürfnis einst von alten
Männern mit dem Taschenspielertrick der heiligen Dreieinigkeit adaptiert, um
die kulturschwule Triade aus Vater, Sohn und Geist gegen die Ansprüche der
Mütter wie gegen die Überzeugungskraft der körperlichen Liebe aufzurichten –
mit dem Erfolg, dass sich die mütterliche Macht in den Machtansprüchen der
Institutionen verewigte. Klerus und Pädagogen profitierten für die Einwilligung
in den Betrug von der nötigen Prämie als Päderasten.
Mit Lévinas ist die Andersheit konstitutiv für eine
Begegnung im emphatischen Sinne, mit der ein/e Andere/r die umfassende Erfahrung
einer Persönlichkeit bietet, deren Komplexität in keiner Lebenszeit auch nur
annähernd auszuloten ist. Diese irreduzible Undurchschaubarkeit begründet nicht
nur Würde und Unantastbarkeit der Person, sondern offenbart eine reziproke Unergründlichkeit
der eigenen psychischen Systeme – also eine Anleitung in Demut. Noch dazu beinhaltet
die damit vorausgesetzte Offenheit von Lernvermögen und Interesse die Chance,
sich in keiner abgestumpften Langeweile zu verlieren. Diese Voraussetzungen verhelfen
unter dem Oberbegriff ‚Das Paar’ im Bett während einer gelegentlichen profanen
Erleuchtung bis zum biblischen Erkennen jenseits der gesellschaftlichen
Anpassungszwänge vorzudringen. Die Entfesselung göttlicher Energien ist
ursprünglich identisch mit der Erotik, Franz von Baader hat mit der Analogie
von Erkenntnis-und Zeugungstrieb bereits unterstrichen, dass Liebe und Religion
ein und dieselbe Wurzel haben – die Tempelprostitution war noch immer ein
Nachklang jenes uralten Wissens, das mit den monotheistischen Tabus verdrängt
und verleugnet werden musste. Manchmal stellen sich unmittelbare Gewissheiten
ein, in einem Stadium des wohligen Dahinfließens beginnen Kräftepfeile sogar die
Mikropolitik
der Macht einer Intrige aufzuzeigen. In früheren
Publikationen sind einige biographisch fundierte Modifikationen indexikalischer
Symbole für schwule, bisexuelle und lesbische Beziehungen zu finden – in Abschweifungen
und Reminiszenzen wurden die im ‚Altpapier‘ wurzelnden Ansätze über die
‚Galerie der Geistesblitze‘ verteilt. Diese unschätzbare Gabe der erotischen Symbolisierung
von Gesetzmäßigkeiten, deren Erkennen gesellschaftlich dem Tabu untersteht, impliziert
bereits einen Störfaktor des Machtanspruchs von Institutionen; sie legen die
vampirischen Grundlagen der Macht bloß. Für die von ihnen Abhängigen findet eine
perverse Verkehrung statt: Sie usurpieren die primordiale Vermittlung, leiten
die erotischen Kräfte ab, saugen sich am Motor der wachen Lebendigkeit fest –
oft genug sorgen sie sogar für fein abgestimmte, an den persönlichen
Schwachstellen ausgerichtete Behinderungen der Beziehungsarbeit. Die Liebe, das
Bedürfnis ihrer Entfaltung, taugt nicht für Feiglinge – wer nicht an den narzisstischen
Projektionen festhält, sondern die Beziehungsarbeit wirklich ernst nimmt, wird mehr
oder weniger schnell von der Lebensgefährlichkeit eines solchen, dem kulturschwulen
Imperativ widersprechenden Unternehmens überzeugt. Aus dem Grund befördern Fehlleistungen, Versprecher
und unwillkürliche Einfälle, Restbestände aus den nächtlichen Traumwelten,
unflätige Witze und böse Zynismen jenes Wissen, das die Freude an den
lebendigen Vollzügen freisetzt. Die Voraussetzung eines gelingenden Verhältnisses der
Geschlechter wurde systematisch zur Illusion erklärt, damit eine psychotische
Entdifferenzierung die Täuschung im Tausch ermöglichte – Fleisch gegen Sex,
damit begann der Marktmechanismus; Konventionen sorgen dann dafür, fehlerhafte
Identifikationen herzustellen und auch auszuhalten. Dagegen fügt die Wirklichkeit
des Eros beide Teile einer zerbrochenen Einheit stimmig zusammen, getauscht
werden Gefühlsintensitäten. Die Symbolerfahrung ist eben kein thetisches
Produkt des Geistes, sondern das Resultat einer Wirksamkeit in der Welt:
Getauscht wird Fleisch gegen Fleisch, Hingabe gegen Hingabe. Der Wirklichkeitsanspruch
der Institutionen drängt den symbolischen Tausch aus Gründen der Machtakkumulation
in den Hintergrund, erklärt ihn durch ökonomische Tauschvorgänge, damit aber zur
vernachlässigbaren Nebensache. Der die Vorstellungen von Erfüllung
versprechende Fetisch ersetzt die momentane körperliche Erfüllung. Hörischs Interpretation der kryptischen Texte Sohn-Rethels unterstreicht
unterm Vergrößerungsglas der Symboltheorie Benjamins nicht allein, warum Geld ein
Apriori des abstrakten Denkens ist. Vor allem macht er deutlich, wie dieses Denken
hinsichtlich seiner Gegenstände oder seiner internen Verfassung als Resultat
eines Systems von Verleugnungen geprägt worden ist: Das System von Behinderungen
setzt ein Denken voraus, das lediglich zuverlässig funktioniert, wenn sein
körperliches Medium desexualisiert worden ist. Das durchgesetzte Tabu auf den
körperlichen Vollzügen nobilitiert einen inhaltsleeren Schematismus, der von allem
absieht, was den Qualitäten einer zwischenmenschlichen Erfahrung entsprechen könnte.
Doch parallel zu dieser Depravierung garantieren die Kompensationsleistungen
des Entzugs den Imperialismus eines verantwortungslosen Wirtschaftssystems,
dessen Marketingprinzip zufolge Sex sells, für dessen Betriebswirte und Banker Geld
als geil gilt.
Macht und Wert resultieren immer aus der
Verknappung; eine Gesetzmäßigkeit, die uns ex negativo beigebracht wurde. Wenn
uns auf einmal die Zeit fehlte, über die wir bisher so großzügig verfügten,
wenn das wenige Geld mangelte, das wir bisher nicht ernstnehmen wollten, war
der nötige Zugriff geschaffen. Nun bestimmten andere darüber, wie die Zeit zu
investierten war, wie die Subsistenzmittel erarbeitet werden mussten – damit
war Schluss mit einer Grundhaltung der Bedürfnislosigkeit, die Souveränität von
Eigenarbeit und Eigenzeit vorerst erledigt. Der Ansatz, Bedingungen zu
ermöglichen, dank denen eine relative Bedürfnislosigkeit gepflegt werden kann, bleibt
sicher richtig. Allerdings waren unsere Gewohnheiten finanziell nicht dafür ausgestattet,
einer von Professoren gesteuerten Intrige standzuhalten. Wir lehnten den verordneten
Konsum und die Sozialisationsagentur Massenunterhaltung ab, hatten kein Auto
und brauchten keinen Urlaub, arbeiteten nicht mehr als unbedingt nötig, hatten
die monatlichen Fixkosten auf ein relatives Minimum gesenkt. Wir lagen
niemandem auf der Tasche, brauchten keine Ämter, kosteten dem Staat kein Geld;
selbst unsere Krankenversicherung konnte nicht klagen, denn wir hielten uns fit
und mieden Ärzte wie eine Krankheit. Wir lebten sehr bescheiden, kamen mit ganz
wenig aus, waren in vieler Hinsicht Selbstversorger. Meine Freundin sicherte dank
eines Halbtagsjobs auf der Volkshochschule mit verlässlich am Monatsende eingehenden
Überweisungen die Zahlung von Miete und Nebenkosten. Ich sorgte dafür, den Raum
für kreative Eigenarbeit mit einem Minimum an Kosten aufzutun, dazu dienten eine
Hausmeisterwohnung, Kurse auf verschiedenen Volkshochschulen und die Urlaubsvertretungen
im Buchhandel. Erst im Nachhinein war zu sehen, wie in allen Bereichen die
Einflusssphären immer präziser ineinander griffen. Was als bösartige
Paranoiadressur gedacht war, sollte nicht sehr lange wirken, bis die Drohgebärde
des sozialen Todes mich davon überzeugte, wie sehr das Eigen einer eigenen
Identität auf einer Illusion beruhte. Vor allem kapierte ich unter diesem Druck,
warum die in die eigene Geschichte eingeschriebene Differenz die eigentliche
Wahrheit ist. Wir sind nicht mit unserer Geschichte identisch, sondern immer
schon mehr, oft weit voraus. Dank dem Glück des Unvorhergesehen sind wir
regelmäßig in verschiedene Geschichten verstrickt, können uns diese
Gesetzmäßigkeit zu Nutze machen, wenn sie den Zwang zum identisch Einen löchern,
das Repertoire vieler Welten befördern.
Wer sich richtig, also ohne falsche Rücksichtnahme
oder verlogene Kompromisse, in Eigenarbeit investiert, braucht vieles nicht und
damit fallen unnütze Kosten weg. Mit den Routinen, unsere Eigenzeit zu
kultivieren, waren wir unangreifbar – solange nicht der depperte Ehrgeiz dazu
kam, eigene Texte in einem regulären Verlag unterzubringen oder in der
Verwaltungsetage einer Volkshochschule Karriere zu machen. Ohne diesen von
außen angekitzelten Ehrgeiz hätten wir die besten Voraussetzungen mitgebracht,
unsere Beziehungsarbeit auf Dauer in Kreativität zu transformieren,
Gesetzmäßigkeiten einer wirklichen Lustpolitik auszuformulieren, Techniken
aufzubereiten, die die Geschichte nicht nur in Bewegung halten, sondern
wesentliche Heilmittel gegen die Perversionen der Stillstellung bereitstellen. Der
Ehrgeiz war ein kategorialer Fehler, aber zu unserem Glück brauchten nicht nur die
braven Erfüllungsgehilfen der Intriganten ihre narzisstischen Strategien als
Surrogat fürs ungelebte Leben. Die Verantwortlichen tüftelten Gemeinheiten aus,
die nach dem modelliert wurden, was ihnen selbst als Beamtensprösslinge am
meisten weh getan hätte – das erklärt den Mangel an Trefferquote und ihre Gefährdung
durch Querschläge. Dagegen konnte bei meiner Sozialisation durch einen
Hilfsarbeiter die Programmierung einer gekränkten Eitelkeit oder die von langer
Hand vorbereitete Frustration nicht viel ausrichten – ich musste nur auf ein
gesellschaftliches Feld ausweichen, auf dem die Krüppelzüchter nichts zu sagen
hatten.
Lange Zeit waren wir mehrere Stunden am Tag mit den
Hunden unterwegs, morgens eine große Runde und abends noch eine kleine –
Bewegung ist die Gegenwart der Zukunft. Wir konnten Einfälle und Gedanken
ergehen, manchmal kamen uns Geistesblitze aus der Zukunft entgegen, von denen wir
nach dem Spaziergang ein paar Stichworte notierten, um dann später an ihrer
Deutung zu kauen. Wenn wir genug gelaufen waren, saß ich Stunden an der
Maschine, ohne von irgendeiner Zensur oder Bremsung an der Produktion gehindert
zu werden. Nachdem meine Freundin unter dem Einfluss der Intrige gekündigt
hatte, wurden wir mehr und mehr ausgebremst. Ich war nur noch damit
beschäftigt, das bisschen Geld zustande zu bringen, mit dem wir uns von einem
Monat zum nächsten hangelten. Dieser Mangel an Horizont, das verordnete
Nichtstun bei irgendwelchen Jobs, die damit verbundene Unverantwortlichkeit, sind
dafür verantwortlich, den Menschen die Eigenzeit zu stehlen. Die faktische Abwesenheit
realer Chancen kostet enorme Kraft, sie frisst jegliche Eigeninitiative.
Manchmal in klaren Augenblicken versucht sich eine ernüchternde Feststellung
Gehör zu verschaffen: Ich muss aus den immer schwereren Aufgaben, die man mir
gestellt hatte, Energien bezogen haben. Ich war wohl noch auf fiese
Gemeinheiten oder böse Fallen meiner Gegner angewiesen, um daraus Leistungen zu
keltern. Wieder einmal stellte sich die Frage, was überhaupt so eigen und unvergleichlich
war – was habe ich wirklich selbst hingebracht, was ist nur zustande gekommen,
weil fremde Einflüsse mit mir gespielt haben? Doch es gab weder Gründe, ein
Unrechtssystem zu füttern, noch irgendeine Notwendigkeit, die Schuld
vorangegangener Generation abzuarbeiten. Bei meinem Herkommen begann die
Zeitrechnung mit mir, es gab keine verbindliche Tradition, vor allem keine
Abhängigkeit, die mit legitimen Forderungen verbunden war. Die Vergangenheit
wollte ich immer nur hinter mir zurücklassen. Für den nominellen Sohn eines
ehemaligen Heimkinds, das seinen Vater nie gekannt hatte, der logischerweise in
der Folge mein Vater nicht sein durfte, lag das Koordinatensystem der Deixis,
das Ich-Hier-Jetzt, dem Aufbau der relevanten Wirklichkeit zugrunde. Keine
Tradition, kein Erbe, aber auch kein schlechtes Gewissen wegen der Verbrechen
der Vorfahren, keine falschen Rücksichtnahmen auf vorausgegangene Lebenslügen
oder Verstrickungen. Die Vergangenheit der Erben sorgt häufig genug dafür, dass
sie nicht bis zum Jetzt vorgelassen werden, während eine noch offene Zukunft
bewirken kann, erst richtig im Jetzt anzukommen. Bis dahin war ich durch die kreative
Eigenarbeit gewohnt, über Wochen fast schwerelos durch die Welt zu segeln.
Gelegentlich brachte ich dieses Heliumgefühl auf einen Nenner: Ich war schnell,
schneller als die anderen, hatte den Blick für die entscheidenden Details und
eine enorme Auffassungsgabe; die Sachen, die ich anpackte, fielen sehr leicht, gelangen
wie von allein. Doch mit der in der Staatskanzlei endenden Intrige kam ich auf
einem sehr harten Boden an. Welche Kraft es kostet, schon bei den einfachsten
Dingen alles für sich selbst zu entdecken, können diese Leute nicht
nachvollziehen – und deshalb noch weniger, welche Kraft die Eigenarbeit auf die
Dauer gibt: Wir waren in der Lage, auf einem anderen Feld noch einmal neu zu
beginnen, recht schnell Erfolge einzusacken. Gerade weil die Statthalter der
Machtventilation auf Konformisten angewiesen sind, scheint jemand, der nirgends
mitläuft und auf kein Vitamin B reduziert werden kann, für sie eine Gefahr darzustellen;
ihnen fallen zur Angstbewältigung absurdeste Planspiele ein. Niemand scheint
für Simulanten der Selbstheit derart bedrohlich, wie jemand, der sich auf das
zu verlassen gelernt hat, was selbst entdeckt und kapiert wurde.
Ich habe mir einmal vorgenommen, die
Angstbewältigung der kulturschwulen Bildungsgemeinschaft anhand der
Gesetzmäßigkeiten des Paars als armselige Humorlosigkeit zu demaskieren. Doch
ebendiese Kritik verstrickt eine/n immer mehr in ein System von Behinderungen,
das von den Inhalten nicht mehr übrig lässt, als die Illusion, sich für sie
quälen zu lassen, um wenigstens den Schein von Konsequenz zu wahren.
Mittlerweile wurde genügend Material gesammelt, um zu dokumentieren, warum eine
Selbstverwirklichung nur zu zweit mit der richtigen Lustpolitik gelingen kann,
ansonsten wäre es beim Konzept einer ästhetischen Selbstzerstörung geblieben.
Wenn wir uns an all den aufgestachelten Neidern und subalternen Krüppeln
abgearbeitet hätten, wäre dem Kraftwerk der Liebe der Brennstoff ausgegangen.
Und weil es nur Delegierte waren, wäre nicht zu vermeiden gewesen, uns selbst
ins Unrecht zu setzen. Es gibt nur eine Strategie, die in einer Welt
ausgebremster und nachgemachter Menschen wirklich weiter hilft: Eine selbstlose
und überbordende Lustpolitik, die zu einer Form der Lebenskunst ausgearbeitet
wird, bei der die Lust unmittelbar Leistungen und unerwartete
Selbstentfaltungen motiviert. Wenn wir zu einer bewussten Bewegung zwischen
Wirklichkeit und Möglichkeit fähig sind, erschließen sich neue Spielräume der
Entdeckung und des gemeinsamen Interesses, ohne mit der Entscheidung für die
Verwirklichung der Liebe eines Lebens zugleich den Spielraum an Möglichkeiten
und Freiheiten einzuschränken.
Damit sind wir nicht nur bei den Auswirkungen der
Zeitkonzeption, sondern auch beim ursprünglichen Geheimnis der auf den ersten
Blick so ziellosen Verausgabung. Mittlerweile hilft uns kein Sehnen nach der
Rückkehr zum Mythos der ewigen Wiederkehr des Gleichen mehr, sondern viel eher
eine behutsame Spiralbewegung, die dank dem, was wir in die Kreisläufe
einspeisen, zu einem Ergebnis führt, das nicht zu planen oder vorauszuberechnen
ist. Aus diesem Grund ist in den diversesten Zusammenhängen immer wieder das
Glück des Unvorhergesehenen zu lokalisieren. Die abstrakte
Zeitkonzeption mag eine paranoide Konstruktion sein, die relationale Raumzeit ist
dies nicht – das führt selbst
theoretische Physiker auf den Weg des philosophischen Staunens, manchen sogar
in die Theologie. Tatsächlich gibt es in den psychischen Systemen nichts
umsonst, jedes agonale Fehlinvestment, jedes anmaßende Geprotze ist mit ganz
kleiner Münze abzuzahlen, obwohl die Betroffenen schon aus reinem Selbstschutz
nicht kapieren, warum sie in schmerzenden Situationen der Selbstwiderlegung landen.
Ich
musste die richtigen Sachen richtig tun, noch dazu mit so viel Lust an der
Sache, mit so viel Freude an den sich spielerisch entwickelnden Techniken und
Fertigkeiten, dass damit die Negation entweder absorbiert oder zurückgespiegelt
wurde. Ein Spiel der Geistesgegenwart, das immer wieder in die Erfahrung des
Hier und Jetzt mündete: Dass etwas passte oder flutschte, dass es funkte oder
schnackelte – Steiners ‚Handwerk‘ liefert jenseits
der konservativen Optik einige Bedienungsanleitungen über die im Körper
gespeicherten Wissensweisen. Verständlicherweise ist diese Form der Eigenarbeit
in vielen gesellschaftlichen Zusammenhängen unerwünscht: Vor allem, wenn die
Autoritäten, Chefs, Führungspersönlichkeiten auf einem Stuhl sitzen, den sie
nicht ihrem Wissen oder Können verdanken, sondern familiären oder politischen
Einflusssphären. Als Beispiel taugt die Erfahrung als Packer und Bote im
Buchhandel. Meine körperliche Gewohnheitsbildung verknüpfte mit der Zeit viele
Vorgänge immer sicherer, verlängerte damit gewisse Abläufe schematisch in die Zukunft.
Daraus ergab sich eine Form des Einfühlungsvermögens, dank der ich andere, die
in meiner Nähe irgendetwas erledigten, damit überraschte, ihnen die nötigen
Werkzeuge oder Handreichungen zu präsentieren, bevor sie selbst überhaupt
soweit waren, daran zu denken. Ich kam ihnen für ihr Empfinden aus der Zukunft
entgegen. Als eine Debihla den Auftrag verfolgte, mich zu psychotisieren,
sorgte sie Schritt für Schritt dafür, alle mechanischen Geräte durch
elektrische Maschinen zu ersetzten, um die in meinen Muskelinnervationen gespeicherten
Wissensweisen auszuschalten. Beispiele sind im ‚Schamanen im Bücherregal‘ oder
in ‚Literagonie‘ zu finden. Außerdem schuf sie Situationen, in denen sie
zielgerichtet ignorierte, wenn ich ihr ein Werkzeug hinhielt oder eine Maschine
bereitstellte, weil ich vorhersah, was sie brauchte oder machen wollte – sie
versuchte meine Verfügung über das Körpergedächtnis zu irritieren. An ein paar Versuchspersonen
habe ich mitbekommen, wie erfolgreich sie Mitarbeiterinnen manipulierte, mich
anzumachen, wie zielgerecht sie die Damen dann aufgrund ihres Mangels an
Resonanz in eine Krankheit oder eine Kündigung führte. Es war davon auszugehen,
dass sie solche Techniken an der Seite eines Harpprecht in Bonn bewusst ausgeübt
hatte.
Trotz der Umsätze, die wir nun in Bewegung setzten,
blieb der Ansatz überzeugend, Bedingungen zu ermöglichen, dank denen eine
relative Bedürfnislosigkeit gepflegt werden kann. Wir lehnten den verordneten
Konsum und die Sozialisationsagentur Massenunterhaltung ab, arbeiteten nicht
mehr, als unbedingt notwendig war, hatten die monatlichen Fixkosten auf ein
relatives Minimum gesenkt. Während der Arbeit am ‚Altpapier‘ schien das die beste Voraussetzung, eine bereits
geplante Grundlegung des Verhältnisses von Kultur und Vergessen auszuformulieren.
Was lassen sich in so einem Fall jene Drehpunktpersonen einfallen, die auf abhängige
Schüler angewiesen sind? Sie sorgen dafür, Bedürfnisse anzukurbeln, um mit
Hilfe einer Ausgeliefertheit das Begehren zu pervertieren! Wer im Kulturbetrieb
nur unter Schmerzen und Verzicht in einer Machtposition angekommen ist, wird diese
mit Zähnen und Klauen zu verteidigen bereit sein. Was konnte diese Leute mehr am
‚Altpapier‘ stören, als die rückhaltlose und unzensierte Selbstbeschreibung
eines untreuen Schülers, der aufgrund einer guten Beobachtungsgabe und seiner
Krämpfe bei der Entwindung ihre alles andere als souveränen Praktiken publik
machte! Überhaupt, wenn dabei das komplette Fundament der kulturschwulen
Vereinigung ausgehebelt wurde, die so lebenswichtigen Formalitäten lächerlich
schienen.
Auf das Raunen der Intrige zu hören, hätte den Hohn
einer verschwendeten Lebenszeit gespeist – also tauchten bestimmte Botschaften
erst in den folgenden, anderen Geld- und Informationsströmen gehorchenden
Jahren auf. Wenn wir dank der erotischen Entgrenzungen fast alles zu streichen
vermochten, was ins aktuelle Ich-Hier-Jetzt an Ballast und Einflüsterungen hereinragen
sollte, blieb für viele Stunden des Tages eine produktive Leere, bei der immer erst
einmal abzuwarten war, welche dem Tabu unterstehende Ungeheuer ihr zu verdanken
waren. Einfälle zum sozialen Tod, zum Ablauf der Zeit, zu den Begleitumständen
ihrer Beschleunigung oder Intensivierung, zu Wiederholung, Initiation und
Wiedergeburt, beginnen einen zu suchen. Damit entstand ein relativ einfacher Funktionszusammenhang,
in dessen verborgenem Zentrum eine Rückkopplungsschleife Kraft sammelte, uns
verordnete Stumpfheit oder sadistisches Desinteresse ersparte. Aber es fiel hin
und wieder auf, wie leicht es sich urteilt, wie offensichtlich die Gesetzmäßigkeiten
scheinen, wenn es um andere geht, noch dazu, wenn sie uninteressant sind, einen
nichts mit ihnen verbindet. Die Zeit scheint dann als Richter zu fungieren, als
blinde, auf Dauer unerbittliche Form des symbolischen Tauschs. Nur wenn es um
einen selbst geht, entziehen sich diese Gesetzmäßigkeiten oder werden aus Angst
und Trägheit verdrängt, stehen gerade dann nicht zur Verfügung, wenn sie am
dringendsten gebraucht werden. Vermutlich gehorcht das umgekehrte Verhältnis
den nämlichen psychischen Besetzungen. Die Zeit ist immer eine Konstruktion, doch nicht
wir sind die Konstrukteure, sondern lediglich Protagonisten, die sich in dauernden
Veränderungen unterstehenden Kontexten bewegen. An irgendwelchen Überzeugungen
festzuhalten, hätte nur zu Selbstbestrafungen geführt, also erst mal weg damit.
Irgendwann später erst stellte sich die Frage, wie wir an lange verschütteten
Quellen wieder anknüpfen konnten. Es gab einmal eine Zeit, als die Musik mich
getragen hat, als mir chemische Ekstasen einen Antriebsüberschuss verpassten,
der noch auf der Uni für den Drive sorgte, mich für einige Proselytenmacher
interessant machte. Nach der Promotion war einige Jahre nicht nachvollziehbar,
warum meine Erinnerungen an die musikalische Induktion weitgehend verloren
gegangen sind – dabei gehorchte das Ausblenden der Musik dem Tabu auf dem Namen
Musik. Seit der Arbeit am Benjamin hörte ich keine Musik mehr; vor allem der Antrieb
galt als obszön. Mein double bind aufgrund der akademischen Ausbremsung wurde
erst gesprengt, als ich mit Werbung Umsätze in Bewegung setzte.
Ab
einem gewissen Alter gab es einfache erotische Tricks, mit denen die Nähe zum
Material, das Aufgehen in einer Situation, die Begeisterung für ein Thema oder
einen Gegenstand dafür sorgen konnten, den Abstand zu standardisierten
Dressurleistungen zu vergrößern, ohne sich in einer Weltlosigkeit zu verlieren.
Die durch die Verführung durch einen Päderasten angestoßene pornographische
Selbstimmunisierung hatte einst für eine positive Besetzung des bedruckten
Papiers gesorgt, damit aber bereits eine Gegenbesetzung des anderen Ufers
bewirkt. Der Wille zum Wissen resultierte am Anfang aus dem Begehren zu schauen
und zwar das Geheimnis des Lebendigen. Das Antidot gegen katastrophische
Impulse begann an jenem im Altpapier geschilderten Punkt fruchtbar zu werden,
an dem die griechischen Mythen Götter zwitschern und vögeln ließen, ich also an
einer Zaubermöse gesunden durfte. Zehn Jahre später wurde der Bewusstseinsstrom
bereits von ein paar tausend Büchern gespeist, das freigesetzte Lernverhalten
hatte einen effektiven Durchlauferhitzer zustande gebracht. Wenn ich die
Aufeinanderfolge von Brüchen, von Zusammenstößen, die mich oft genug aus der
gewohnten Welt hinaus katapultierten, zusammenfassen und verallgemeinern
möchte, komme ich auf Lacans Insistenz des Buchstabens im Unbewussten, auf die
schamanistische Reise eines kleinen ‚r‘ von den Brüchen zu den Büchern: Miller,
Burgess, Durrell, Greene, Huxley usw. transportierten anachronistische
Energiekonserven mit den notwendigen Anregungen aus den Sechzigern und frühen
Siebzigern – erst in diesem energetischen Feld tauchten dann Pink Floyd,
Genesis, Doors, Velvet Underground, Led Zeppelin, van der Graf Generator, King
Crimson usw. wieder auf. Die Präsenz ist immer wieder in jenen Augenblicken zu
erfahren, die sich der Intensität körperlicher Wahrnehmungen verdanken. Paradoxerweise
treten wir dabei für einen Nu aus der Zeit heraus, um eine momentane
Unendlichkeit zu erfahren. Selbst unter hohem Stress, der Erfahrung extremer
Ausgelaugtheit, stellen sich solche Augenblicke als Lichtblitze auf den Wellenkämmen
beim Rudern mit Bänkern am Tittisee ein – früher war es der grasfrische Dunst
einer gemähten Wiese nach einem ersten Date oder die staubige Nässe eines
Sommergewitters zwischen Verführung und Pornoschönheiten – Jahrzehnte später die
Rhythmen von Disko und Drogenstrich nach Mitternacht im Lärmpegel der
Symphonien einer Stuttgarter Fußgängerzone …
Lustpolitik,
Macht und Gewalt
Blumenbergs Projekt einer Metaphorologie ist in diesen Zusammenhängen zu radikalisieren, wenn gegen die kodifizierte Bedeutung die Verweisung entlang der Signifikantenkette bevorzugt wird, die Metapher damit als Spezialfall in der Metonymie aufgehoben ist. Damit ist ganz im Sinne Benjamins zu zeigen, warum zwischen Metapher und Metaphysik eine enge Wahlverwandtschaft herrscht, denn beide lassen sich auf riskante Überschreitungen und Grenzverletzungen ein: Die Metapher verabschiedet sich von kodifizierten Bedeutungen und die